Kitabı oku: «Die Schiffe der Waidami», sayfa 6
„… und dann hatte ich die Vision von Recams Tod und habe ihm davon erzählt.“
Nolani überkam ein leichter Schwindel, als sie die Begeisterung in seiner Stimme hörte und das boshafte Leuchten, das in seine Augen getreten war. Was geschah da mit Torek?
Gerade lachte er unnatürlich laut auf und berichtete voller Genugtuung, dass Recam förmlich vor ihm geflüchtet war. Für einige Augenblicke herrschte Schweigen, in denen Nolani nicht wusste, wie sie reagieren sollte und ihr Mann einen langen Blick mit Durvin tauschte.
„Du hättest Recam nicht mit der Vision erschrecken dürfen. Ein Seher nutzt seine Fähigkeiten nicht dazu, um andere zu verletzen.“
„Er hat es verdient.“ Torek schob trotzig die Unterlippe vor und begegnete ihrem Tadel mit einem düsteren Blick.
„Visionen zu erhalten ist eine große Verantwortung, mit der man erst lernen muss umzugehen. Du musst stets überlegen, was für Auswirkungen die Offenbarung haben kann und dies vorher gut abwägen. – Du hast ungewöhnlich klare Visionen für dein Alter, Torek. Das bedeutet auch eine große Macht, mit der du viel Schaden anrichten kannst.“ Durvin lächelte immer noch freundlich und neigte sich mit erhobener Hand zu Torek. „Lass mich an deinen Visionen teilhaben, damit ich sie für dich ordnen kann, und ich werde dir sagen, welche du nicht mitteilen solltest.“
„Oh nein, auf keinen Fall!“ Torek hob abwehrend die Hände und starrte Durvin misstrauisch an. „Der Oberste Seher hat mich davor gewarnt, meine Visionen mit jemand anderen als ihm zu teilen. Er hat gesagt, dass andere Seher meine Visionen als die ihren ausgeben könnten. Außerdem wird er mir alles beibringen, was nötig ist. Deshalb hat er mich auch heute zu sich gerufen.“ Er lächelte triumphierend. Nolani fuhr ein schmerzhafter Stich durchs Herz, während Durvins Arm plötzlich kraftlos auf den Tisch sank.
Shemar erhob sich und legte seinem Sohn eine Hand auf die Schulter. Schmerzhaft erkannte Nolani, dass er sich dazu zwang, eine beeindruckte Miene aufzusetzen.
„Das ist eine große Neuigkeit, Torek. Ich bin stolz auf dich, und ich hoffe, dass du dir deiner Verantwortung umso mehr bewusst bist, da es seit Generationen keinen Schüler mehr beim Obersten Seher gegeben hat.“
Toreks Trotz verschwand spurlos, und er nickte ehrfürchtig.
„Ich werde gut auf den Obersten Seher hören, das verspreche ich.“
Genau das befürchte ich, dachte Nolani. Ihr Herz wurde schwer. Am liebsten hätte sie Torek in die Arme gezogen, um ihn wie ein kleines Kind vor der drohenden Gefahr zu schützen. Doch ihr waren nicht die warnenden Blicke von Shemar entgangen, und sie hielt sich zurück.
Torek wandte sich eifrig an seinen Vater.
„Du hast doch früher Seher auf ihre Reisen begleitet. Was habt ihr so gemacht, und wen hast du überhaupt beschützt? War es Durvin?“ Torek blickte kurz zu dem untersetzten Seher.
„Nein.“ Shemar schüttelte den Kopf und strich sich eine einzelne weiße Strähne, die sich zwischen die dunklen Haare verirrt hatte, zurück. „Ich war der Wächter von Tamaka.“
„Der Mörder!“ Torek zischte die Worte wütend hervor.
Nolani schlang ihre Hände ineinander, als könnte sie sich selbst damit Halt geben, während sie besorgt die Stimmungswechsel ihres Sohnes verfolgte.
„Du solltest nicht alles glauben, was du im Dorf hörst!“ Shemar hob verärgert eine Augenbraue und trat einen Schritt zurück.
„Willst du damit sagen, dass Bairani lügt? Er hat auch gesagt, dass Tamaka Ronam und seine Tochter getötet hat.“ Torek hatte eine angriffslustige Haltung angenommen und starrte abwechselnd seinen Vater und Durvin an.
Wieso siehst du nicht in deinen Visionen nach, was hält dich davon ab, die Wahrheit selbst zu sehen? Nolani widerstand der Versuchung, Torek aufzufordern, genau dies zu tun. Bairani hatte offensichtlich bei seinen zwei Treffen mit Torek bereits großen Einfluss über ihn gewonnen.
„Nein, natürlich nicht.“ Shemar antwortete langsam und dehnte jedes Wort unnatürlich aus, während er Torek ansah, als hätte er einen völlig Fremden vor sich stehen.
Sein Sohn nickte beruhigt und sah dann an sich herunter, als bemerkte er erst jetzt, dass seine Kleidung immer noch voller Schmutz war.
„Ich werde mich jetzt erst einmal waschen. Dann packe ich meine Sachen zusammen. Bairani möchte, dass ich oben in den Höhlen wohne.“
Das Lächeln, das den Worten folgte, zog Nolani den Boden unter den Füßen weg. Sie konnte sich gerade noch zurückhalten bis Torek in der Hütte verschwunden war. Dann keuchte sie entsetzt auf und griff verzweifelt nach Shemar, der sie nur ansah und direkt zu ihr eilte, um sie zu stützen.
*
Er hatte es gewusst. Wütend zog Torek sich die schmutzigen Sachen aus und warf sie achtlos auf den Boden neben seine Schlafstatt. Bairani hatte vollkommen Recht gehabt, als er ihn vor seinen eigenen Eltern gewarnt hatte. Glaubten sie denn wirklich, er hätte die Blicke nicht bemerkt, die sie miteinander getauscht hatten? Dass sein Vater nicht wirklich beeindruckt sein würde, hatte er erwartet. Ihm war er noch nie kräftig genug gewesen. Immer sprach er mit Begeisterung von Jungen wie Recam und seinen Freunden, die sich bereits jetzt für die Prüfung zum Wächter in einem Jahr vorbereiteten. Aber seine Mutter? Sie hatte eher ängstlich reagiert, als mit Stolz. Torek schlüpfte in eine blassbraune Hose und warf sich ein Hemd über, bevor er mit hastigen Griffen ein weiteres Hemd packte und zusammenrollte. Suchend blickte er sich um. Nein, mehr besaß er nicht. Und die schmutzige Kleidung konnte er bei einem Besuch mitnehmen, wenn seine Mutter sie gewaschen hatte. Wenn er sie besuchen würde, das wusste er im Moment nicht mit Bestimmtheit. Er würde sowieso bald den grauen Umhang der Seher tragen dürfen. Dann brauchte er keine andere Kleidung mehr. Torek schob sich das Bündel unter den rechten Arm und wandte sich zur Tür, um hinauszugehen. Seine Mutter stand im Eingang und beobachtete ihn mit traurigem Lächeln. Der Junge schluckte, denn es schmerzte ihn trotz seiner Wut, sie so zu sehen. Wahrscheinlich hatte sie nur Angst davor, ihn gehen zu lassen. Aber er war kein kleines Kind mehr. Dennoch beschloss er, ihretwegen wieder zu kommen.
Langsam ging er auf sie zu und umarmte sie. Sie schlang ihre Arme um ihn, als könnte sie ihn mit dieser Geste zurückhalten.
„Leb wohl, Torek“, sagte sie schlicht und ließ ihn widerstrebend los.
„Leb wohl, Mutter.“ Torek bemerkte verärgert, dass seine Stimme leicht zitterte, und er ging rasch an ihr vorbei.
Vor der Hütte stand sein Vater neben Durvin im Schatten und sah ihm verhalten entgegen. Er hielt ihm eine Hand hin, die Torek zögernd ergriff.
„Gehe sorgsam mit deinen Fähigkeiten um, mein Sohn. Nimm dir deinen Onkel als Vorbild.“
„Das werde ich, Vater.“ Torek nickte und ging mit einem gemurmelten Gruß an Durvin vorbei, der ihn ernst anlächelte. Dann beeilte er sich, aus dem Schatten der Hütte zu treten und schritt den Pfad zurück, den er gerade erst gekommen war.
*
Noch lange, nachdem Torek bereits auf dem Pfad außer Sichtweite geraten war, stand Durvin mit dessen Eltern vor der Hütte und starrte ihm hinterher. Keiner sagte ein Wort, nur Nolani seufzte von Zeit zu Zeit aus tiefstem Herzen. Shemar hingegen hielt sie mit steinernem Gesicht im Arm, unbeugsam, so wie Durvin ihn kannte.
„Ihr müsst euch damit abfinden, dass Torek an Bairani vorerst verloren ist“, sagte er sanft und legte begütigend eine Hand auf Nolanis Schulter. „Es geschieht genau, wie es dein Bruder vorhergesagt hat, Shemar.“
Shemar wandte ihm das Gesicht zu und nickte. Seine braunen Augen durchbohrten ihn, als wollte er ihn bestrafen.
„Habt ihr niemals daran gedacht, ihn zu töten?“, fragte er leidenschaftslos.
Durvin ignorierte das entsetzte Aufkeuchen Nolanis und nickte stattdessen ernst.
„Ronam und ich wollten Torek bereits bei seiner Geburt töten, aber Tamaka hielt uns davon ab. Er sagte, dass jeder Mensch eine Rolle in unserem Gefüge hat, und wenn wir Torek beseitigten, würden wir nicht wissen, wer statt seiner die Fähigkeiten deines Bruders erben würde. – Tamaka war sich sicher, dass in Torek ein Kern verwurzelt ist, den Bairani nie für sich wird beanspruchen können, und er vielleicht am Ende dahin zurückfindet.“ Durvin zuckte mit den Schultern. „Er war auch davon überzeugt, dass ihr weiterhin für Torek wichtig sein würdet, und ihr ihn unbedingt immer als Sohn willkommen heißen solltet.“
„Ich hätte ihn nicht zur Zeremonie schicken sollen, damit habe ich alles nur in Gang gebracht.“ Nolanis Gesicht war von Selbstvorwürfen zerfurcht und wirkte um Jahre gealtert.
„Du hattest keine andere Wahl. Die Gefahr war zu groß, Bairani hätte Torek sonst von alleine entdeckt und wäre schnell auf uns aufmerksam geworden.“
„Aber was ist, wenn Torek unsere Visionen ansieht?“
„Bairani wird ihn gezielt einsetzen. Ich denke, er wird dafür kein Interesse und keine Zeit haben.“
Nolani sah Durvin an. Sie schüttelte verzagt den Kopf und deute mit beiden Armen auf ihr Heim.
„Aber, wie kann ich ihn hier willkommen heißen, wenn ich doch weiß, dass er zu einem grausamen Mann heranwachsen wird. Wie kann ich ihn anlächeln, wenn ihr über seinen Tod nachdenkt?“ Ihre Stimme versiegte zu einem kaum wahrnehmbaren Flüstern, und sie starrte auf den hellen Lehmboden zu ihren Füßen.
Durvins Herz war schwer, er war mit den beiden befreundet, seit er denken konnte. Früher waren sie immer fröhlich gewesen, aber seit Gorlun, der Bruder Shemars, die Vision über Torek gehabt hatte, war nichts mehr wie zuvor.
Sie alle warteten nun schon so lange auf die Gelegenheit, Bairani zu stürzen. Mit den Visionen über Jess Morgan war diese in greifbare Nähe gerückt. Doch Torek sollte zu einer neuen Figur in diesem Spiel werden, die auf Bairanis Seite schwer wog und der Zukunft so viele Facetten gab wie ein geschliffener Diamant.
Durvin seufzte und sah Nolani hinterher, die mit gebeugten Schultern in die Geborgenheit ihrer Hütte verschwand.
„Sie wird es schon schaffen, Durvin. – Wir schaffen das!“, sagte Shemar fest. Er schlug Durvin kameradschaftlich auf die Schulter und folgte dann seiner Frau in die Hütte.
Navigator
Die Tsunami fuhr langsam in den Hafen von Changuinola ein. Die Segel wurden eingeholt, und der Anker rauschte klatschend in das trübe Wasser des Hafenbeckens.
Lanea beobachtete unsicher die Männer in der Takelage, die mit geübten Griffen ihre Arbeit durchführten, und ließ dann den Blick suchend über die ankernden Schiffe gleiten.
„Die Monsoon Treasure liegt dort vorne.“
Captain Makani war unbemerkt neben sie getreten und zeigte auf ein Schiff, das am südlichen Pier lag und sofort dadurch auffiel, dass es einen wesentlich schlankeren Rumpf besaß als die anderen Schiffe. Ihrem Bug entsprang eine Galionsfigur in der Form einer schaumgekrönten Welle, als wäre das Schiff ein untrennbarer Bestandteil des Meeres.
Ein klammes Gefühl breitete sich in Lanea aus. Was würde sie an Bord dieses Piratenschiffes erwarten?
Sie wurde zur Schiffshalterin erzogen, seit sie denken konnte. Auch wenn sie sich immer dagegen gewehrt hatte, hatte sie doch immer gewusst, dass sie eines Tages als Navigator auf einem Schiff der Waidami-Piraten mitsegeln musste, um die Positionen der versenkten Schiffe durchzugeben. Sie hatte immer wieder versucht, den Gedanken zu vermeiden. Lanea hatte große Furcht vor den Piraten und war von ihren Eltern immer wieder darauf hingewiesen worden, wie falsch das Leben der Waidami inzwischen war. Es war falsch, Schiffe mit unschuldigen Menschen zu überfallen. Sie konnten nichts für das Leid, das ihr Volk in der Vergangenheit erlitten hatte. Es gab keine Rechtfertigung dafür, selbst zu morden und zu plündern. Doch ihre Familie konnte nicht offen gegen den Obersten Seher Bairani aufbegehren. Er war ein gefährlicher Mann, der Hindernisse schnell beseitigte. Ihr Vater hatte ihr versichert, dass sich eines Tages alles ändern würde. Er war sehr geheimnisvoll gewesen und hatte ihr gesagt, dass es wichtig war, an Bord des Piratenschiffes zu gehen. Wie immer hatte er ein großes Geheimnis daraus gemacht, was er aufgrund seiner Visionen vielleicht bereits wusste.
Lanea vertraute ihrem Vater und hatte nur deshalb die Reise angetreten. Nun war sie hier und würde in wenigen Augenblicken auf ihren künftigen Captain und sein Schiff treffen.
„Deine Reise ist hier zu Ende, Lanea! Meine Männer werden dich mit dem Beiboot zur Pier rudern. – Viel Glück!“ Der Mann reichte ihr zum Abschied die Hand, und Lanea schüttelte sie dankbar.
Am liebsten wäre sie an Bord dieses Schiffes geblieben. Die Tsunami war nur ein friedliches Handelsschiff der Waidami, das sich normalerweise auf keinen Kampf einließ.
Doch der Abschied lässt sich wohl nicht länger hinauszögern, dachte Lanea niedergeschlagen, als sie in das ungeduldige Gesicht des Captains blickte.
„Lebt wohl, Captain.“ Seufzend enterte sie in das bereitstehende Beiboot ab. Ihr Seesack lag bereits im Bug. Während sich das Beiboot immer mehr von der Tsunami entfernte, heftete sie ihren Blick wieder auf die Monsoon Treasure.
Wer war dieser Captain Jess Morgan? Wie mochte er sein? Lanea hatte bisher nur einen Piratenkapitän kennengelernt. Es war ein brutaler und widerlicher Kerl gewesen, der alles darangesetzt hatte, sie auf sein Schiff zu bekommen, sobald er sie gesehen hatte. Die Seher hatten das glücklicherweise verhindert. Trotzdem musste Lanea immer noch bei dem Gedanken an diesen Mann schlucken. Nüchtern vermutete sie, dass dieser Captain nicht anders sein konnte. Sie erwartete einen hässlichen und grausamen Mann. Ein dicker Kloß verengte ihren Hals. Lanea fuhr sich mit ihren schwitzenden Händen über die Hosenbeine und griff vorsorglich nach ihrem Seesack, als das Beiboot an der Pier anlegte.
„Lebt wohl.“
Die Männer wünschten ihr ebenfalls Lebewohl, und Lanea betrat zaghaft den festen Boden. Neugierig schaute sie von ihrem Standpunkt in alle Richtungen um und betrachtete das bunte Treiben, das hier herrschte. Niemand schien von ihr Notiz zu nehmen, und niemand sah die innere Zerrissenheit, die sie beherrschte. Männer und Frauen jeden Standes und jeden Gewerbes eilten den Hafen entlang, der von kleinen, schmutzigen Häusern gesäumt war. Die Gassen, die hinter die Häuser führten, wirkten ebenfalls verdreckt und luden nicht dazu ein, sie zu erkunden. Lanea saugte jede Einzelheit in sich auf und wusste doch, dass sie sich jetzt und ohne weiteren Aufschub dem Captain der Monsoon Treasure würde stellen müssen.
Es war ihr immer noch nicht ganz klar, wieso er ausgerechnet eine Frau als Navigator an Bord holen sollte. Üblicherweise wurden die Schiffshalter den Kapitänen einfach zugeteilt. Aber dieser Fall lag ja offensichtlich anders. Captain Jess Morgan galt als Abtrünniger, was bedeutete, dass er versuchte, sich aus den Fängen der Waidami zu lösen und auf eigene Faust durch die Gewässer zu segeln. Der alte Schiffshalter war vor kurzem gestorben, und Lanea sollte unauffällig seinen Platz einnehmen. Sie sollte sich nur als Navigator zu erkennen geben und später heimlich die Positionen übermitteln. Es würde gefährlich sein, aber vielleicht gelang es ihr ja auf diese Weise, ihren Beitrag dazu zu leisten, wenigstens einen Piraten aus dem Verkehr zu ziehen. Lanea tat einen tiefen Atemzug und straffte unmerklich ihre Schultern. Sie schulterte ihren Seesack und blickte ein letztes Mal auf die Tsunami, bevor sie entschlossen ihre Schritte in die Richtung der Monsoon Treasure lenkte.
Ihr Blick wurde magisch von dem stolzen Schiff angezogen. Ihre Füße folgten diesem Ruf, Schritt für Schritt. Jedes Detail prägte sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis, als ihr Blick an einer großgewachsenen Gestalt hängenblieb. Der Mann lehnte lässig an der Reling und beobachtete irgendetwas, das neben dem Schiff auf der Pier geschah.
Während Lanea sich langsam näherte, konnte sie eine kleine Menschenmenge erkennen, die sich vor dem Schiff versammelt hatte. Beiläufig vernahm sie das muntere Fideln einer Geige, das aus einer Taverne zu ihnen auf die Gasse klang, als sie sich durch die Männer schob. Rücken der unterschiedlichsten Größen machten ihr widerwillig Platz. Neugierig erkannte sie einen Tisch, der vor der Monsoon Treasure aufgestellt worden war. Dahinter saß ein gutaussehender, dunkelhaariger Mann, der sich interessiert mit einem Seemann unterhielt. Lanea blieb in der zweiten Reihe stehen, um die Geschehnisse unauffälliger beobachten zu können. Sie ahnte bereits, dass die Männer hier alle auf dem Schiff anheuern wollten. Um einen besseren Überblick zu erhalten, reckte sie den Kopf. Stirnrunzelnd gestand sie sich ein, einen weiteren Blick auf den Mann an der Reling werfen zu wollen. Er stützte sich immer noch lässig mit den Unterarmen darauf ab. Seine weizenblonden Haare schimmerten in der Sonne und waren das Einzige an ihm, das keine Düsternis ausstrahlte. Lanea konnte zwar die feingeschnittenen und klaren Gesichtszüge erkennen, hatte aber trotzdem das Gefühl, dass diese von etwas Bedrohlichem überdeckt wurden; wie ein feingewebtes Tuch, das unauffällig alles verdeckte, was darunter lag. Die schwarze Kleidung unterstrich diesen verstörenden Eindruck.
Während sie sich ihrer Neugier unbehaglich bewusst wurde, richtete sich der Pirat abrupt auf. Ein wachsamer Blick aus eisblauen Augen traf direkt auf ihre und bohrte sich in ihren Verstand und ihr Herz. Lanea hielt entsetzt den Atem an, trat einen Schritt zurück und duckte sich hinter die Männer. Ihr Blut spielte in ihrem Kopf zu einem rauschenden Orchester auf und überdeckte für einen Augenblick alles andere. Verzweifelt konzentrierte sie sich vollständig darauf, ihre Fassung zurückzugewinnen.
*
Jess Morgan beobachtete neugierig die Gruppe der Männer, die an Bord der Monsoon Treasure anheuern wollten. Einfache Seeleute, die ihr Glück auf einem der meistgesuchten Piratenschiffe machen wollten. Er lächelte bitter über seinen zweifelhaften Ruf und nahm den Seemann genauer in Augenschein, der gerade von Cale Stewart befragt wurde. Der Mann war ein heruntergekommener alter Säufer, der seine besten Jahre auf See bereits seit langem hinter sich hatte. Jess schnaubte und bewunderte die Geduld von Cale, der einen Mann nach dem anderen gründlich befragte. Der Rest der Männer stand abwartend einige Schritte dahinter. Jess entschied sich dazu, die Strömungen, die von den Männern ausging, zu begutachten. Konzentriert ließ er sein Bewusstsein abgleiten und stieß auf die unterschiedlichsten Strömungen. Einige Männer strahlten starke Kälte aus oder Hinterlist, andere wiederum Berechnung oder Brutalität. Es waren die gleichmäßigen und verstörenden Bewegungen von Mördern und Halsabschneidern; im Grunde das, was auf einem Piratenschiff gesucht wurde. Doch Jess wollte kein Crewmitglied mit solch einer Ausstrahlung. Er suchte jemanden, dem er vertrauen konnte, voll und ganz, so wie dem Rest seiner Crew auch. Niemand in seiner Mannschaft besaß derartige negative Eigenschaften. Natürlich waren sie allesamt Piraten, und das Verbrechen war ihnen nicht unbekannt, dennoch waren sie anders. Seine Männer liebten den Kampf, doch empfanden sie nicht diese seltsame und sadistische Freude, die er jetzt schon bei den meisten Interessenten auf der Pier wahrnahm. Während er langsam die Reihe der Wartenden abtastete, richtete er sich abrupt auf. Eine vollkommen andere Strömung störte die Gleichmäßigkeit der anderen. Aufregung schlug ihm entgegen und Zweifel, Angst. Jess hob misstrauisch eine Augenbraue und fixierte das Zentrum dieser Ausstrahlung. Sein Blick traf kurz auf ein katzenartiges Augenpaar, das gleich darauf verschreckt in der Menge abtauchte. Neugierde ergriff ihn. Jess Morgan verließ ruhig über die Laufplanke die Treasure, während er seine Sinne auf die inzwischen panische Strömung gerichtet hielt. Belustigt sah er, wie Cale verwundert zu ihm aufblickte, als er an dem Tisch vorbeischritt. Langsam und provozierend strich er an der Gruppe der Seeleute entlang. Seine Bewegungen und sein Gesicht zeigten die Sprungbereitschaft und tödliche Konzentration eines Raubtieres, das ein Gebüsch umschlich, in dem sicheren Bewusstsein, dass sein Opfer sich darin verborgen hielt. Unvermittelt blieb er stehen. Die Männer glitten bleich geworden auseinander und gaben den Blick auf eine sich duckende Gestalt frei.
Überrascht erkannte Jess Morgan die langen roten Haare und die feinen Gesichtszüge einer jungen Frau, die verlegen so tat, als würde sie etwas vom Boden aufsammeln. Ihre aufgeregte Strömung schoss ihm sich förmlich überschlagend entgegen. Interessiert betrachtete er sie.
Was suchte sie hier bloß zwischen den ganzen Männern und warum war sie so aufgeregt? Seine Wirkung auf Frauen war ihm nicht unbekannt, doch das hier war anders. Sein Instinkt riet ihm, Abstand zu halten, doch irgendetwas zwang ihn vorwärts.
„Kann ich Euch behilflich sein?“, fragte er ruhig.
Die junge Frau hatte sich inzwischen aufgerappelt und gab sich Mühe, ihn gerade und fest anzusehen. Ihre Strömung hatte sich etwas beruhigt und doch war nicht zu übersehen, dass sie ihre Aufregung nur mühsam unter Kontrolle hielt. Sie hatte smaragdgrüne Augen, die von dem bronzefarbenen Schimmer ihrer Haut unterstrichen wurden. Ihre Stimme zitterte kaum merklich, als sie sprach: „Ich bin Lanea aus dem Volk der Ka’anu. Ich möchte als Navigator auf der Monsoon Treasure anheuern, Sir!“
Ein erstauntes Raunen ging durch die Männer in Laneas Rücken, als sie ihre Abstammung vernahmen, und auch der große, schwarzgekleidete Mann, den sie für Jess Morgan hielt, schien ehrlich überrascht. Die Ka’anu waren für ihre übersinnlichen, navigatorischen Fähigkeiten berühmt. Mitglieder dieses Volkes konnten Kurse und Positionen ohne jedes Hilfsmittel bestimmen. Es hieß, sie wären die Nachfahren göttlicher Sternfahrer, die sich nicht mehr von der Erde trennen konnten und doch die Verbindung zu den Himmelskörpern ihrer Herkunft nicht aufgaben.
Laneas Mutter war eine Ka’anu, sodass sie tatsächlich über diese besonderen Fähigkeiten verfügte, die ihr jetzt einen großen Dienst erweisen würden. Ihr Herz schlug bis zum Hals und sie versuchte, den irritierenden Blicken des Mannes gleichmütig zu begegnen. Seine eisblauen Augen wurden eine Spur dunkler, als er sie von oben bis unten taxierte. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie der Dunkelhaarige sich vom Tisch erhob und sich neben ihn stellte. Sie entsprachen beide nicht dem Bild, das Lanea bisher von Piraten hatte. Beide Männer waren von beeindruckend gutaussehender Erscheinung. Der dunkelhaarige Mann wirkte mit seinen rehbraunen Augen regelrecht harmlos auf Lanea, während der ihn um einen halben Kopf überragende Captain einen verwegenen Eindruck machte. Sein Auftreten war selbstsicher und eindrucksvoll und zog sie auf unerklärliche Weise in seinen Bann. Keiner von beiden wirkte brutal oder gar grausam. Wieder traf Lanea ein undefinierbarer Blick aus eisblauen Augen, bevor der Große sich an den Dunkelhaarigen wandte.
„Sie ist angeheuert, Cale. Zeig ihr ihre Unterkunft und stell sie der Crew vor.“ Seine Stimme war angenehm dunkel, als er ihr eine sehnige Hand entgegenstreckte. „Willkommen an Bord der Monsoon Treasure, Lanea!“
*
Jess konnte sich nicht wirklich erklären, warum er es tat. Er handelte wie unter einem inneren Zwang und reichte der jungen Frau die Hand. In dem Augenblick, in dem seine Finger die ihren berührten, geschah etwas mit ihm. Es war, als würde ein Weg zu einem Ort in seinem Inneren freigeschlagen werden, von dem er bisher nicht gewusst hatte, dass er existierte. Ein Spalt öffnete sich darin und etwas Unbestimmbares löste sich wie aus langer Gefangenschaft und kroch heraus. Es war altbekannt und doch unvertraut und stürzte Jess von einem Augenblick auf den anderen in tiefste Verwirrung.
„Cale, übernimm das Kommando. Ich muss noch etwas erledigen und weiß nicht, wann ich zurück bin.“ Jess schaute seinen Ersten Maat von der Seite an und ignorierte dessen verwirrtes Stirnrunzeln, als er ihm kurz zunickte und dann seine Schritte zwischen die verdutzten Seeleute lenkte. Natürlich konnte Cale nicht verstehen, warum er Lanea so kurzerhand angeheuert hatte, aber er war ihm keine Erklärung schuldig. Im Gegenteil, Jess hatte selbst keine Erklärung dafür und brauchte einen klaren Kopf. Die Gedanken überschlugen sich darin und bruchstückhafte Bilder, die wie Puzzleteile durch seine Erinnerungen schossen, nahmen ihn vollkommen in Anspruch.
Der Pirat gab sich den äußeren Anschein von Gelassenheit, als er davonging, aber in seinem Innersten brodelte es. Ihm war, als würde er eine Art Gesang in seinem Kopf hören, der sich um die Bilder darin rankte; als würde er diese an unsichtbaren Fäden langsam immer näher zusammenziehen und an ihre fest vorbestimmten Plätze rücken. Die Eindrücke wurden immer stärker, und seine Schritte bewegten sich schneller von der Treasure fort. Fort von dem Gewühl der Menschen, von dem kritischen Blick seines Freundes und fort von dieser rätselhaften Frau. Jess Morgan schloss verwirrt die Augen, in der Hoffnung, eine klare Sicht der Dinge zu bekommen, doch das Durcheinander in seinem Kopf griff auch auf seine Sehfähigkeit über. Plötzlich war er nur noch in der Lage, seine Umgebung als schattenhafte Umrisse wahrzunehmen. Mehr als einmal rempelte er ungewollt einen Mann an, der zufällig seinen Weg kreuzte. Alles, was er wollte, war ein Ort, an dem er Ruhe finden konnte. Jess musste sich dringend irgendwohin zurückziehen, um sich vollkommen ungestört diesem Wahnsinn stellen zu können.
„Folgt mir!“ Eine unbekannte dunkle Stimme tauchte neben ihm auf, und der dazugehörende Schatten ergriff ihn fordernd an seinem rechten Oberarm. Jess wollte aufbegehren und den Schatten wegstoßen, doch der Griff war überraschend fest. Die Stimme sprach in einem merkwürdigen Singsang weiter, der ihn einlullte. Jess schüttelte schwerfällig seinen Kopf und versuchte so, die bleierne Schwere daraus fortzutreiben. Die Klänge der unbekannten Stimme fügten sich nahtlos in den Gesang in seinem Kopf und füllten jeden Raum, der dort noch nicht von den verstörenden Bildern besetzt war, mit beschwörender Kraft aus. Er war nicht mehr in der Lage, sich gegen diesen Zauber zu wehren und folgte der Stimme, folgte dem dunklen Schemen, der ihn fortführte.
Plötzlich löste sich der Griff von seinem Arm, und die Stimme des Schemens zog sich langsam aus seinem Kopf zurück. Zurück blieb der Wirbel von Erinnerungen an fremde Bilder, an Menschen, die ihm einst etwas bedeutet zu haben schienen; Erinnerungen an Verlust und Schmerz. Jess‘ Atem ging stoßweise, während er auf kalten Boden sackte. Um ihn herum herrschte völlige Schwärze, und er presste beide Hände gegen den Kopf. Die Erinnerungen schienen herausquellen zu wollen, aber irgendetwas brachte sie in die richtige Reihenfolge. Nach einer Weile kehrte Ruhe ein. Jess‘ Atem verlangsamte sich, und sein Blick klärte sich wieder auf. Zuerst undeutlich, doch dann immer schärfer, erkannte er die Konturen eines einfach eingerichteten Zimmers. Die Wände wirkten grau und verfallen. Risse zogen sich durch das Mauerwerk. An einer Seite stand ein altes Bett, auf dem eine muffige Decke lag. Daneben befand sich ein kleiner Tisch mit einem einzelnen wackeligen Stuhl. Auf dem Tisch standen ein Krug und ein Becher, daneben ein Teller mit Brot. Jess runzelte die Stirn und stand langsam wieder auf. Ein plötzlicher Schmerz, der durch seinen Kopf raste, ließ ihn aufstöhnen. Dankbar ließ er sich auf das Bett fallen und griff nach dem Krug. Wie er erwartet hatte, war der Krug gefüllt. Jess goss das klare, frische Wasser in den bereitstehenden Becher. Woher hatte sein Gastgeber gewusst, dass er hierherkommen würde? Jess‘ Gedanken richteten sich auf zwei grüne Katzenaugen und tiefes Misstrauen überkam ihn. Er wusste nicht, wieso er hier war. Er hatte keine Ahnung, warum er diese Frau angeheuert hatte, und was sie mit diesem Chaos in seinem Kopf zu tun hatte. Vorsichtig roch er an dem Wasser, doch er konnte nichts Ungewöhnliches feststellen und trank den Becher auf einen Zug aus. Er stellte den Becher auf den Tisch, der dabei gefährlich wackelte, und stand wieder auf. Mit wenigen Schritten durchmaß Jess das Zimmer und war überrascht, als er die Tür unverschlossen vorfand. Er ging einen kleinen unbeleuchteten Gang entlang, der zu einer groben Holztür führte. Auch diese ließ sich öffnen und führte auf eine schmutzige Gasse. Offensichtlich hatte ihn jemand hierhergeführt, zu einem Ort in der betriebsamen kleinen Hafenstadt, an dem er die Ruhe finden konnte, die er gerade brauchte. Nachdenklich ließ er seinen Blick über die Gasse schweifen, auf dem sich zwielichtige Gestalten herumtrieben. Die Dämmerung warf bereits ihre langen Schatten wie ein Netz aus. Er musste nun schon einige Stunden fort sein. Cale würde sich Sorgen machen. Doch der Unbekannte hatte ihn nicht ohne Grund hierhergeführt. Jess‘ Instinkt sagte ihm, dass dieser ziemlich genau über ihn Bescheid wissen musste. Er hatte ihm einen Schlafplatz angeboten, wohl wissend, dass ein Captain der Waidami normalerweise niemals an Land schlief. Nur der Schlaf an Bord des verbundenen Schiffes ermöglichte erholsamen Schlaf. Nur der Schlaf in der schützenden Umarmung der Monsoon Treasure hielt seine Träume fern und die unliebsamen Erinnerungen. Schlaf an Land bedeutete aufzehrende Nächte voll grausamer Erinnerungen, geschaffen von dem Träumenden selbst. Jede Seele, die er in das Reich der Toten gesandt hatte, kehrte Nacht für Nacht zurück, um ihren Mörder anzuklagen, und nur das eine Schiff hatte die Kraft, diese Seelen nicht vortreten zu lassen. Jess zog mit einem leichten Schauer die schwere Holztür zu und drängte das Leben in der Gasse aus seiner Wirklichkeit. Entschlossen drehte er sich um und ging den Gang zurück. Er interessierte sich nicht für den Rest des verfallenen Hauses. Nur das eine Zimmer war für ihn von Interesse, und er betrat es entschieden. Den Schmutz ignorierend, setzte er sich auf das Bett. Dann streckte er langsam seine Gestalt aus, verschränkte die Arme hinter seinem Kopf und wartete auf den Schlaf.
*
Undurchdringliche Dunkelheit erfüllte den kleinen Raum, in dem Jess Morgan schlief. Sein Körper lag lang ausgestreckt und in tiefem Schlaf gefangen auf der harten Matratze. Die Muskeln waren angespannt und wirkten sprungbereit. In seinem Gesicht arbeitete es, und die Augen huschten unter den geschlossenen Lidern wild hin und her. Jess spürte nicht, wie sich eine Gestalt näherte und sich neben das Bett stellte. Der Unbekannte trug schwarze Kleidung und fügte sich perfekt in die Schatten der Nacht. Völlig regungslos blieb er stehen und beobachtete Jess in dem matten Licht einer abgedunkelten Laterne. Seine smaragdgrünen Augen funkelten auf ihn herab, und der Mann murmelte etwas Unverständliches. Dann griff er mit langen, dünnen Fingern nach Jess Morgans Kopf und erschloss sich einen Zugang zu dessen Gedanken. Für einen kurzen Moment zuckte er zurück, als er auf die ersten Träume stieß. Fahlweiße Gesichter starrten ihm aus großen, toten Augen entgegen, die von einem Chor klagender Laute begleitet wurden. Der Unbekannte konzentrierte sich und murmelte in einer raschen Folge Worte in einer alten, geheimnisvollen Sprache. Die Gesichter zogen sich zurück, und die Muskeln von Jess Morgan entspannten sich. Seine Gesichtszüge wurden ruhiger, und auch unter den Augenlidern hörten die Bewegungen auf. Seine Träume hatten nun freien Zugang zu den Erinnerungen, die heute freigelassen worden waren.