Kitabı oku: «Die Nähe der Nornen», sayfa 3
»Was soll ich tun, Frendan’no? Leron’das will, dass ich mich stelle, aber das kann ich nicht. Alle Menschen, die ich kenne, hoffen auf einen starken Mann, der sie führt. Sie hoffen auf einen, der König Levian die Stirn bietet und die Zauberer aus dem Land vertreibt. Doch ich kann das nicht. Ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie so hilflos gefühlt. Alles, was zu mir gehört hat, wurde mir entrissen. Ich weiß nicht einmal mehr, wer ich bin.«
Frendan’no schwieg und Philip vermutete, dass er schlief. Schließlich drehte er sich auf eine Seite und schloss die Augen.
»Was du tun sollst, kann ich dir nicht sagen«, begann Frendan’no unverhofft. »Ich will dich auch nicht mit den Hoffnungen und Wünschen anderer belasten, wenn du doch eigene Wünsche und Hoffnungen hast. Obwohl ich mich nach Kräften bemühe, dir klarzumachen, dass du nichts verloren hast, sondern nur etwas Vergangenheit dazugekommen ist, kann ich dir den Schmerz nicht abnehmen. Du sagst, du weißt nicht mehr, wer du bist. Aber ich sehe noch viel von dir, ich spüre noch viel von dir und der Kraft, die in dir steckt. Eines Tages wirst du sie auch wieder spüren. Eines Tages wirst du möglicherweise verstehen, was du wirklich verloren hast und auch, dass du dadurch etwas anderes dazugewonnen hast.« Er machte eine Pause. »Es ist nicht jeder zum König geboren, selbst wenn das Blut vieler Könige in seinen Adern fließt. Wären die Dinge anders verlaufen, wärst du nicht der geworden, der du heute bist. Aber wenn du mich fragst, ich glaube, dass du ein guter König für die Menschen sein könntest. Jedoch bin ich kein Mensch. Wir Elben beugen unser Haupt nicht vor einem König, aber wir verneigen uns in Anerkennung selbst vor dem Geringsten, wenn ihm dies gebührt. Grübel nicht länger. Schlaf!«
Aber Philip schlief nicht. Obwohl Frendan’no gewusst hatte, wer der Erbe der alten Könige war, hatte er auf dem Markt in Corona gestanden und hatte sein Kommen verkündet. Obwohl oder deswegen?
»Seit wann wusstest du, dass ich nach Corona kommen würde? Seit wann wusstest du, dass ich es bin, der …«
Frendan’no seufzte, setzte sich auf und zog die Beine unter sich. »Noch nicht sehr lange, dies sagte ich bereits. Vor Umlauf des ersten Frühlingsmonds kam Leron’das nach Munt’tar und berichtete von der Prophezeiung, die besagt, dass der König wiederkommen und ihm Boten vorausgehen würden, wie sie die Menschen nicht oft gesehen haben. Leron’das war der festen Überzeugung, dass wir Elben diese Boten sein werden. Ich war bereit, mit ihm zu gehen, nicht zuletzt meiner Schwester zuliebe, die um Leron’das fürchtet. Als wir in Corona ankamen, brachte er mich auf einem geheimen Pfad zu Resilius und dort erfuhr ich den Namen des letzten verborgenen Königs. Da erst wusste ich, dass du es bist.« Er lächelte versonnen. »Leron’das wurde ganz still, als er erkannte, dass ein Name allein oft nichts über die Person verrät, die dahintersteckt. Erst als ich ihn bat, dir entgegenzureiten, erwachte er aus seiner Starre.«
»Deine Schwester ist das Herz von Munt’tar?«, fragte Philip ungläubig.
»Hat er sie so genannt?«, fragte Frendan’no zurück.
Philip nickte. »Er sagte, sie sei nach Eberus gegangen, um …« Die Erinnerung an das Gespräch, dass er mit Leron’das auf dem Turmberg geführt hatte, schnürte ihm die Kehle zu. Eberus, Eberus, Eberus. Wie lange war es her, dass er sich, noch unbeschwert und von Sehnsucht beflügelt, ausgemalt hatte, er könnte gemeinsam mit Leron’das in die Stadt der Kirche reisen und bei Sonnenuntergang auf das Meer hinaussehen. Arina leise seufzen hören, ihre Hand in seiner. Den Wind auf der Haut, der verspielt an ihren Haaren riss und die herausgezupften Strähnen in ihrem Nacken kräuselte.
Heftig wünschte er sich sein Leben zurück. Sein unzulängliches, kleines Leben. Ein Leben mit Träumen, mit Hoffnung … mit Liebe. Er wollte wieder Philip sein und sich wie Philip fühlen.
»Philip?«
»Es ist nichts mehr von mir übrig.« Er rollte sich in seine Decke und kehrte Frendan’no den Rücken zu.
Frendan’no saß eine Weile stumm da, dann begann er leise zu erzählen. »Felicitas war die Ältere – beinahe zwei Jahre älter als Josephine. Sie war ein aufgewecktes Kind und sie stand oft ungeduldig vor der Wiege ihrer Schwester, als ob diese nicht schnell genug groß werden würde, um mit ihr zu spielen. Dann konnte Josephine endlich laufen. Felicitas nahm sie überall hin mit und zeigte ihr alles. Als die letzte große Seuche in Corona wütete, war Felicitas kaum älter als vier Jahre.« Er seufzte leise. »Die Menschen starben reihenweise und der Gestank, der aus der Stadt drang, war überwältigend. Erst starb die Mutter der Mädchen, dann ihr Vater. Die beiden Kinder klammerten sich in ihrer Trauer aneinander. Obwohl Josephine die Jüngere war, war ihre Kraft ungleich stärker. Als Felicitas die ersten Anzeichen der Krankheit zeigte, wich Josephine nicht mehr von ihrer Seite. Helena fürchtete, dadurch beide Kinder zu verlieren, aber sie brachte es nicht übers Herz, sie zu trennen. Wider Erwarten erholte sich Felicitas und behauptete steif und fest, dass Josephine sie geheilt hätte.«
Philip hörte Frendan’no zu und vergaß seine Zweifel. Er tauchte ein in die Geschichte über zwei Schwestern, die beide seine Mutter waren. Kurz bevor er einschlief, begannen die Grenzen zu verschwimmen. Die fremde Felicitas, die ihn zur Welt gebracht hatte, bekam ein Gesicht, und er bekam ein Gefühl für sie. Das Gefühl, sie zu kennen.
In den nächsten Tagen wurde der Weg beschwerlicher. Sie überquerten Geröllfelder und mussten nicht selten weit ins Tal hinabsteigen, damit Erós ihnen folgen konnte. Schließlich erreichten sie die Stelle, an der die Pferde aus Munt’tar untergebracht waren.
»Hier musst du dich von deinen Tieren verabschieden«, sagte Frendan’no. Philip übergab Erós und Lu in die Gesellschaft einer ansehnlichen Herde, die auf einer weitläufigen Alm über der Baumgrenze weidete. Obwohl ringsum viel Schnee lag, war die Wiese saftig grün und ein in den Fels gehauener Stall bot Schutz vor Wind und Wetter.
Philip sah hinunter auf unzählige Gipfel, aber wenn er sich umdrehte, ragten hinter ihm die Eisgiganten in den Himmel.
Von der Pferdewiese bis Munt’tar waren sie weitere vier Tage unterwegs. Philip kämpfte gegen Schwindel und Kurzatmigkeit und war gleichermaßen berauscht wie beklommen, als er die Welt unter seinen Füßen immer kleiner werden sah. Die Kälte kroch ihm bis in die Knochen, und er konnte sich kaum noch vorstellen, wie es gewesen war, als die Sonnenstrahlen ihn wärmten und nicht nur gleißend in den Augen brannten. Trotzdem merkte er, wie sein Herz weit wurde. Immer öfter blieb er stehen, aber nicht nur, um zu Atem zu kommen, sondern auch, um seine Augen an der Herrlichkeit dieser majestätischen Landschaft zu weiden. Manchmal lauschte er der Stille so lange, bis sie durch seine Ohren in seine Seele drang und ihn alles vergessen ließ. Hier oben herrschte die Zeit nicht, und er war dem Himmel so nahe, dass ihn nichts bedrückte.
2. Die rothaarige Elbin
Elfrieda hatte den vorderen Gebäudeflügel des Archieristos noch nie gemocht. Der Lärm der Straße war hier überall zu hören. Schmutz und Staub drangen durch jede noch so kleine Ritze. Dies machte die regelmäßige Reinigung der öffentlichen Räume umso notwendiger.
Heute hatte Elfrieda eine ganze Armee von Mädchen damit beauftragt, die Böden zu schrubben und Staub zu wischen. Sie hoffte, dass bei dem Durcheinander, das sich daraus ergab, keiner merken würde, dass sie selbst fehlte. Siebzehn Jahre Dienst im wichtigsten Hause der Kirche – einem Haus, welches das Wohlwollen des Herrn hätte erwecken sollen, nun aber täglich Beweise dafür erbrachte, dass es hinter Gottes Angesicht lag – hatten nicht ausgereicht, um ihre Schritte auch nur ein einziges Mal in die Verliese zu lenken.
Doch heute würde sie es tun. Sie musste es tun, denn ihre bisherigen Versuche, dem rothaarigen Wesen zu Hilfe zu kommen waren gescheitert. Viel zu lang hatte sie gebraucht, um herauszufinden, wer der Elbin regelmäßig das Essen brachte. Dann hatte sie weitere kostbare Zeit darauf verschwendet, mit dem taubstummen Mann Kontakt aufzunehmen und ihn in ihren Plan einzubeziehen. Schließlich musste sie sich eingestehen, dass er nicht nur taubstumm, sondern auch einfältig war. Es selbst zu versuchen, war ihre letzte Möglichkeit, und sie hoffte inständig, dass sie nicht zu spät kam, denn die Elbin befand sich seit mehreren Wochen dort unten.
Die Kerker lagen in dem u-förmig angeordneten Gebäudekomplex auf der geschlossenen Seite. Für den Fall, dass jemand es wagen würde, ihr, der obersten Haushälterin, den Zutritt zu verweigern, hatte sie ein Schreiben verfasst und es mit dem Siegel des Heiligen Vaters versehen.
Der Wachmann, der vor der obersten Tür herumlungerte, ließ sie jedoch ungefragt passieren, als sie, mit Putzeimer und Schrubber bewaffnet, an ihm vorbeirauschte. Er war neu und wusste nicht, dass ihr Aufgabenbereich normalerweise vor dieser Tür endete.
Die Treppen, die nach unten führten, waren verdreckt und zum Teil abgesplittert. Die Luft roch faulig und feucht. Je weiter Elfrieda hinabstieg, umso dichter wurde der Gestank. Das Atmen fiel ihr schwer. Zwischen den beiden Türen, die die Welt dort oben von der darunter trennten, hallte jeder ihrer Schritte. Ihr Herz schlug heftig in der Brust, aber weniger aus Angst davor aufzufliegen, als davor, was sie hinter der nächsten Tür erwarten würde.
Unter welch unwürdigen Bedingungen fristeten die Menschen, über die im Namen Gottes gerichtet werden sollte, hier ihre Tage? Elfrieda war der Meinung, dass ein allmächtiger Gott es nicht nötig hatte, durch die Hand eines Menschen zu strafen, und darum Menschen nicht das Recht hatten, dies in seinem Namen zu tun.
Als sie die nächste Tür öffnete, trieb ihr der Gestank die Tränen in die Augen. Die Hand schützend vor Mund und Nase gepresst, sah sie sich in dem dämmerigen Raum um. Sie hatte fest damit gerechnet, auch hier mindestens einem Wachmann zu begegnen, aber der Vorraum war leer. Elfrieda stellte den schweren Eimer in eine Nische und steuerte, dicht an die Wand gedrängt, den hinteren Teil der Verliese an, wo sie die Elbin vermutete. Hin und wieder hing eine Öllampe an der Wand. Ihr eigener langer Schatten verfolgte sie aus dem einen Lichtkreis in den nächsten. Es war gespenstig still. Darum erschreckte sie der erste Laut, der hinter einer der schweren Eisentüren erschallte, so sehr, dass sie sich mit einem leisen Aufschrei in eine Nische drängte. Erst als sich ihr Herzschlag etwas beruhigt hatte und das Rauschen des Blutes in ihren Ohren leiser wurde, erkannte sie, dass jemand sang. Die Stimme war rau, eine Melodie war kaum zu erkennen, und das Geräusch von schleifenden Eisenketten mischte sich immer wieder dazwischen.
Nachdem Elfrieda sich nach allen Seiten umgesehen hatte und immer noch keine Bewegung in dem Gang wahrnehmen konnte, schlich sie weiter. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, aufrecht und mutig zu sein. Das Schreiben, das ihren Aufenthalt hier unten rechtfertigen sollte, steckte schließlich in der Tasche ihres derben Rockes. Sie hoffte, dass niemand merken würde, dass es sich um eine Fälschung handelte. Zumindest nicht, solange sie hier unten war.
Natürlich würde es keinem auffallen, beruhigte sie sich selbst. Niemand wusste, dass sie des Schreibens mächtig war. Sie war schließlich eine Frau, und obwohl sie über eine kleine Armee von Dienstmägden gebot, war sie doch nur eine Hausbedienstete. Außerdem zweifelte sie daran, dass auch nur einer der Wachen mehr als das Siegel des Archiepiskopos erkennen würde.
Der Plan war gut, aber sie hatte nicht mit der bedrückenden Macht dieser Gewölbe gerechnet. Nicht mit diesem Gestank.
Obwohl ihr Herz immer noch heftig flatterte, zwang sie sich dazu, mit straffen Schultern und entschlossenen Schritten weiterzugehen. Es war ausgeschlossen, dass sich kein Wachposten hier aufhielt. Andererseits war sie jetzt schon so weit in den Kerker vorgedrungen und niemandem begegnet, dass sie der Verdacht beschlich, jemand müsste die Wachen weggeschickt haben. Der Gedanke war noch nicht zu Ende gedacht, da war sie sich sicher, dass es nur so sein konnte.
Wer hatte die Macht, die Wachen wegzuschicken? Der Archiepiskopos selbst. Aber der Archiepiskopos würde diesen Keller niemals betreten. Abgesehen davon, dass es hier erbärmlich roch und zudem feucht und dreckig war, hätte er mindestens hundert Schritte von seinem Audienzsaal bis hierher gehen müssen. Dann die schmalen Stufen hinunter – es war vollkommen abwegig. Wäre er hier, hätte sie keinen Schritt auch nur in die Nähe der Tür tun können. Wer … Elfrieda blieb wie angewurzelt stehen, denn plötzlich wusste sie, wer sich in den Verliesen aufhielt. Wenn er es war, dann war er genau dort, wo sie hinwollte.
Flucht, nur weg von diesem Ort, war ihr erster Gedanke, doch gleichzeitig zog sich ihr Magen schmerzhaft zusammen. Sie konnte nicht gehen und die Elbin dem Zauberer überlassen. Hastig raffte sie ihre Röcke und eilte den Gang hinunter.
***
Feodor saß vor dem Feuer und starrte in die Glut. Kein Gedanke passte mehr in seinen Kopf, er fühlte sich müde, ausgebrannt und einsam.
Einsam! Obwohl er den ganzen Tag seine Kinder um sich hatte und von überall freundlichen Zuspruch erhielt. Doch nach wie vor wusste niemand, wo sich Phine befand, und nach wie vor war Lume’tai nicht bereit, sich von jemand anderem halten und trösten zu lassen als von ihm oder einem seiner Söhne. Sie hielt ihn gefangen hier an diesem fremden Ort. Sie verhinderte, dass er sich mit seinen immer noch wunden Knochen auf die Suche nach seiner Frau machen konnte.
Manchmal war er zornig auf Lume’tai. Sie war hier zu Hause unter ihresgleichen, aber alles, was sie wollte, war die Nähe derer, die ihr vertraut waren. Von dem zufriedenen Kind, das er kannte, war nichts mehr da. Es war genauso verschwunden wie seine Zuversicht, genauso verschwunden wie Phine …
Oft hielt er die Kleine im Arm und erklärte ihr, was unerklärlich war. Er bat sie, ihn freizugeben, damit er Phine suchen konnte, aber Lume’tai sah ihn mit ihren großen, blauen Kinderaugen an und kuschelte dann ihr Köpfchen trostsuchend an seine Brust.
Die Elben näherten sich nur scheu und ehrerbietend, wenn er so mit ihr dasaß. Offensichtlich hatte sie Großes geleistet. Aber es überstieg Feodors Auffassungsgabe, zu verstehen, von was die Rede war, wenn sie sagten, sie hätte den Lichtkreis geschlossen und Machtworte gespiegelt. Möglicherweise würde Ala’na es ihm erklären. Aber sie war noch so geschwächt, dass sie nur für ihren engsten Familienkreis zu sprechen war. Manchmal sah Feodor Rond’taro auf den Pfaden von Pal’dor.
Obwohl er immer freundlich war und sich stets nach seinem Befinden erkundigte, wirkte er irgendwie abwesend.
Solange Feodor noch in Iri’tes Obhut gelegen war, hatte er ab und an über Ala’nas Gesundheitszustand Auskunft erhalten. Nicht viel und nur das, was ihn unmittelbar betraf, aber es vermittelte ihm zumindest einen kleinen Eindruck davon, wie sehr sich die Elbin angestrengt haben musste, um Josephine zu finden. Es zeigte ihm aber auch, was seine Frau und Lume’tai geleistet hatten, um ihr den Weg zurück in ihren Körper zu ermöglichen.
Feodor schüttelte den Kopf. Das alles war so fern von seinem Leben, es war so unglaublich und unverständlich wie das Buch, das Josua neulich in der Hand hatte, mit den Bildern unbekannter Tiere und voll mit Runen, die er nicht entziffern konnte.
Er fühlte sich ausgesetzt in dieser fremden Welt, deren Regeln er nicht kannte.
Immerhin blühten seine Söhne langsam auf. Josua war der Erste gewesen, der sich neugierig in diese neue Welt stürzte. Jaris und Jaden hatten die Vorteile auch schnell herausgefunden und ließen sich wie streunende Katzen an allen möglichen Stellen verwöhnen. Schließlich waren ihnen die beiden Großen gefolgt, wobei sich Johann am schwersten tat. Aber auch ihn brachte seine kindliche Neugier weiter, als Feodor zu gehen vermochte.
Nach seiner ersten Erleichterung, alle in Sicherheit zu wissen, wurde ihm immer beklemmender bewusst, dass er an einem Ort war, an den er nicht gehörte. Zwar war er keine vier Stunden Fußmarsch von seiner Heimatstadt entfernt, aber er hätte genauso gut auf einem anderen Stern sein können. Und das alles ohne Phine.
Zum ersten Mal in seinem Leben fragte sich Feodor, worauf er sich eingelassen hatte.
Als die alte Helena ihnen damals vor fast siebzehn Jahren eröffnete, dass ihr Vater ein Elbe aus Mu … Ma … – der Name dieser Elbenstadt fiel ihm nicht mehr ein – war, hatte er das stillschweigend aufgenommen und zu seiner Liebe hinzugezählt wie ein Muttermal an einer geheimnisvollen Stelle.
Er spürte heute noch einen Hauch von dem schlechten Gewissen, das er verspürt hatte, als er Josephine mit sich nahm, obwohl sie nicht seine angetraute Frau gewesen war. Die Notwendigkeit, dies zu tun, stand damals vor dem Anstand, und da seine Absichten ehrenhaft waren, hatte er sie und das Kind ihrer Schwester, keusch – und darauf legte er großen Wert – bis ins Kloster Wilhelmus gebracht, wo der Abt erst die Trauung und dann die Weihe des Kindes übernommen hatte.
Philip war ihm so schnell ans Herz gewachsen wie später jedes seiner leiblichen Kinder, und manchmal vergaß Feodor, dass dieses Kind nicht sein eigen Fleisch und Blut war. Wo war Philip? Wie ging es ihm? Mit Phine war auch der lose Kontakt zu seinem Ältesten abgerissen. Irgendwie ahnte sie meistens, ob es ihm gut oder schlecht ging und sie wusste, ob er lebte. Erst seit Philip nicht mehr da war, spürte Feodor den Druck der Verantwortung, die er damals leichtherzig übernommen hatte und die ihn nie belastet hatte, solange der Junge in seinem Haus lebte, wuchs und gedieh und sich zusehends zu einem verantwortungsbewussten Menschen entwickelte. Als Philip das Erwachsenenalter erreichte, hatte Feodor Phine einmal gefragt, ob es nicht an der Zeit wäre, ihm die Wahrheit zu sagen. Aber Phine war der Meinung gewesen, dass es besser wäre, noch ein Jahr zu warten und ihn solange in dem Glauben zu lassen, dass er das Mannesalter noch nicht erreicht hatte. Doch der Tag der Aussprache war nie gekommen, und es reute Feodor mehr als alles andere, dass ein Fremder Philip die Wahrheit seiner Herkunft erklären würde.
Traurig dachte er daran, dass nichts so gekommen war, wie es hätte kommen sollen. Die Zufriedenheit, die ihm früher innewohnte, wenn er den Jungen ansah, war durch Zweifel und Ängste erstickt worden. In letzter Zeit dachte er oft daran, dass Philip ein Sohn von Königen war. Manchmal dachte er es mit Stolz, doch meistens mit Kummer und Schmerz. Die Mitglieder des geheimen Schlüssels hatten schon Philips Vater auf den Thron vorbereitet und Feodor zweifelte nicht, dass sie es auch mit Philip versuchen würden. Das Land brauchte einen neuen König! Aber warum ausgerechnet seinen Sohn?
Lume’tai rekelte sich, schlug die Augen auf, und als sie ihn nicht sofort bemerkte, begann sie zu schreien.
»Ich lass dich nicht allein, kleiner Engel«, flüsterte Feodor und hob sie sacht aus ihrem weißen Bettchen. Er setzte sie auf seinen Schoß und tröstete sie, bis sie sich beruhigt hatte und ihn aus den kleinen Seen, die ihre Augen waren, ernst ansah.
»Phine hat gesagt, du bist unser kleines Mädchen. Am Anfang und am Ende halte ich ein Kind in den Armen, von dem ich weiß, dass es nicht meins ist, aber mein Herz ist blind, es erkennt keinen Unterschied zwischen dir und meinen Söhnen.« Er seufzte. Er wusste, dass er nicht an Phine denken durfte, solange Lume’tai wach war, darum stand er auf und ging langsam unter den Bäumen spazieren. Immer noch schmerzten seine Glieder und er fühlte sich wie ein alter Mann.
***
Vor der nächsten Ecke blieb Elfrieda wie angewurzelt stehen. Die Luft war zum Schneiden dick. Sie flimmerte und knisterte vor Spannung. Elfrieda konnte nichts Genaues erkennen. Der neue Gang war beinahe noch düsterer als der, in dem sie stand. Sie lauschte. Selbst wenn es stimmte, dass Menschen gegen die Macht eines Zauberers gefeit waren, so war er immer noch ein Mann und ihr körperlich überlegen. Möglicherweise war er bewaffnet. Außerdem galt sein Wort mehr als ihres. Sie konnte nur verlieren. Trotzdem war es zu spät, um umzukehren. Vorsichtig lugte sie um die Ecke. Funken sprühten und in ihrem verglimmenden Licht stand eine verhüllte Gestalt. Elfrieda spürte, wie sich die Härchen an ihren Armen sträubten und ihr ein kalter Schauer den Rücken hinunterlief. Die Gestalt stand genau an der Stelle, an der die Zelle der Elbin sein musste. Sie kam zu spät.
Zitternd lehnte sie sich an die staubige Wand und schloss verzweifelt die Augen. Die schlurfenden Schritte hörte sie erst, als sie schon ganz nah waren. Erschrocken stieß sie sich von der Wand ab und huschte den Gang zurück. Wo war die letzte Nische gewesen? Ihr Herz jagte wild und drohte, ihr aus der Brust zu springen. Ihre Augen suchten die kahlen Wände nach einem Versteck ab und in ihren Ohren dröhnten die nahenden Schritte wie Trommelschläge. Bald würde er um die Ecke biegen und sie sehen. Sie fühlte sich wie eine Maus, die auf freiem Feld ein Versteck vor dem wachsamen Auge der Eule sucht. Ein Blick über die Schulter sagte ihr, dass er sie noch nicht entdeckt hatte, doch da verfingen sich ihre Füße in einem der Unterröcke. Sie stolperte, konnte jedoch gerade noch verhindern, der Länge nach hinzufallen, indem sie sich an dem Riegel einer Zellentür festhielt. Fast lautlos glitt er zurück. Die Tür öffnete sich mit einem leisen Stöhnen. Egal was hinter dieser Tür war, es konnte nicht schlimmer sein, als das, was jeden Moment um die Ecke biegen musste. Sie zog sie noch etwas weiter auf, quetschte sich hindurch und blieb regungslos stehen. Sie wusste, dass sie die Tür noch mindestens hinter sich hätte zuziehen müssen, aber irgendetwas sagte ihr, dass die verhüllte Gestalt bereits um die Ecke gebogen war und die Bewegung der Tür bemerken würde.
In der Zelle war es dunkel wie in einer Gruft. Elfrieda schob sich vorsichtig noch etwas tiefer in den Schatten und hoffte, dass sie über nichts stolperte, was sie verraten würde. Sie musste ihre Zähne zusammenbeißen, damit sie nicht laut klapperten, so sehr zitterte sie. Zweimal hörte sie noch das Klackern der Absätze auf dem rauen Steinboden, dann war es still. Elfrieda hielt den Atem an. Etwas raschelte, dann gab es einen Donnerschlag und sie stand in vollkommener Finsternis. Der graue Schatten im Türspalt war verschwunden.
Er hat mich eingesperrt, dachte sie seltsam ruhig.
Irgendwo in ihrem Kopf rebellierten ein paar verirrte Gedanken, aber sie griffen nicht über. Vollkommen von sich gelöst, sank sie zu Boden. Ihr Herz schlug ruhig und gleichmäßig, ihre Hände lagen schwer auf dem feuchten Boden.
Eingesperrt.
Sie konnte nicht sagen, wie lange sie regungslos dagesessen hatte, ehe die Starre langsam von ihr abfiel. Ob schon Abend war? Ihr Gesäß fühlte sich taub an, und die Knie schmerzten, als sie sich aufrichtete. Sie tastete sich an der Wand entlang, bis sie das kalte Eisen der Tür unter ihren Fingern spürte.
Vorsichtig drückte sie dagegen, dann mit ihrem ganzen Körper, aber die Tür bewegte sich nicht. Noch nie in ihrem Leben hatte sich Elfrieda so sehr nach einem Funken Licht gesehnt. Das Gefühl, nicht atmen zu können, wurde übermächtig. Nur mit äußerster Willenskraft gelang es ihr, einen wütenden Schrei zu unterdrücken. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben und zu überlegen.
Ruhig bleiben, überlegen, ruhig bleiben, überlegen … Ihr sonst so reger Verstand war unfähig, auch nur den kleinsten vernünftigen Gedanken zu formen. Sie stand vor der Tür, den Kopf an die kalten Eisenbeschläge gelehnt. Die Zeit rauschte vorbei oder stand still. Es war bedeutungslos. Niemand wusste, dass sie hier unten war. Wenn sie still ausharrte, würde sie hier sterben. Wenn sie sich bemerkbar machte, lief es auf das Gleiche hinaus. Als sich die erste Verzweiflung gelegt hatte, fiel ihr ein, dass die Tür nur einen Riegel gehabt hatte, kein Schloss.
Einen Riegel, kein Schloss. Sie schaukelte diesen Gedanken eine Weile. Ohne zu einem weiteren Ergebnis zu kommen, steckte sie die Hände in die Taschen ihres Rockes, um zumindest ihre kalten Finger aufzuwärmen.
Das Pergament war noch drin – und noch etwas anderes. Etwas Kleines, Hartes. Elfrieda betastete es, dann kam langsam die Erinnerung zurück. In ihrer Naivität hatte sie ein kleines Messer eingesteckt, mit dem sie die Stricke der Elbin hatte zerschneiden wollen, falls diese gefesselt war. Jetzt schüttelte Elfrieda nur den Kopf wegen ihrer Dummheit. Wenn hier unten jemand gefesselt war, dann doch bestimmt mit Ketten.
Trotzdem fühlte sich das Messer irgendwie beruhigend an. Sie holte es heraus und begann, es in jede Ritze der Tür zu schieben, die sie finden konnte. Schließlich höre sie Metall auf Metall kratzen. Sie hatte den Riegel gefunden.
Energisch drückte sie das Messer gegen den Riegel und versuchte, ihn soweit zur Seite zu schieben, wie die enge Ritze es erlaubte. Sie wusste nicht, ob sie Erfolg gehabt hatte, aber sie zog das Messer ein Stück zurück, setzte es erneut an und schob wieder.
Ihre anfängliche Freude legte sich schnell und wich sturer Beharrlichkeit. Es war Elfriedas einzige Hoffnung, und sie war nicht bereit, sie aufzugeben, solange sie noch Kraft in den Fingern hatte. Nach einiger Zeit merkte sie, dass sie vor Anstrengung schwitzte. Immer wieder wischte sie die Hände an ihrem Rock trocken.
Ihre Beharrlichkeit wurde zu Zorn, der mit der zunehmenden Taubheit ihrer Finger wuchs. Elfriedas Hand rutschte ab und sie stieß den Finger schmerzhaft gegen die schartige Tür. Ein leiser Fluch entrang sich ihrer Kehle, und dann sprang ihr – als hätte Gott selbst ihren Fluch gehört – das Messer aus der Hand. Klirrend fiel es zu Boden.
Der Grat zwischen Zorn und Verzweiflung war schmal. Tränen liefen über Elfriedas Wangen, während sie auf allen vieren den schlüpfrigen Boden nach dem Messer abtastete. Als sie es endlich fand, wusste sie, dass die Mächte sich gegen sie verschworen hatten. Der Schmerz biss sie wie ein hinterhältiges Tier, und als sie ihre Finger reflexartig zum Mund führte, schmeckte sie unter all dem Schmutz ihr Blut.
Elfrieda legte sich das Messer auf den Schoß und wickelte ihren Finger fest in einen ihrer Unterröcke ein. Während sie still da saß und darauf wartete, dass das Pochen nachließ, dachte sie an die treibenden Wolken über den Hügeln ihrer Kindheit. Würde sie sie je wiedersehen? So viele Jahre waren vergangen, so viele Wolken waren vorbeigezogen. Sie erinnerte sich an die vielen Tage, in denen der Himmel immer bedeckt gewesen war. Einheitlich grau und schwer wie Blei lag eine Wolkenschicht am Himmel, als ob sich die Welt mit ihr zugedeckt hätte und darunter trieben dunklere und hellere, größere und kleinere Wolkenfetzen im Wind. Regen, mal dick und nass, dann wieder so fein, dass er für das Auge kaum sichtbar war, rieselte aus diesen Wolken und weichte die Wiesen und Felder auf. Wenn dann aber nach Tagen ein Riss in der Wolkendecke entstand und der blaue Himmel oder gar die Sonne dahinter zum Vorschein kamen, legte sich ein Zauber über die Welt, der mit Worten kaum zu beschreiben war.
Elfrieda prüfte ihren Finger mit den Lippen und befand, dass er wieder einsatzfähig war. Tastend bewegte sie sich auf die Tür zu, zurück zu der Stelle, an der sie den Riegel vermutete.
Mit zitternden Fingern setzte sie das Messer in die Ritze, presste es fest gegen das Metall und schob, zog es zurück, setzte es an und schob. Noch einmal, und als sie es erneut gegen die Tür drückte, öffnete sie sich einen Spalt breit. Das dämmerige Licht der Lampen auf dem Gang war für Elfrieda wie das Wolkenloch ihrer Kindheit. Es erfüllte sie mit Glück und Erleichterung, mit Hoffnung und Leben. Es kam ihr vor, als hätte sie noch nie etwas Schöneres gesehen als dieses Licht.
Blinzelnd steckte sie den Kopf durch den engen Spalt. Der Gang war leer. Elfrieda lauschte, konnte aber nichts hören. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor die Tür. Der Drang nach Freiheit war stark, aber sie hatte nicht vergessen, wer in den Gängen der Verliese umherschlich. Als sie draußen stand, war ihr erster Gedanke, diesen Ort so schnell wie möglich zu verlassen. Doch dann fiel ihr die Elbin wieder ein.
Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit sie zum ersten Mal um diese Ecke gelugt hatte. Es konnte ein Augenblick oder eine Ewigkeit her sein. Die Dunkelheit der Zelle hatte sie jeden Zeitgefühls beraubt. Sie fühlte sich zum Umfallen müde. Es war früher Nachmittag gewesen, als sie hier herunterkam. Möglicherweise war es jetzt nach Mitternacht. In den Gängen war es still.
Jetzt war nicht die Zeit, um über ihre körperlichen Befindlichkeiten nachzudenken. Sie musste handeln.
An die Wand gepresst, lief sie den Gang entlang. Niemand durfte sie jetzt entdecken. Ihre Kleidung hatte in der Zelle sehr gelitten. Sie war zerknautscht und verdreckt. Den selbst geschriebenen Auftrag würde ihr kein sehender Mensch mehr abnehmen. Sie atmete schwer.
Der Gang war länger, als er aussah. Sie fühlte sich, als ob sie mindestens eine halbe Meile gelaufen wäre, aber ihrem Ziel war sie nicht viel nähergekommen. Der Raum wirkte verzerrt. Unwirklich. An der dunkelsten Stelle lehnte sie sich an die Wand, um zu verschnaufen. In ihrem Bauch prickelte es unangenehm, und als sie einen Blick zurückwarf, sträubten sich ihre Nackenhaare. Sie hatte sich keine zehn Schritte von der Ecke entfernt.
Ihre wachsende Angst drohte, in Panik umzuschlagen. Mit geballten Fäusten atmete sie noch dreimal bewusst ein und aus, dann stieß sie sich ab und lief weiter. Sie achtete nicht mehr darauf, sich versteckt zu halten, denn sie hatte keine Kraft mehr, um sie für Heimlichkeiten zu verschwenden. Wenn sie erwischt wurde, und davon ging sie aus, wollte sie vorher zumindest noch die Zelle der Elbin erreichen. Sie wollte … wollte …