Kitabı oku: «Die Nähe der Nornen», sayfa 4

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Obwohl es keine Hoffnung gab, war es doch ihre Pflicht als Mitglied des geheimen Schlüssels, diesem schönen, rothaarigen Wesen mitzuteilen, dass es noch Menschlichkeit gab und dass nicht alles Wissen verloren war. Aber vor allen Dingen wollte sie vor ihrem Tod, eine aus dem Alten Volk sehen. Sie wollte einmal in ihrem Leben Elben sehen.

Seit dem Tag in der Kammer des Priesters, als sie das vollkommene Buch mit den perlmuttfarbenen Seiten in der Hand gehalten hatte, brannte diese Sehnsucht in ihr. Der Priester hatte ihr Begehren geschürt und sie war eine willige Schülerin gewesen. Als sie ihr Elternhaus verließ, hatte er alles in die Wege geleitet und ihr Türen geöffnet, von denen sie nicht einmal ahnte, dass es sie gab. Als sein Leben endete, wurde sie an seiner Stelle im Kreis der fünf Weisen des geheimen Schlüssels aufgenommen. Doch es war kein Geschenk. Sein Tod, obwohl friedlich und zur rechten Zeit, hatte ihr mehr Kummer bereitet, als der ihres Vaters nur wenige Jahre später.

Elfrieda stolperte und wäre beinahe gestürzt, so plötzlich endete die Raumzerrung. Einen Moment war es, als wäre sie aus einem Traum erwacht, und sie hatte Mühe, sich zu orientieren.

»Kommst du zu mir?«, fragte eine leise, melodische Stimme, die sie unter Hunderten erkannt hätte, obwohl sie noch nie zu ihr gesprochen hatte.

»Ja«, hauchte sie atemlos. »Ich will dir helfen.«

»Ich wusste, dass du es versuchen würdest, aber ich hatte gehofft, du würdest nicht kommen.« Die Stimme klang traurig und Elfrieda konnte nicht sagen, woher sie kam.

»Du wusstest es?«, fragte Elfrieda erstaunt.

»Ich sah dich auf der Straße und in der verborgenen Kammer. Ich sah deine Augen. Die Augen sind die Fenster zu eurer Seele.«

»Wo bist du?«, fragte Elfrieda und drehte sich im Kreis auf der Suche nach einer Tür. Sie fand aber keine.

»Ich bin gleich hier, aber du wirst mich nicht finden. Niemand wird mich finden, dafür hat er gesorgt.«

»Aber es muss einen Weg geben!«, rief Elfrieda aufgebracht. Es gab immer einen Weg und eine Tür. Sie war bloß verborgen, aber sie war noch da. Suchend tasteten ihre Hände die Wände ab.

»Bring dich in Sicherheit«, flüsterte die Stimme.

»Nein!«, widersprach Elfrieda. »Es gibt keine Sicherheit. Ich werde das ganze Gebäude einreißen, wenn es nötig ist.«

Die Elbin lachte. Wie ein Glöckchen, silberhell, klang ihr Lachen.

»Ihr Menschen seit wie ein Regenbogen, ihr schillert in allen Farben.«

Elfrieda verstand nicht, was es in dieser Situation zu lachen gab. Sie kämpfte mit der schier übermächtigen Müdigkeit, mit der Verzweiflung und der Tatenlosigkeit zu der sie verdammt war.

»Wie heißt du, Menschenkind?«

»Elfrieda«, murmelte sie.

»Ich danke dir, Elfrieda, dass du mich nicht vergessen hast.« Die Stimme klang wieder ernst. »Aber nun musst du gehen. Ich habe einen Auftrag für dich. Mein Bruder wird nach mir suchen. Bring ihm die Nachricht von mir. Sag ihm …« Sie stockte. »Sag ihm …« Ihre Stimme zitterte. »Ich werde meinen letzten Weg antreten, denn das Los, das mir hier auf Erden beschieden ist, bin ich nicht bereit, zu ertragen. Sag ihm, es tut mir leid. Ich war überheblich. Ich dachte, ich wäre der Macht eines Zauberers gewachsen, doch ich rechnete nicht damit, dass er andere Pläne mit mir hat …« Sie schwieg, aber ihre Verzweiflung und Angst waren beinahe gegenständlich.

Elfrieda liefen Tränen über die Wangen, obwohl sie nicht genau verstand, was die Elbin mit andere Pläne meinte.

»Ich werde in der Stadt jemanden finden, der dir hilft.«

Wieder lachte die Elbin, aber diesmal klang es unendlich traurig. »Ich werde nicht mehr leben, wenn du wiederkommst.«

»Aber«, protestierte Elfrieda, »das geht nicht. Deine Zeit ist noch nicht gekommen!«

»Doch, Elfrieda! Bald wird ein mächtigerer Zauberer, als der da oben, in die Stadt kommen. Meinetwegen. Weil dieser hier mich nicht überwältigen konnte, weil ich noch lebe, will er mich nun seinem Meister zum Geschenk machen. Aber ich werde nicht die Braut eines Zauberers.« Ihre Stimme brach. Sie schluchzte leise. Es war das furchtbarste Geräusch, das Elfrieda jemals gehört hatte. Es brach ihr das Herz, die Elbin weinen zu hören.

»Ich werde Menschen finden, die dir helfen. Tu nichts Voreiliges. Noch ist der Zauberer nicht in der Stadt. Ich spreche mit dem Archiepiskopos. Er wird verhindern, dass ein Zauberer hierherkommt. Das ist eine Stadt der Kirche, und die Kirche duldet keine Zauberer.«

»Hinter seinen Fenstern brennt kein Licht. Seine Gier nach Macht vernebelt seinen wachen Verstand. Er wähnt sich kurz vor dem Ziel und wird alles tun, um es zu erreichen. Leichen säumen seinen Pfad. Warne die Menschen, die sich dem verschollenen König anschließen wollen, vor dem Archiepiskopos. Das Wohl vieler lastet auf deinen Schultern. Geh, Elfrieda, und erfülle deine Aufgaben.«

»Aber meine Aufgabe ist hier«, protestierte Elfrieda. »Noch ist nicht Zeit für dich, zu gehen«, stieß sie mit der tiefsten Inbrunst ihrer Überzeugung aus. »Du musst leben. Bitte! Lebe!«

»Weißt du denn nicht, welches Leid mein Leben der Welt bescheren kann? Halte mich nicht zurück. Lass mich gehen … Varsa’ra. Die Welt, so wie sie heute ist, wird es sonst nicht mehr geben. Das Dunkel wird kommen. Zauberer werden die Welt regieren.«

Irgendwelche alten Geschichten tobten in Elfriedas Kopf. Welche waren wahr, welche Legenden? Und warum nannte die Elbin sie Varsa’ra? War das nicht eine der Nornen?

»Ich verspreche dir, dass ich zu verhindern versuche, dass der Zauberer hierherkommt. Aber versprich du mir, dass du lebst, solange er nicht hier ist.«

»Das sind viele Versprechen für einen Tag, der gerade erst heraufzieht. Doch ich beuge mich dem Willen einer Norne und verspreche dir, geduldig zu sein. Aber wenn deine weltlichen Mittel versagt haben, Varsa’ra, und meine Reise beginnt, werde ich deinen Beistand brauchen.«

»Wie heißt du?«, fragte Elfrieda scheu.

»Almira’da.«

»Almira’da«, wiederholte Elfrieda. »Ich werde dich niemals vergessen.«

***

Ala’na saß in einem hohen Stuhl aus gewunden Ästen. Sie hielt die Augen geschlossen, aber sie hob ihren Kopf, als Feodor den Raum betrat. Unschlüssig blieb er hinter der Tür stehen. Sie sah aus wie eine Königin, und als solche hätte er vor ihr niederknien und seine Stirn bis auf den matt glänzenden Holzboden senken müssen. Es nicht zu tun, kam ihm unnatürlich oder zumindest frevelhaft vor. Sie lächelte.

»Sei gegrüßt, Feodor, setz dich zu mir.« Sie deutete auf einen zweiten Stuhl, der nicht weniger aufwendig gearbeitet war als ihr eigener.

»Ihr seid zu gütig, Ala’na«, sagte er.

»Du bist ein Mensch«, stellte sie fest. »Ich bin eine Elbin. Es besteht kein Grund, förmlich zu sein. Ich stehe in deiner Schuld, meine Unachtsamkeit hat dich in eine gefährliche Situation gebracht. Setz dich zu mir und nimm meine Entschuldigung an.« Sie streckte ihm ihre Hand entgegen, und er ging immer noch zögernd zu dem Stuhl, den sie ihm zugewiesen hatte.

»Es besteht kein Anlass, sich zu entschuldigen. Gerne hätte ich noch mehr ertragen, wenn Ihr … wenn du nur meine Frau gefunden hättest.«

Ein Schleier der Trauer legte sich über Ala’nas feine Züge und Feodor bereute seine Worte.

»Es sind immer noch Elben auf der Suche nach ihr. Selbst wenn es hundert Jahre dauert, wir werden sie finden.«

Feodor senkte den Kopf und erwiderte nichts. Hundert Jahre waren zu lang für ihn. Zu lang für Josephine.

Ala’na lächelte ihn scheu an. »Sie hat mehr für mich getan, als ich jemals zu hoffen gewagt hätte, und sie hat es getan, obwohl sie wusste, dass es gefährlich ist. Das macht sie zu meiner Schwester. Wir Elben sind sehr vorsichtig, wenn wir Verbindungen eingehen, denn sie überdauern die Ewigkeit.«

Auch darauf wusste Feodor nichts zu antworten. Er fühlte sich wie ein Trottel, denn so sehr er auch nach frommen Worten suchte, ihm vielen keine ein.

Zum Glück raschelte Lume’tai in ihrem Wägelchen und lenkte ihn kurz ab. Sie schlief und nuckelte an ihrem Daumen. Als er wieder zu Ala’na sah, lächelte sie verklärt.

»Du hast sie mitgebracht. Ich danke dir.«

»Ich kann nirgendwohin gehen ohne sie. Sie leidet. Sie ist noch so klein.«

»Sie hat heute schon mehr Kraft als viele hier in Pal’dor. Deutlich mehr als ihre Mutter. Generationen von Elben werden sie verehren.«

»Sie tun es jetzt schon«, brummte Feodor. »Aber es ist nicht gut für sie, sie lehnt es ab«, fügte er hinzu, ohne auf Ala’nas hochgezogene Augenbraue zu achten. »Sie ist ein Kind und will auch so behandelt werden. Was sie braucht, ist Schutz und Liebe. Erwartungen und Ehrerbietung machen ihr Angst.« Er war sich plötzlich ganz sicher, dass dies Lume’tais Problem war. »Sie ist ein Kind«, wiederholte er.

»Möglicherweise hast du recht. Wir sind ein altes Volk, in unserem Leben währt die Kindheit nur einen Augenblick, und Kinder haben wir nicht viele. Jedes für sich ist etwas Besonderes, aber Lume’tai ist noch mehr als das. Sie hat den See Waldo’ria geöffnet – im Schlaf! Und auf der Warte hat sie meine Worte der Macht gebündelt und den Lichtkreis geschlossen. Weißt du, was das bedeutet, Feodor?«

Feodor schüttelte den Kopf.

»Pal’dor war eingeschlossen. Der Zauberer hatte seine Macht unter den Bäumen verteilt und uns in dieser Stadt eingesperrt. Als ich meine Kraft gegen seine richtete, um Josephine zu suchen, bin ich ein allzu großes Risiko eingegangen. Möglicherweise hätte er die Stadt danach finden können, aber Lume’tai bündelte meine Worte und schloss den Kreis. Dadurch ist nicht nur Pal’dor frei, der ganze Wald bis zu Warte ist der Radius eines Kreises. Kein Zauberer kann in diesen Kreis eindringen. Es ist der stärkste Schutz, der jemals bestand.« Ala’na lächelte. »Lume’tai ist das mächtigste Wesen, das seit Nuri’ja der Seefahrerin geboren wurde, und sie hat sich dafür entschieden, ihre Liebe den Menschen zu schenken.«

»Nun, ganz so ist es nicht, denn ich bin der einzige Mensch in meiner Familie. All die Jahre war mir das nicht wirklich klar. Der elbische Urahne meiner Frau hatte keine Bedeutung für mich. Erst seit ich die Kinder in diesen Wald führen musste, spüre ich es …« Seine Stimme brach und er schämte sich dafür.

Ala’na lächelte milde. »Armer Feodor«, flüsterte sie. »Du bist einsam.«

Ihre Worte waren Trost in seinen Ohren.

»Aber bedenke, Feodor, in welch außergewöhnlicher Situation du dich befindest. Nate’re schenkte dir fünf Kinder. Kein Mensch hat jemals so viel Liebe erfahren.«

Feodor kämpfte mit dem Kloß in seinem Hals. »Sieben«, murmelte er. »Sie sagte: Jedes Kind, das in unserem Haus aufwächst, ist unser Kind. Aber jetzt ist sie nicht hier. Ich fürchte um sie aber auch um meinen ältesten Sohn, Philip.« Es kam Feodor vor, als ob ein Damm gebrochen wäre und er erzählte Ala’na alles. Er erzählte, wie er vor siebzehn Jahren unverhofft Philips Vater geworden war. Er erzählte von den Jahren danach, bis zu dem Tag, an dem Philip in den Wald aufbrach. Ala’na lauschte und stellte ab und zu eine Frage. Als Feodor erschöpft endete, fühlte er sich von einer schweren Last befreit.

Ala’na nickte langsam. »Die Fäden des Schicksals laufen an einem Punkt zusammen. Große Veränderungen liegen in der Luft. Die Dinge fügen sich ineinander und ergeben langsam einen Sinn. Leider gibt es nicht viel, was ich sagen kann, um dich zu beruhigen, Feodor. Ich war zu lange krank und noch nicht in der Lage, eine Verbindung zu den anderen Elbenstädten aufzunehmen. Von meinem Sohn Alrand’do habe ich allerdings erfahren, dass Leron’das, der aufgebrochen war, um einen rechtmäßigen Thronerben zu suchen, inzwischen denjenigen, den er suchte, gefunden hat. Bis heute jedoch ahnte ich nicht, dass es dein Sohn ist.« Sie lächelte aufmunternd.

Feodor konnte nicht umhin, den Kopf stöhnend in seine Hände zu pressen. Leron’das hatte damals in Waldoria nicht gesagt, mit welchem Auftrag er zu den Menschen geschickt worden war. Weder Feodor noch Josephine waren auf den Gedanken gekommen, dass es wichtig sein könnte, ihm von Philips Herkunft zu erzählen. Sie waren nicht auf den Gedanken gekommen, weil es nicht wichtig war. Damals ging es nur um ihren verlorenen Sohn, und um den ging es Feodor heute immer noch.

»Wenn du etwas über Philip erfahren könntest … Wenn ich doch nur wüsste, wie es ihm geht.«

Es vergingen mehrere Tage, in denen Feodor nichts von Ala’na hörte. Wäre er nicht immer und überall von dieser stillen, geheimnisvollen Welt umgeben, hätte er glauben können, das Gespräch mit ihr sei seiner Fantasie entsprungen. Wenn er alleine mit geschlossenen Augen in seinem Bett lag und nur den ruhigen Atem seiner Kinder im Schlaf hörte, spürte er immer noch die faszinierende Macht, die von Ala’na ausgegangen war.

Sie verwirrte ihn, trotzdem wünschte er sich, sie wieder zu sehen. In seinem Bauch fühlte es sich an wie eine jugendliche Schwärmerei. Wie das ungeduldige Warten eines verliebten Knaben auf die nächste Begegnung mit dem Mädchen seiner Wahl. Gleichzeitig wusste er, dass dem nicht so war. Natürlich war Ala’na eine bemerkenswerte Frau. Eine sehr schöne Frau. Aber was er sich von ihr erhoffte, war, dass sie ihm über die berichten konnte, die ihm mehr als alles andere auf der Welt fehlten.

Wenn er schlief, kam Phine zu ihm, doch sie war wie Nebel. Sie zerfloss. Zurück blieb nur ihr Gesicht. Doch noch im Erwachen merkte Feodor, dass es Ala’nas Gesicht war. Von Angst und Reue gepeinigt warf er sich den Rest der Nacht in seinem Bett herum. Die Schlaflosigkeit der Nächte machte die Erlebnisse der Tage noch unwirklicher. Schließlich kam er endgültig zu dem Schluss, dass die Welt der Elben nicht seine Welt war. Doch wenn er drauf und dran war, seine Sachen zu packen, um selbst nach Phine zu suchen, sah ihn Lume’tai aus großen blauen Augen an, und er wusste, dass er nicht gehen konnte.

Feodor neigte nicht dazu, sich zu wichtig zu nehmen, aber er spürte, dass sie ihn hier brauchten. Auch wenn seine Kinder in der Stadt sicher waren, durfte er sie nicht im Stich lassen. Phine hätte das nicht gebilligt. Aber sie war irgendwo dort draußen und möglicherweise brauchte sie ihn auch.

Er fühlte sich zerrissen.

Dann kam endlich eine Nachricht von Ala’na. Ein junger Elbe – der mindestens hundert Jahre älter war als Feodor – näherte sich ihm leise und sagte, dass Ala’na sich nun stark genug fühlte, um den See Latar’ria zu befragen. Feodor nahm seine Worte zur Kenntnis, konnte allerdings so wenig damit anfangen, dass ihm nicht einmal eine Frage dazu einfiel. Als er nichts erwiderte, redete der Elbe weiter. »Sie lässt fragen, ob du sie begleiten willst.« Feodor wusste immer noch nicht, worum es ging, aber er begriff, dass es eine große Ehre war, die ihm zuteilwurde.

»Ich werde sie sehr gerne begleiten«, antwortete er.

Der Elbe neigte leicht seinen Kopf und entfernte sich dann ebenso leise, wie er gekommen war.

Feodor war versucht, ihm hinterherzurufen, wann er sie denn begleiten sollte, aber rufen war vollkommen unüblich in dieser Stadt, in der die lautesten Wesen eindeutig seine übermütigen Söhne waren. Also wartete er. Ungeduldig, aufgeregt und bang.

Erst am nächsten Tag kam der Elbe wieder und brachte ihn zu Ala’na.

Sie stand am grasbewachsenen Ufer eines Teiches, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, den ganzen Wald zu spiegeln, und redete leise mit einem Elben, den Feodor im ersten Moment für Rond’taro hielt. Als der sich jedoch zu ihm umdrehte, erkannte er, dass es Alrand’do war.

Feodor hatte ihn nicht mehr gesehen, seit er mit schmerzenden Gliedern in Pal’dor aufgewacht war. Das Wiedersehen versetzte ihm einen Stich, der ihm die Luft nahm und ihn taumeln ließ.

Alrand’do neigte den Kopf und entfernte sich wortlos, aber Ala’na lächelte schöner als die Sonne und streckte Feodor beide Hände entgegen.

Ohne ihn sehen zu können, merkte sie dennoch, dass er Alrand’do nachsah.

»Du kennst meinen Sohn«, sagte sie. »Ich habe ihn gebeten, zu bleiben, aber er fürchtet sich vor Menschen.« Sie lächelte schelmisch.

»Das glaube ich nicht«, erwiderte Feodor, hielt dann aber erschrocken inne. Er wollte Ala’na auf keinen Fall das Gefühl geben, dass er ihren Worten nicht traute.

»Doch«, widersprach sie. »Er hat große Furcht vor den Menschen. Er fürchtet sie, weil sie sein Herz erwärmen. Er fürchtet sie, weil sie ihm Kummer bereiten. Alrand’do hält Menschen für wankelmütig, weil sie so schnell sterben und sein weiches, liebendes Herz damit nicht umgehen kann.«

»Es ist sehr schmerzhaft, jemanden zu verlieren, den man liebt«, erwiderte Feodor leise.

Ala’na legte ihm ihre schmale Hand auf den Arm. Sie tröstete, aber sie linderte nicht den Schmerz. »Ich weiß, Feodor. Darum bist du heute hier.«

»Hast du etwas von Phine erfahren?« Die Hoffnung war schmerzhaft, aber der traurige Schatten auf Ala’nas Gesicht, der sie zunichtemachte, ließ ihn gepeinigt aufstöhnen.

»Nicht von Josephine. Trotzdem glaube ich, dass es dir Freude bereiten wird.«

Feodor schwieg. Sein Herz klopfte bis zum Hals, aber er wagte nicht, Philips Namen auszusprechen, aus Angst, sie könnte Nein sagen.

»Setz dich zu mir ans Ufer. Erschreck nicht. Der See, Latar’ria, wird sich verändern. Sie ist so klar und durchscheinend, aber auch empfindlich wie ein heißblütiges Ross. Nur in ihren tiefsten Tiefen brodelt noch die Dunkelheit.«

Ala’na ließ ihre Augen über den Teich gleiten, als könnte sie ihn sehen. Geschmeidig ließ sie sich sinken und Feodor setzte sich schwerfällig wie ein Ochse neben sie. Mehr denn je spürte er den Unterschied zwischen sich selbst und ihr. Sie breitete ihre Arme aus, der weite Ärmel fiel zurück und entblößte ihre zarten Handgelenke. Feodor sah beschämt weg, direkt auf seine eigenen plumpen Finger.

Ala’na murmelte Worte in der fremden Sprache der Elben, dann entspannte sie sich und griff nach seiner Hand. Feodors Herz setzte einen Schlag lang aus, ehe es lospolterte wie Geschirr, das vom obersten Brett herunterfällt und auf dem Weg zur Erde alles mit sich reißt.

Die erste Veränderung des Sees bemerkte er erst, als sie bereits geschehen war. Einen Moment lang war er so überrascht, dass er nach Luft schnappte. Ala’na drückte beruhigend seine Hand. Die ihre lag leicht wie eine Feder in seiner, und ihm war, als würde er einem Geist durch die luftigen Gefilde des Himmels folgen. Von dem Wald, der sich im See gespiegelt hatte, war nichts mehr zu sehen, stattdessen toste ein Wildbach in einem steinigen Bett schäumend einen steilen Abhang hinunter. Die Gewalt der Natur zog Feodor vollständig in ihren Bann. Als das Gesicht einer Elbin in dem See auftauchte, war er enttäuscht.

»Isi’la, ich grüße dich«, sagte Ala’na.

Trotz der relativ langen Zeit, die Feodor schon in Pal’dor lebte, nahm er immer noch anerkennend wahr, dass sich die Elben in seiner Gegenwart immer in der Sprache der Menschen miteinander unterhielten, um ihn nicht auszuschließen. Trotzdem war er ein Fremder, weil er sich selbst wie einer fühlte.

»Ala’na, es freut mich, dich zu sehen.«

»Ich habe jemanden mitgebracht. Feodor wartet ungeduldig auf das, was du mir gestern bereits sagtest.«

»Feodor«, die Elbin am andern Ende der Welt neigte leicht ihren Kopf und Feodor tat es ihr gleich, schwieg aber, denn in der Aufregung war ihm ihr Name entfallen.

Sie sah zur Seite und streckte ihren rechten Arm aus. Gleich darauf erschien ein zweites Gesicht im Spiegel des Sees. Feodor klappte der Kiefer nach unten. Er sah es und konnte es nicht glauben. Seine Lippen formten stumme Worte, die Welt um ihn herum drehte sich in atemberaubender Geschwindigkeit. Seine Augen versanken im See. Er streckte den Arm aus, um das Gesicht zu berühren, aber dabei ließ er Ala’nas Hand los und das Bild verschwand, als wäre es nie da gewesen.

3. Der goldene Schlüssel

Ala’na griff nach seiner Hand. Es kribbelte in seinen Fingern, in seinem Arm, und dann konnte er wiedersehen, doch alles, was er sah, war das traurige Gesicht der Elbin, die ihn mitfühlend musterte. Die Enttäuschung war wie eine Schlucht, und Feodor stürzte kopfüber hinein.

»Es tut mir leid, Feodor. Ich wollte Philip überraschen. Ich dachte, es würde ihn freuen. Er ist so traurig, irgendwie verwirrt. Ich spüre seine Unsicherheit, seine Suche nach sich selbst. Ich dachte, wenn er dich sieht, würde er einen Teil dessen finden, was er sucht. Es tut mir leid.«

»Dann weiß er es?«, fragte Feodor, aber als er es aussprach, wusste er bereits die Antwort. »Er weiß es!«, fügte er hinzu.

»Was auch immer es ist, ich weiß es nicht. Frendan’no schweigt und auch Leron’das sagt kein Wort«, murmelte Isi’la.

»Ist Leron’das bei euch?«, fragte Ala’na.

»Er kam gestern im Mantel der Nacht. Die Dinge entwickeln sich nicht so, wie er es wünscht. Er wollte mit dem Rat sprechen.«

»Wenn du erlaubst, Isi’la, würde ich gerne mit ihm sprechen.« Ala’na hielt immer noch Feodors Hand und band ihn damit ans Geschehen, doch Feodor wünschte sich, nur noch einmal Philips Gesicht sehen zu können. Ein Gesicht, das ihm so vertraut war, aber das sich in den vergangenen Monaten stark verändert hatte. Als er ging, war er ein Knabe, doch heute trug er das Gesicht eines Mannes. In seiner Seele aber war er verwundet. Es schmerzte Feodor zutiefst und es ärgerte ihn, denn er selbst hatte es verdorben. Er hatte sich der einzigen Möglichkeit beraubt, mit Philip zu sprechen. Erst jetzt wurde ihm klar, welche wunderbare Möglichkeit Ala’na ihm gegeben hatte, aber er hatte sie nicht genutzt.

»Ich grüße dich, Feodor«, sagte Leron’das und riss ihn damit aus seinen Gedanken.

»Leron’das«, krächzte Feodor. Auch der Elbe hatte sich verändert. Seine Haare waren länger und mit feinen geflochtenen Zöpfen geziert, und in seinen Augen hatte er ein fiebriges Leuchten. Etwas wie Glück und Kummer in einem.

»Es ist lange her, seit wir uns zuletzt sahen. Ich wollte, ich hätte dir berichten können, dass ich deinen Sohn fand.«

»Doch dann hast du herausgefunden, dass ich nicht sein Vater bin. Möglicherweise hätten wir uns einiges erspart, wenn wir …«

»Es lohnt nicht zu hadern, Feodor«, tadelte Ala’na milde.

Zorn und Tränen stiegen in Feodors Kehle auf. »Ich bin ein Mensch, ich hadere! Ich hab sie verloren und auch ihn.« Feodor ließ Ala’nas Hand los und lief in den Wald. Tränen, die keiner sehen sollte, kullerten über seine Wangen.

***

Philip lief, so schnell er konnte. Er hasste jeden Stein, der unter seinen Füßen wegrutschte und jede Felsnase, die er umkrümmen musste. All der Kummer, den er mühsam unter einer Decke des Schweigens hielt, kochte in ihm hoch. Er hatte seinen Vater gesehen und dann war er plötzlich verschwunden gewesen. Herausgerissen aus seinem Leben. Verschwunden. Philip wollte niemanden sehen. Er wollte Stille und Einsamkeit, damit er sich so fühlen konnte, wie sich seine Seele anfühlte, ohne dass ihn jemand zu trösten oder aufzumuntern versuchte. Er stolperte und schürfte sich beide Hände an den scharfen Steinen auf, doch der Schmerz war gut. Er war real und lenkte ihn ein wenig von seinem eingeschnürten Herzen ab.

Er hatte gehofft, hier oben Abstand zu bekommen. Abstand, der es ihm ermöglichte, wieder klar zu denken. Doch hier gab es nur zwei Richtungen, nach oben oder nach unten. Er war eingesperrt in dieser Welt. Zwar stockte ihm jedes Mal der Atem, wenn er auf das Land zu seinen Füßen sah, jedoch nur, weil er wusste, dass es dort unten ein Leben gab, welches ihn ausgestoßen hatte. Frendan’no tat sein Bestes, um ihm seine Trauer, Wut und Verzweiflung abzunehmen, aber Frendan’no konnte nicht das ersetzen, was er verloren hatte.

Schließlich blieb Philip atemlos stehen. Die Höhe machte ihm immer noch zu schaffen. Er ermüdete schnell. Zornig setzte er sich auf einen Stein und musterte seine geschundenen Hände.

Er wusste nicht, wie lange er so dagesessen hatte, als sich Frendan’no neben ihm niederließ. Er sagte nichts, saß einfach nur da, aber seine Anwesenheit besänftigte Philips Trauer und zügelte seine Wut.

»Gibt es keinen anderen Ort, an dem ich leben kann?«, fragte er schließlich.

»Du kannst an jedem Ort leben«, antwortete Frendan’no.

»Ich kann überhaupt nicht leben.«

Sie schwiegen beide.

»Leron’das würde gerne mit dir sprechen«, sagte Frendan’no schließlich.

»Leron’das würde mich gerne dazu zwingen, die Welt zu retten. Leron’das glaubt, dass ich nur dort unten auftauchen muss und schon sind alle glücklich und zufrieden«, knurrte Philip.

»Du tust ihm unrecht.«

Philip antwortete nicht. Er starrte hinunter auf den Nebel, der die Welt verhüllte. »Habe ich dir schon einmal von Arina erzählt?«, fragte er plötzlich. »Sie ist die Tochter des Grafen von Weiden. Sie ist so …« Er seufzte. »Ich habe mich kaum getraut, sie anzusehen, denn ich war nur ein einfacher Junge. Aber sie kam zu mir. Frendan’no, ich liebe sie so sehr, dass es wehtut. Wir waren so gut wie verlobt ...« Für einen Moment schloss er verzweifelt die Augen. »Alles ist kaputt. Nichts mehr ist so, wie es war.«

»Aber sie liebt dich doch noch?«, fragte Frendan’no leise.

»Sie weiß nicht, wer ich bin. Ich weiß es selbst nicht.«

Frendan’no legte seine feingliedrige Hand auf Philips Arm und sah ihn von der Seite an.

»Ich weiß einiges über die Gepflogenheiten der Menschen, aber so einen Unsinn habe ich noch nie gehört.«

Philip sah überrascht auf. Frendan’no war immer so zurückhaltend mit seiner eigenen Meinung, dass diese Worte einer Zurechtweisung gleichkamen.

»Wenn sie dich liebte, als du in ihren Augen noch ein unbedeutender Junge warst, was sollte sie daran hindern, dich zu lieben, wenn sie erfährt, dass du ein Abkömmling von Königen bist?«

»Du weißt nicht, was alle von diesem Abkömmling erwarten. Das ist, als wollte man ein Hemd anziehen, welches einem Riesen gehört. Keiner wird sehen, dass ich es bin, der darin steckt. Es ist nur ein Haufen Stoff, der mich restlos unter sich begräbt.«

»Nun, wenn das so ist, dann wird wohl kein Mensch der richtige König sein. Dann wird die Falkenburg in der Hand eines Wahnsinnigen bleiben, und Zauberer werden das Land für ihn regieren. Es stellt sich höchstens die Frage, was aus den Menschen wird, die jetzt schon beschlossen haben, sich dagegen aufzulehnen. Und was aus den Elben wird, die an ihrer Seite kämpfen.«

»Frendan’no!«, rief Philip und sprang auf. »Wie kannst du nur? Warum tust du das?«

Auch Frendan’no war aufgestanden und sah Philip ernst an. »Almira’da, meine Schwester, ist nicht aus Eberus zurückgekehrt. Man munkelt, dass sich selbst in der Stadt der Kirche Zauberer aufhalten.« Damit drehte er sich um und ließ Philip stehen.

Fassungslos starrte er ihm hinterher. »Weiß Leron’das davon?«, flüsterte Philip. »Weiß Leron’das davon?«, murmelte er vor sich hin. Er fühlte sich schuldig, ohne in der Lage zu sein, auch nur das Geringste daran zu ändern.

***

Leron’das ahnte es schon lange. Die drei Nornen weilten gemeinsam auf Erden. Aber alles, was anfangs wie ein Geschenk ausgesehen hatte, verwandelte sich zunehmend in einen Albtraum. Das warme Gefühl, das ihm beschert gewesen war, als er Nate’re begegnete, zog nun, da er erfahren hatte, dass sie sich in der Gewalt eines Zauberers befand, sein Innerstes kalt zusammen. Wie ein leises Echo hallten Ala’nas Worte, die sie an ihn richtete, als er Pal’dor verließ, in seinem Inneren: Die Drei mögen dir hold sein. Und sie waren es gewesen. Mehr, als er ahnte, mehr, als ihm lieb war. Destina’riu, das Schicksal, wies ihm den Weg zu Nate’re, dem Leben, die alles, was er suchte, hütete. Aber weil er blind war, führte das Schicksal ihn anschließend in die Irre und trotzdem immer wieder zu Orten, die ihm neue Offenbarungen bescherten. Doch dabei folgte ihm auf Schritt und Tritt Varsa’ra, der Tod. Wenn es Leron’das gelang, ihm rechtzeitig auszuweichen, traf er einen anderen. Oder hatte es Varsa’ra gar nicht auf ihn abgesehen, sondern zählte nur die Stunden der Menschen, wie sie es immer tat? Leron’das schüttelte den Kopf.

Es war bestimmt nichts so wie immer. Unmöglich. Nate’re hatte ein Kind gehütet, das ein König werden sollte. Destina’riu zeigte diesem Kind einen Weg zu den Elben, die ihm auf eine Art verbunden waren, wie sonst keinem Menschenkind vor ihm, und Varsa’ra schonte es. Soweit schien alles in bester Ordnung zu sein und Leron’das konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob es seine Schuld war, dass nun alles aus den Fugen geriet. Er hatte Peredurs Erben nicht erkannt, obwohl es für jeden andern Elben offensichtlich gewesen wäre. Ala’nas nur mühsam aufrechterhaltene Fassade und ein paar gezielte Fragen hatten ihm bestätigt: Philips Ähnlichkeit mit seinem Vorfahren Peredur war nicht von der Hand zu weisen.

Aber wie hätte er ihn erkennen sollen? Er war der einzige Elbe in Pal’dor, der Peredur nicht gekannt hatte. Trotzdem gab es Hinweise. Das Kettenhemd, Philips unnatürliche Reaktion auf die Wunden der Gnomklinge. Aber Leron’das war diesen Hinweisen nicht nachgegangen. Pal’dor war verschlossen und ein fernes Ziel beherrschte damals seine Gedanken. Das Schicksal hatte mit ihm gespielt. Mit ihnen allen.

Was wäre geschehen, wenn er ihn gleich erkannt hätte? Damals in dem Eichenwäldchen, in dem er ihn mehr tot als lebendig gefunden hatte?

Hätte er diesem verängstigten, verdreckten Jungen gesagt, dass er der rechtmäßige König von Ardelan war? Gewiss nicht. Er hätte versucht, ihn schonend auf diese Aufgabe vorzubereiten, ihm Zeit gelassen, zu lernen und zu erkennen. Als er ihn jedoch wieder traf, schien das Ziel so nah.

Zu nah – das wusste er heute. Er hatte sich von Philips zielstrebigem Auftreten blenden lassen und den empfindsamen Jungen aus den Augen verloren. Dabei hätte er es besser wissen müssen. Selbst ein Mensch reifte nicht in wenigen Monaten vom Kind zum Mann. Und welcher aufrechte, vernünftige Mann könnte sein Leben von heute auf morgen gegen ein anderes eintauschen? Leron’das schämte sich, weil er Philip nicht der Freund gewesen war, der er ihm hätte sein sollen.

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