Kitabı oku: «Die Schiffe der Waidami», sayfa 5

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„Von dessen Existenz du bis heute nichts gewusst hast, nicht wahr?“ Hong konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, wurde jedoch sofort wieder ernst.

„Es tut mir leid, aber irgendetwas in dir ist offensichtlich stärker verletzt worden als uns bewusst ist. Du solltest mit ihnen reden.“

„Was soll das, Hong? Meinst du wirklich, dass sie Einzelheiten über das Leben ihres Sohnes wissen wollen, der nichts anderes als ein mordender Pirat geworden ist? Dass dies der Fall ist, habe ich ihnen bei unserer Landung ja deutlich vor Augen geführt.“

Hong knurrte laut und vernehmlich und seine dunklen Augen blitzten seinen Captain voll unnachgiebiger Wut an. Er haderte kurz mit sich, doch dann ließ er seine geballte Wut heraus.

„Als ich in die Sklaverei verkauft wurde, zwang man mich, meine Frau und meine beiden Töchter zurückzulassen. Ich weiß nicht, an wen sie verkauft wurden und was aus ihnen geworden ist. Aber …“ Hong holte tief Luft und rang um seine Fassung, „… aber ich würde alles dafür geben, sie noch einmal zu sehen, alles!“ Er sah bleich und vor Wut zitternd auf die beiden Männer und wandte sich dann wieder an Jess. „Sprich mit ihnen, bevor wir das Dorf verlassen. Sie können nichts dafür, was aus dir geworden ist, genauso wenig, wie du selbst. – Tu ihnen das nicht an.“ Mit einer unruhigen Geste wischte sich Hong durch das Gesicht und verließ übertrieben hastig und voller unterdrückter Gefühle den Raum.

Jess Morgan sah ihm mit nachdenklicher Miene hinterher. Er ließ die Empfindungen von Wut und schmerzhaften Erinnerungen zurück. Hong würde niemals mehr die Gelegenheit erhalten, seine Familie noch einmal zu sehen. Ihm hatte man diese Möglichkeit förmlich vor die Füße geworfen. Aus welchem Grund auch immer konnte er jetzt einen Teil seiner Vergangenheit kennenlernen. Es waren seine Eltern. Das konnte Jess nicht nur sehen, das spürte er auch umso deutlicher, da die Strömungen von einer Gewaltigkeit waren, die sonst nur der Natur innewohnte. Es erinnerte ihn an die unerbittlichen Strömungen der Gezeiten. Keine Macht der Welt konnte das Wasser davon abhalten, sich dem unergründlichen Rhythmus der Natur zu unterwerfen. Die Strömungen der beiden waren faszinierend und doch quälten sie ihn; sie waren verlockend und doch ängstigten sie ihn.

Er wollte ihnen nachgeben, doch fürchtete er damit eine Niederlage.

Er wollte vor ihnen flüchten, doch fürchtete er damit einen Verlust.

Jess lag in der Koje und starrte aufgewühlt an die Decke. Seine Hand tastete nach der Wand der Kajüte, und er empfing erleichtert die klaren Linien der Monsoon Treasure in seinen reizüberfluteten Empfindungen.

Ruhig schob sie sich die Treasure zwischen den Wirrwarr in seinem Inneren und erklärte die Niederlage zum Sieg.

Jede Welle, die gegen ihren Rumpf schlug, gab sie an Jess Morgan weiter. Eine Welle folgte der anderen in gleichbleibender Beharrlichkeit und doch glich keine der anderen, so wie kein Tag und keine Begegnung der anderen glichen. Alles brachte neue Erfahrungen mit sich, neue Möglichkeiten, und Jess traf eine Entscheidung.

Langsam löste er seine Hand und brauchte einen Moment, um zu bemerken, dass Cale immer noch geduldig in seiner Kajüte stand. Er räusperte sich verlegen, bevor er sich zögerlich an seinen Freund wandte: „Sag ihnen, dass ich sie aufsuchen werde, bevor wir das Dorf verlassen.“

*

Es hatte zwei weitere lange Tage gedauert, bis die Monsoon Treasure endlich wieder vollständig hergestellt war. Jess kämpfte mit seiner Ungeduld. Durch die schleppend vorangegangene Reparatur verzögerte sich die Heilung der Wunde. Missmutig musste Jess sich damit abfinden, dass er zwar bereits alleine die Kajüte verlassen konnte, aber doch noch recht schnell ermüdete.

Heute früh hatte ihm sein Schiffszimmermann Patrick McPherson endlich mitgeteilt, dass sie die Reparaturarbeiten an der Treasure abgeschlossen hatten. Anschließend hatten sie den Dreimaster mit Hilfe der Fischer wieder ins Wasser geschleppt. Dem Verlassen der Insel stand damit nichts mehr im Wege. Unglückseligerweise war Hong dabei gewesen und hatte Jess nochmals unmissverständlich darauf hingewiesen, dass er den Fischern ein Versprechen gegeben hatte. Jess wunderte sich über sich selbst. Jetzt saß er hier in seiner Kajüte und schob diese Begegnung vor sich her. Ihm war nicht ganz klar, warum er sich damit so schwer tat, schließlich konnten ihm die beiden völlig gleichgültig sein. Aber zu seinem Erstaunen waren sie ihm nicht so gleichgültig, wie er es sich gewünscht hätte. Das kurze Aufblitzen der Bilder aus vergangenen Tagen war nicht zurückgekehrt; die vermeintlichen Erinnerungen verblasst, und doch hatte er das unsinnige Gefühl, ihnen etwas schuldig zu sein. Jess schnaubte ärgerlich, er wollte diesen Ort und diese Menschen so schnell wie möglich verlassen. Die Strömungen seiner Eltern waren unerträglich und erfüllten ihn mit ungeahnten Empfindungen. Jess atmete tief ein und erhob sich, um sich endlich diesen Menschen zu stellen.

*

Cale sah überrascht von seinem Gespräch mit Jintel auf, als Jess Morgan das Deck betrat und für einen Moment vor dem Schott verharrte, um die frische Luft in seine Lungen zu saugen. Als er den Blick seines Freundes bemerkte, ging er trotz einer leichten Schwerfälligkeit gelassen auf ihn zu.

„Ich werde jetzt zu den Fischern gehen. Wenn ich wieder zurück bin, werden wir auslaufen. Lass alles klar machen.“

Cale bemerkte die ungewöhnliche Unsicherheit in der Stimme seines Freundes, beschloss aber nicht darauf einzugehen.

„Aye, Sir. – Und viel Erfolg, Captain.“

Der innere Kampf, der in Jess tobte, war deutlich zu sehen, als er in das Beiboot abenterte und sich von Finnegan an den Strand rudern ließ. Cale hatte Jintel neben sich völlig vergessen und verfolgte mit seinen Blicken, wie Jess aus dem Boot stieg und dann mit schweren Schritten über den Strand auf die Hütte seiner Eltern zuging. Nur wer ihn genau kannte, konnte bemerken, dass seine Bewegungen leicht verkrampft wirkten. Jeder einzelne Schritt kostete ihn übermenschliche Überwindung. Es war offensichtlich, dass Jess am liebsten umgekehrt wäre, um ohne viel Aufhebens die Insel zu verlassen. Cale erinnerte sich an die Worte von Hong, der vermutetet hatte, dass hier eine viel tiefere Verletzung entstanden war, als ersichtlich. In all den Jahren hatte er seinen Captain nicht in solch einem verwirrten Zustand erlebt, und dies gab ihm ein wenig zu denken. Ausgerechnet jetzt, wo sie sich dazu entschlossen hatten, sich von den Waidami zu trennen, konnten sie es sich nicht leisten, dass sich die Entscheidungen von Jess Morgan durch Gefühle beeinflussen ließen.

„Cale? Hörst du mir überhaupt noch zu?“ Die Stimme von Jintel riss Cale aus seinen Überlegungen, und er bemerkte, dass er immer noch Jess hinterher starrte, der inzwischen die halbe Distanz zur Hütte geschafft hatte. Als sich die Tür der Hütte öffnete und die Frau des Fischers heraustrat, konnte Cale nicht anders, als Jintel mit einer unwirschen Geste zum Verstummen zu bringen und das Geschehen weiter gebannt zu verfolgen.

Als Jess die Frau erblickte, die ihm mit großen Augen entgegensah, blieb er abrupt stehen. Cale konnte sehen, wie er seinen Körper streckte, so wie er es oft tat, bevor er sich in einen Kampf stürzte, und dann entschlossen weiterging. Die Frau blickte ihn nur stumm an und trat dann einen Schritt zur Seite, um Jess Morgan an sich vorbei in das Innere der Hütte treten zu lassen.

Sie folgte ihm, schloss die schmucklose Tür hinter sich und sperrte den enttäuschten Beobachter sanft, aber bestimmt aus dem weiteren Geschehen aus.

*

Jess stockte für einen Moment, als die Frau aus der Tür trat. Sie sah ihn stumm an, und er hatte den Eindruck, gegen eine verzweifelte Fülle von überwältigenden Gefühlen angehen zu müssen. Ihre Strömungen schrien ihm bereits die ganze Zeit, selbst über die Entfernung zwischen Hütte und Schiff, entgegen. Aus der unmittelbaren Nähe schnürten sie ihm den Atem ab und bedrängten ihn auf eine Weise, die ihm unheimlich war. Doch die Frau sagte kein Wort. Diesmal schien sie auch nicht in Tränen ausbrechen zu wollen. Als er weiter auf sie zuging, wich sie ein wenig zur Seite und ließ ihn vorbei, um in das Innere der Hütte treten zu können.

Als er an ihr vorbeigeschritten war, schloss sie leise die Tür.

„Willkommen“, sagte sie schlicht und deutete auf einen einfachen Tisch, der in der Nähe der Feuerstelle aufgestellt war.

Jess ließ seinen Blick durch die Hütte wandern, die überraschend geräumig und großzügig ausgestattet war. Die Feuerstelle bestand aus einem ordentlich gemauerten Kamin, in dem ein kleines Feuer unter einem Topf brannte. Sein Vater lehnte lässig mit verschränkten Armen daneben und betrachtete ihn abwartend. Jess nickte ihm zu und entdeckte ein Stück weiter den gewundenen Absatz einer breiten Treppe, die in das obere Stockwerk führte.

Sie scheinen keine armen Fischer zu sein, dachte er anerkennend, als er zwei Türen entdeckte, die in weitere Räume führten. Alles war sauber und ordentlich und an den Wänden standen verzierte Schränke, die sogar mit einigen Gegenständen geschmückt waren.

„Danke.“ Jess setze sich auf einen dargebotenen Stuhl und fragte sich, wie sich diese unangenehme Situation wohl weiter entwickeln würde.

„Wir danken dir, dass du uns tatsächlich aufsuchst, bevor du mit deinen Männern die Insel verlässt.“ Sein Vater hatte eine wohltönende und dunkle Stimme. Jess sah offen in das von Wind und Wetter gezeichnete Gesicht.

„Ich habe für die Hilfe bei der Reparatur der Monsoon Treasure zu danken. Ohne die Hilfe eurer Fischer wären wir nicht so schnell fertig geworden.“ Dankend nahm er einen hölzernen Becher entgegen, in dem ein leichter Gewürzwein funkelte, und tat einen kurzen Schluck daraus.

„Kannst du dich an uns erinnern?“ Die helle Stimme der Frau ließ Jess seine Aufmerksamkeit wieder ihr zuwenden. Sie hatte leise gesprochen und doch schlug die Gewichtigkeit der Frage wie eine Kanonenkugel ein. Seine Augen suchten ihre, die ihn umschlangen und in einer Art fesselten, die ihm unangenehm war.

„Nein!“ Jess schüttelte den Kopf und beobachtete, wie ihre Hände den Krug, den sie umklammerten, noch fester packten und an ihren Körper pressten. „Ich habe nur Erinnerungen ab dem Zeitpunkt, an dem ich Captain der Monsoon Treasure geworden bin. – Und das ist fünfzehn Jahre her.“

„Das kann nicht sein, dann wärst du mit zehn Jahren Kapitän geworden.“ Erregt griff sein Vater nach einem Stuhl, zog ihn zu sich heran und setzte sich darauf.

„Es kann sein, denn ich bin ein Kapitän der Waidami.“ Jess spie beinahe jedes Wort hervor und zog sein Hemd mit beiden Händen leicht auseinander. Der Fischer und seine Frau starrten ungläubig auf die Tätowierung. Die Frau murmelte leise vor sich hin und bekreuzigte sich dann langsam.

„Das erklärt also auch, warum du diese Verletzung überlebt hast und so schnell wieder gesund geworden bist. Zudem siehst du aus, als wärest du gute zehn Jahre älter.“ Sein Vater betrachtete ihn ruhig. „Du bist die Schöpfung ihrer heidnischen Seher und führst blind ihre Befehle aus, nicht wahr?“

„Ein Menschenleben bedeutet mir nichts, wenn du das wissen möchtest. Schließlich seid ihr selbst Zeuge davon geworden.“ Jess beugte sich leicht zu dem Fischer hinüber und starrte ihn provozierend an.

„Ein Menschenleben muss dir etwas bedeuten, denn sonst wärst du nicht hier, oder?“ Wieder drängte sich die Stimme der Frau dazwischen und sie sah ihn flehentlich an. „Du bist hier, weil wir förmlich darum gebettelt haben, dich zu sehen. - Warum sollte ein gemeiner Pirat sonst ein paar Fischer aufsuchen?“

Jess seufzte und schüttelte den Kopf. Langsam schob er den Stuhl zurück und erhob sich.

„Ich denke, es ist besser, wenn ich wieder gehe.“ Ohne einen weiteren Blick auf die enttäuschten Gesichter zu werfen, ging er auf die Tür zu und öffnete sie. Dankbar fühlte er die Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht und den erfrischenden Wind auf der Haut, als er aus der Hütte trat.

„Jess!“ Die Stimme war nur ein Hauch und doch besaß sie eine Kraft, dass sich Jess Morgan nach ihr umdrehte. Die Frau trat auf ihn zu und hob ihre Arme, um ihn zu umarmen, hielt dann aber in dem Bewusstsein der Unmöglichkeit ihres Vorhabens inne.

„Werden wir dich jemals wiedersehen?“

„Wozu sollte das gut sein?“ Jess schüttelte hart den Kopf und blickte distanziert zu ihr herab. Er erkannte, dass sie fast einen ganzen Kopf kleiner als er war, als sie dicht vor ihn trat. Sie sah ihn einfach nur an. Kein Wort drang mehr über ihre Lippen, keine Regung stand in ihre schönen Augen geschrieben und doch brach ihre verzweifelte Sehnsucht über Jess Morgan herein und bezwang ihn. Sehnsucht und Verzweiflung waren ihm schon unzählige Male begegnet, doch die Erkenntnis, dass diese Gefühle allein und bedingungslos ihm galten, zwang ihn in die Knie. Erstaunt spürte er, wie Mitgefühl sich in ihm regte, und er hielt ihr in einer schlichten Geste seine Hand entgegen.

Seine Mutter ergriff sie und presste sie kurz und hingebungsvoll an ihre Wange. Ihre Berührung war leicht wie ein Hauch und doch brachte sie voller Kraft eine Wärme mit sich, die in Jess drang und ihn für einen Moment durchströmte. Als sie seine Hand aus ihren Fingern gleiten ließ, trat sie einen Schritt zurück und blieb vor der breiten Brust ihres Mannes stehen, der unbemerkt dazu getreten war.

„Leb wohl.“ Ihre Stimme war mit neuer Kraft gefüllt, als sie nach den Händen des Fischers griff und diese wie einen schützenden Umhang um sich zog.

„Du sollst wissen, dass du jederzeit willkommen bist, wenn du in Frieden hierher kommst.“ Sein Vater sah Jess an und nickte ihm anerkennend zu.

„Lebt wohl.“ Jess wandte sich ab und ging den Strand hinab.

Seine Stiefel hinterließen flache Abdrücke im trockenen Sand, die der Wind bald davon geweht haben würde, aber die Spuren dieser Begegnung verewigten sich für immer und hinterließen Abdrücke, deren Ausmaße nicht vorhersehbar waren.

*

Als Jess aus der Hütte trat, richtete sich Cale aufgeregt auf. Seit Jess in das Haus gegangen war, hatte er gewartet, sich auf der Reling abgestützt und Vermutungen darüber angestellt, was darin wohl geschehen würde. Die fast rührselige Abschiedsszene rief Unglauben in ihm hervor, und Cale hatte Mühe, sich darauf zu konzentrieren, die Befehle zum Auslaufen zu geben.

„Er wird nicht mehr derselbe sein.“ Hongs düstere Worte ließen Cale herumfahren, und er sah den Chinesen verständnislos an.

„Was meinst du?“

„Captain Jess Morgan ändert sich. – Das meine ich.“ Die dunklen Augen schienen erfüllt von heimlichem Wissen und verfolgten regungslos, wie Jess sich dem Beiboot näherte, vor dem Finnegan geduldig wartend im Sand saß. „Du wirst sehen, wir lösen uns nicht nur von den Waidami, sondern auch von unserer alten Lebensweise.“ Seine Augen richteten sich bedeutungsvoll auf Cale und der Chinese nickte ihm ernsthaft zu.

Cale legte die Stirn in Falten und rief Jintel Befehle zu, damit dieser alles zum Auslaufen klarmachte. Das Boot glitt unter den kräftigen Ruderschlägen von Finnegan schnell näher, und Jess enterte müde das Fallreep hinauf. Der Erste Maat sah mit Besorgnis, dass die Miene seines Freundes von neuen Erfahrungen gezeichnet war, als er die Planken der Treasure betrat.

„Kurs Changuinola, Cale. – Es wird endlich Zeit, unseren alten Kurs wieder aufzunehmen.“

Seher

„Ich werde ab sofort deine Ausbildung zum Seher übernehmen. Du wirst hier eine der Höhlen beziehen.“

Bairani stand in seiner Höhle und betrachtete Torek, wie dessen blassblaue Augen sich weiteten und seine Kinnlade herabfiel. Der leicht geöffnete Mund, der viel zu groß für das Gesicht wirkte, verlieh dem Jungen einen dummen Ausdruck. Der Seher lächelte still in sich hinein. Dumm war der Junge wirklich nicht. Dies war eine ungewöhnliche Gelegenheit für Torek, der aufgrund seiner schlaksigen und unbeholfenen Gestalt von den anderen Jungen des Dorfes verlacht wurde. Er würde diese Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen und schnell lernen, seine neue Position für sich zu nutzen. Bairani genoss den Gedanken, den Jungen formen zu können.

„Ich möchte aber erst, dass du mir deine Visionen zeigst. Komm her zu mir, mein Junge.“ Bairani hob fordernd die Hand, um sie Torek zwischen die Augen zu legen. Sobald seine Finger die leicht schwitzige Haut berührten, wurde er von einem gewaltigen Strom von Bildern bedrängt. Sie stürzten unkontrolliert wie eine Lawine auf ihn herein, die sich an den Hängen des Vulkans löste und ungebremst in die Ebene polterte. Der Oberste Seher atmete tief durch und konzentrierte sich darauf, eine leichte Barriere zu bauen, um dahinter die Visionen zurückzuhalten. Dann erschuf er einen kleinen Durchgang, durch den er jedes Bild einzeln passieren ließ. Überwältigt betrachtete er die nicht endenwollende Flut. Was er da sah, übertraf seine größten Erwartungen, der Junge sammelte offensichtlich die Visionen sämtlicher Seher in sich. Nie zuvor hatte er so etwas gesehen. Er sah Bilder aus der Vergangenheit, die für ihn zum gegenwärtigen Zeitpunkt völlig uninteressant waren. Gefolgt wurden diese von Geschehnissen, die jetzt stattfanden, und Bairani sah schon etwas genauer hin. Aber auch an diesen Bildern verlor er bald das Interesse. Dann endlich kamen Bilder aus der Zukunft. Eines zeigte Torek in der Kleidung der Seher, wie er neben ihm selbst stand und die anderen Seher sich vor ihnen verneigten. Ein Strudel von Bildern folgte, und Bairani erstarrte erschrocken. Es war einfach unbeschreiblich. Dieser Junge schaffte, was sonst keinem gelang. Visionen von anderen Sehern waren bisher keinem möglich gewesen, da sie viel zu viele andere Bilder mit sich brachten. Doch für Torek schien es kein Problem darzustellen. Stattdessen wurden diese Bilder von einem plötzlichen Machtgefühl begleitet, das Torek wie ein Fluss durchströmte, dessen Quelle gerade erst entdeckt worden war. Bairani musterte den Jungen genauer, und der merkwürdige Glanz, der in dessen Augen getreten war, bestätigte seine Vermutung, dass Torek nur zu gerne zu einem treuen Anhänger von ihm werden würde.

Eine gewaltige Vision drängte Bairanis Gedanken beiseite und er widerstand nur mühsam dem Impuls, davor zurückzuweichen. Er sah sich unter dem großen Felsenbogen stehen, der in die Höhlen führte. Sein Blick war auf jemand oder etwas vor ihm gerichtet, als plötzlich Jess Morgan am Rande der Szene auftauchte. Er schleuderte etwas nach ihm und brach dann zusammen. Bairani wollte erst jubeln, als er sah, wie er sich selbst an den Hals griff und mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden stürzte. Mit einer panischen Bewegung riss er überrascht die Hand von Toreks Stirn. Das Bild war fort, doch hatte es etwas zurückgelassen, mit dem der Oberste Seher für den Moment vollkommen überfordert war. Er ignorierte die zusammensinkende Gestalt Toreks. Sein Herz raste und Bairani schluckte schwer. Nachdenklich betrachtete er Torek, der sich mühsam aufrichtete. Sein Mund war völlig ausgetrocknet. Zitternd griff Bairani nach einem Becher, der in einer Nische in der Wand stand. Gierig trank er und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Konnte es möglich sein, dass … Nein, keine Vision war endgültig, es gab immer wieder Möglichkeiten, dass sich alles änderte.

Torek war inzwischen wieder ganz auf die Beine gekommen und lehnte schweratmend an der Höhlenwand. Er hielt seine Augen geschlossen und war blass geworden.

„Hol jetzt deine Sachen, Torek. – Und kein Wort zu irgendjemand über deine Visionen, hörst du?“ Bairani hielt den Jungen am Arm fest, als er an ihm vorbeigehen wollte und sah ihm beschwörend ins Gesicht. „Lass niemanden in deine Visionen blicken außer mir. Du hast eine so große Gabe, wie leicht würde jemand diese für sich nutzen wollen. Jeder wird auf dich eifersüchtig sein, wenn er erst erfährt, was du wirklich kannst.“ Er schüttelte bedauernd den Kopf. „Selbst ein Mann wie Tamaka gab dem Gefühl des Neides nach und tötete den armen Ronam und seine unschuldige Tochter. Sei also auf der Hut - selbst vor deinen Eltern.“

Torek sah ihn verständnislos an und nickte verwirrt, bevor er die Höhle verließ. Der Oberste Seher sah ihm hinterher. Wenn der Junge lernte, mit diesen Visionen umzugehen, dann war er davon überzeugt, dass er sie auch ganz gezielt heraufbeschwören konnte. Er würde alle anderen Seher ersetzen können, zumindest die, die langsam begannen, lästig zu werden. Schon länger regte sich unterschwelliger Widerstand bei einigen Sehern, die nicht damit einverstanden waren, dass er immer mehr Schiffe bauen ließ und sie fortschickte, um andere Handelsfahrer zu überfallen. Ronam war der Schlimmste gewesen, der ihn noch vor der letzten Sichtungszeremonie unbedingt zur Rede hatte stellen müssen. Doch er war kein Problem mehr, dachte er mit grimmigem Lächeln.

Bairani kam ein plötzlicher Gedanke, und er ging zu einer mit einem schweren roten Vorhang abgetrennten Nische auf der anderen Seite der Höhle. Entschieden schob er den Vorhang zur Seite und betrachtete die gigantische Truhe, die dahinter verborgen stand. Ihre Wände waren aus Stein gemeißelt und lediglich der Deckel bestand aus einem dunkel glänzenden Holz, in dessen Mitte das Abbild eines Vulkans mit großer Kunstfertigkeit geschnitzt worden war. Bairani fixierte misstrauisch die Truhe, die er niemals zuvor geöffnet hatte. Einen Moment stand er so völlig unbewegt da, bis er sich einen Ruck gab und mit beiden Händen den schweren Deckel öffnete. Die Truhe war seit ewigen Zeiten nicht mehr geöffnet worden, trotzdem war nicht das kleinste Geräusch zu hören, als sich der Deckel bewegte. Bairani atmete angestrengt und besah sich den Inhalt. Eine Vielzahl von Pergamentrollen kam zum Vorschein, doch sein Blick wurde von einer einzelnen Rolle wie magisch angezogen. Sie war vergilbt. Das Band, das sie zusammenhielt, war ausgeblichen und erinnerte nur noch schwach an die einstmals wohl intensive rote Farbe. Bairani leckte sich über die Lippen und griff voller Ehrfurcht in die Truhe, um das Pergament an sich zu nehmen.

*

Torek lief den Hang hinunter als könnte er fliegen. Die Erschöpfung war wie fortgeblasen. Sein Lauf wurde von dem unglaublichen Gefühl beflügelt, von Bairani zu seinem Schüler gemacht worden zu sein. Bairani wollte ihn unterrichten!

Torek sprang, rannte und jubelte innerlich, denn er wagte nicht laut zu jubeln, aus Angst, gehört zu werden.

Er sei etwas ganz Besonderes, hatte der Oberste Seher gesagt. Seine Mutter würde so stolz auf ihn sein.

Der Junge stoppte unvermittelt seinen Lauf, als er die schlanke Gestalt von Recam erkannte, der ihm mit Longin und Furbin entgegenkam. Er schluckte nervös und vergaß seine Euphorie mit einem Schlag. Sie hatten ihn entdeckt und das bedeutete in der Regel nichts Gutes. Schon verzog sich das markante Gesicht des großen Jungen zu einem freudigen Lächeln, als er ihn sah. Er stieß mit den Ellbogen Furbin an, der ihn im gleichen Moment entdeckte, aber reaktionsschnell mit einer beiläufigen Bewegung den Arm seines Freundes aufhielt.

Geh weiter! Lass dich bloß nicht einschüchtern. Es war sowieso zu spät, wenn sie ihn erst einmal gesehen hatten.

Langsam ging Torek weiter. Hinter den Jungen konnte er schon das Dorf sehen, vielleicht kam er ja doch noch an ihnen vorbei. Longin drehte sich um, um ebenfalls zum Dorf zu blicken. Seine schulterlangen Haare flogen durch die Geschmeidigkeit seiner Bewegung um seinen Kopf wie schwarze Federn.

Torek prüfte, ob sie weit genug weg waren, um kein Aufsehen zu erregen. Er nagte nervös an seiner Unterlippe, während er zögerlich weiterging.

Als sie kurz darauf aufeinandertrafen, versperrten sie ihm wie erwartet den Weg und schauten ihn herablassend an.

„So allein in den Höhlen gewesen, Kleiner? Darfst du das denn schon?“ Recam sah ihn hinterhältig an und richtete seinen beeindruckend breiten Oberkörper kerzengerade auf, um noch größer zu erscheinen.

„Ein Seher darf gehen, wohin er will!“, antwortete er leise und zog den Kopf eingeschüchtert zwischen die Schultern, als Recam belustigt auflachte.

„Ein Seher, habt ihr das gehört?“ Longin hielt sich den Bauch vor Lachen, und seine mädchenhaft feinen Gesichtszüge verzogen sich zu einer komischen Grimasse.

Furbin stimmte in das Lachen seiner Freunde nicht mit ein, sondern hob in gespieltem Misstrauen eine Augenbraue.

„Wenn du ein Seher bist, hast du bestimmt auch das Schlammbad gesehen, das du gleich nehmen wirst?“

Toreks Herzschlag setzte für einen Augenblick aus, und er wich zurück, während das Lachen von Recam und Longin immer lauter wurde. Er wehrte sich nicht, als sie ihn an den Armen packten und unter lautem Johlen mit sich zerrten. Seine Wangen brannten vor Scham, aber es hatte einfach keinen Zweck. Sie waren ihm an Körpergröße und Kraft weit überlegen, auch wenn sie genauso alt wie er waren. Es amüsierte sie nur noch mehr, wenn er seine lächerlichen Versuche unternahm, ihnen zu entkommen.

Sie schleppten ihn nicht lange durch den Dschungel, sondern blieben schon bald am Rande einer schlammigen Pfütze stehen, die die lang zurückliegenden Regenfälle bis jetzt überdauert hatte.

„Möchte der Seher uns noch irgendetwas sagen?“ Recam schob sich vor ihn und grinste, als Torek den Kopf leicht hob, um ihm ins Gesicht sehen zu können.

Ein Bild von eindringlicher Klarheit schob sich plötzlich in Toreks Kopf. Recam, wie er als Wächter der Seher gekleidet und um einige Jahre älter mit einer tödlichen Wunde im Bauch zusammenbrach.

Diese Vision schleuderte das Hochgefühl, das ihn begleitet hatte, bis er den Jungen begegnet war, um ein Vielfaches intensiver zurück und vertrieb die Erniedrigung. Torek straffte seine Schultern und reckte trotzig sein Kinn. Er konnte sich das Grinsen nicht verkneifen, als er das Erstaunen in den Gesichtern der anderen sah.

„Ja, ich möchte dir etwas sagen, Recam, denn ich habe deinen Tod gesehen. Vielleicht möchtest du wissen, wie du sterben wirst?“

Die Selbstsicherheit Recams zerbröckelte von einem Wimpernschlag auf den anderen, und er wurde blass. Furbin packte Torek nach einer Schrecksekunde schmerzhaft am Arm und stieß ihn, gröber als sonst, in den Schlamm. Torek versuchte mit ein paar stolpernden Schritten, den Sturz aufzuhalten, fiel aber laut klatschend in den Dreck.

Es war ihm egal! Ein irres Lachen drang aus seinem Mund, das ihn selbst überraschte und völlig fremd klang. Diesmal lachte er! Torek drehte sich gelassen um und setzte sich mit ausgestreckten Beinen in den Schlamm.

Recam und die anderen standen immer noch am Rand der Pfütze und sahen ihn völlig entsetzt an.

„Du bist ja wahnsinnig!“ Longin spie ihm die Worte wütend entgegen und ging langsam rückwärts.

„Das mag sein, aber er ist in wenigen Jahren tot, der große Krieger!“ Torek lachte nun, dass ihm die Tränen aus den Augen quollen. Mit Genugtuung verfolgte er, wie Longin und Furbin den erstarrten Recam an der Schulter packten und eilig mit sich in den Dschungel zogen.

„Nur noch wenige Jahre, Recam. Und du wirst bei dem jämmerlichen Versuch sterben, ein paar Seher zu retten!“ Das Lachen schüttelte inzwischen seinen ganzen Körper. Torek atmete mehrmals tief durch, um sich zu beruhigen.

Sie werden mich nicht nochmal quälen, dachte er und stand auf. Den Schlamm wischte er dabei so gut es ging von seiner Kleidung. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich stark. Nachdenklich betrachtete er seine schmalen Hände, die an viel zu langen und viel zu dünnen Armen saßen. Seine Stärke war unübersehbar nicht körperlicher Art, aber immerhin so mächtig, dass ein Mann wie der Oberste Seher großes Interesse daran zeigte. Denn, dass das Interesse über das normale Maß an einem Schüler hinausging, hatte er sehr wohl bemerkt, als er gerade bei Bairani gewesen war. Und das würde er für sich nutzen.

Torek stieg mit neu erwachtem Stolz aus der Pfütze heraus. Er setzte seinen Weg laut jubelnd fort, denn diesmal durfte ihn jeder hören.

*

Nolani schaute verwundert auf, als sie aus der Hütte trat, um ihrem Mann und Durvin zwei Becher mit Batava zu bringen. Lautes Singen schallte den Weg herab. Es war unzweifelhaft die Stimme ihres Sohnes.

„Was ist denn mit Torek?“ Der Seher runzelte leicht die hohe Stirn und sprach damit laut aus, was auch Nolani durch den Kopf ging. Sie konnte sich nicht daran erinnern, ihn je so ausgelassen singen gehört zu haben.

Shemar schaute schweigend in die Richtung des Gesangs, aus der sich sein Sohn mit weitausgreifenden Schritten rasch näherte.

„Vielleicht hat er gute Neuigkeiten. Bairani hat heute Morgen nach ihm geschickt.“ Er sprach ruhig, trotzdem veranlasste Durvin ein merkwürdiger Unterton darin, erst Shemar und dann Nolani mit einem langen Blick zu betrachten.

„Er ist ja voller Schlamm!“ Nolani riss erstaunt die Augen auf und ging Torek einige Schritte entgegen. „Was ist passiert, Torek? Bist du wieder Recam und seinen Freunden begegnet?“ Sie machte eine Pause, in der sie Luft holte, um ihre Tiraden fortsetzen zu können. „Ich verstehe das wirklich nicht, ihr vier seid doch zusammen aufgewachsen.“ Nolani stemmte die Fäuste in ihre stämmigen Hüften und ignorierte, dass Toreks Miene sich abrupt verdunkelte und er seinen Gesang einstellte. Er zog seinen Kopf leicht ein, und seine blassen Augen wanderten von einem zum anderen.

„Hallo, Durvin.“

„Torek!“ Durvin lächelte den Jungen freundlich an, und auch sein Vater schenkte ihm ein Lächeln, in dem jedoch auch unverkennbar gutmütiger Spott saß.

„Wie kommst du zu einem Schlammbad, mein Junge?“

Nolani presste vor Ärger die Lippen fest aufeinander. Natürlich fanden beide Männer es wieder höchst amüsant, dass Torek mit den anderen aneinandergeraten war. Ihr Mann vertrat sowieso die Meinung, dass Torek zu weich war und noch lernen musste, sich durchzusetzen. Nolani verdrehte innerlich die Augen und warf einen Blick auf Shemar, der nun mit vor der Brust verschränkten Armen seinen Sohn betrachtete. Er war jetzt fünfzig Jahre alt. Langsam schlich sich das Alter herbei und hinterließ seine noch unauffälligen Spuren auf seinem Körper und in seinem Gesicht. Seine Figur war immer noch stattlich, und er war voller Hingabe und Stolz ein Wächter der Seher, wie er es auch bereits als junger Mann gewesen war.

Die Stimme ihres Sohnes riss sie aus ihren Gedanken, und sie sah wieder zu ihm, als er erst stockend und mit offensichtlicher Scham von der Begegnung berichtete. Doch dann änderte sich schlagartig etwas in seiner Haltung. Torek richtete sich kerzengerade auf, und ein schadenfrohes Grinsen überzog sein Gesicht.

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