Kitabı oku: «Die Tränen der Waidami», sayfa 2

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Wut loderte in ihm auf und wurde doch gleich wieder von den durchdringenden Augen der alten Merka zertreten, bevor sie in Flammen aufgehen konnte. Wer war die alte Frau? Wieso verbarg sich ihr Schicksal vor ihm und wie stellte sie es an?

Ein erheitertes Kichern schüttelte den Körper Merkas. Mit ihrer dürren Hand umfasste sie den Stock, auf den sie sich stützte, fester. Der Handrücken war knotig und mit Altersflecken übersät. Man konnte meinen, dass sie so alt wie diese Insel war.

»Du bist so ein schlauer Junge, Torek«, sagte sie vergnügt. »Konzentrier dich lieber auf die Möglichkeiten, die das Schicksal dir zu Füßen legt.« Damit deutete sie in Richtung Dorf. Torek folgte mit den Augen in die angegebene Richtung. Sein Herz schlug augenblicklich schneller, als er Shamila erkannte. Zielstrebig wanderte sie den Berg hinauf und hob einen Arm zum Gruß, als sie die beiden entdeckte.

»Es gibt einen Weg abseits der Macht. Ein Weg, auf dem Frieden und ja, sogar Glück dicht beieinander liegen.« Merka sah Torek jetzt wieder ernst an. Jede Spur von Belustigung und Verachtung war verschwunden. Toreks Magen krampfte sich zusammen. Dann sah er wieder auf Shamila, die nur noch wenige Schritte entfernt war. Einerseits verspürte er das Verlangen, ihre Zukunft zu betrachten, doch andererseits widerstrebte ihm dies zutiefst. Er wollte sie nicht auf diese Weise erkunden. Das Eindringen in ihr Schicksal glich dem Eindringen in einen intimen Bereich, als würde er sie auf eine Weise entblößen, die ihm so nicht zustand.

»Merka«, sagte Shamila, als sie die beiden erreichte, und lächelte die alte Frau erleichtert an, während sie ihm nur ein kurzes Kopfnicken schenkte. »Torek«

Ihre Stimme löste eine Gänsehaut auf seinem Rücken aus, auch wenn sie ihre Aufmerksamkeit ganz Merka schenkte. »Nuri braucht dich. Es ist so weit. Das Baby kommt.«

Die alte Frau schien in ihrer Gestalt zusammenzuschrumpfen, während sie mit plötzlich zitternden Fingern nach dem Arm Shamilas griff, um sich dort Halt zu suchen.

»Dann lass uns keine Zeit verschwenden, mein liebes Kind«, sagte sie und wackelte mit dem Kopf, wie es alte Frauen oft taten. »Bring mich zu Nuri.«

Nachdenklich schaute Torek den beiden Frauen nach, bis sie verschwunden waren. Trotzdem Merka ein unbehagliches Gefühl in ihm hervorgerufen hatte, lag sein Herz federleicht in seiner Brust. Eine Eigenschaft, die jeder Begegnung mit Shamila innewohnte, auch wenn sie noch so flüchtig war.

*

Am Morgen des vierten Tages segelte die Monsoon Treasure in großem Abstand, gefolgt von den spanischen Schiffen, in den Hafen von Cartagena.

Noch während sie mit dem Anlegemanöver beschäftigt waren, ritten bewaffnete Wachen vor die Pier, in deren Begleitung sich eine schwarze Kalesche befand. Ein Diener sprang eilfertig vom Kutschbock, um den Wagenschlag zu öffnen. Bevor dieser danach greifen konnte, öffnete sich die Tür und die schlanke Gestalt von Christobal Tirado y Martinez schob sich hinaus.

Jess nickte dem Gouverneur zu, als ihre Blicke sich trafen. Auch ohne in die Strömungen des Spaniers zu tauchen, war die Ungeduld in seinen Augen unübersehbar. Da die Treasure das erste Schiff war, das zurückkehrte, hatte Tirado noch keinerlei Informationen darüber, wie die Schlacht verlaufen war. Auch wenn er sich zumindest Teile selbst zusammenreimen konnte, da die Treasure unübersehbar wieder in Jess’ Besitz war.

Tirado schritt geradewegs auf das Schiff zu, dessen Laufplanke gerade von Dan und Sam ausgebracht wurde. Bevor er das Deck betrat, blieb der Gouverneur stehen und sah abwartend zu Jess.

»Willkommen an Bord der Monsoon Treasure, Señor Gouverneur«, begrüßte ihn dieser und machte eine einladende Geste mit dem Arm.

»Wie ich sehe, ist das Unternehmen von Erfolg gekrönt. Ich freue mich, Euch wohlbehalten in Cartagena willkommen heißen zu dürfen, Capitan Morgan«, entgegnete der Spanier und warf dabei einen interessierten Blick auf den offenen Hemdausschnitt von Jess, »und vollständig, wie ich sehe. Ich brenne darauf, jede Einzelheit zu erfahren.«

»Ich werde Euch gerne einen umfassenden Bericht erstatten. Wenn Ihr mir bitte folgen wollt.« Jess wandte sich um und ging dem Gouverneur voraus. In seiner Kajüte deutete er auf einen Stuhl. »Bitte nehmt Platz.«

Tirado ließ einen Moment den Blick neugierig über die Einrichtung wandern, bevor er sich an den großen Kartentisch setzte. Jess beobachtete ihn, während er ein Kristallglas mit schwerem Rotwein füllte und sich selbst Frischwasser einschenkte.

»Lasst uns nicht um den heißen Brei herumreden, Capitan. Stillt meine Neugierde: Wie groß sind unsere Verluste?« Ohne Umschweife kam der Spanier auf den Grund seines Erscheinens zu sprechen. Jess hätte es auch gewundert, wenn dieser Mann anders vorgegangen wäre. Bei ihren letzten Begegnungen war er stets direkt gewesen und hatte sich nicht hinter Floskeln verborgen. Jetzt sah er Jess besorgt an, während er das Glas unbeachtet an die Seite schob.

»Sechs Schiffe sind gesunken, drei manövrierunfähig. Die genaue Zahl an Verlusten unter den Männern sowie die Schäden an den Schiffen wollte Admiral Gonzalez Euch selbst überbringen. Ich fürchte jedoch, dass die Anzahl nicht so gering ist, wie ich es gerne gehabt hätte.«

Die braunen Augen des Gouverneurs musterten ihn ernst. Seine Hand strich beiläufig über die Karte, die vor ihm ausgebreitet lag und den Ausschnitt mit dem Barriereriff zeigte, wo die Schlacht stattgefunden hatte. Ein unberührter Fleck auf der Karte, der keinen Hinweis auf das Blutvergießen gab, das dort stattgefunden hatte.

»Die Waidami?«

»Neun Schiffe versenkt, acht Schiffen gelang die Flucht.«

Tirados rechte Augenbraue wanderte in einer steilen Kurve nach oben. »So viele?«, fragte er verwundert. Dann nickte er, wie zu sich selbst. »Bitte, Capitan, fahrt fort und schildert mir, was sich zugetragen hat.«

Während Jess den Verlauf der Schlacht schilderte, schwieg Tirado, ließ ihn aber keinen Moment dabei aus den Augen. Als er von der Begegnung und dem Kampf mit McDermott berichtete, runzelte sich die glatte Stirn des Spaniers, doch er schwieg weiterhin geduldig, bis Jess seinen Bericht beendete.

Für einige Augenblicke herrschte Stille in dem großen Raum. Jess, der bis jetzt gestanden hatte, trat auf die gegenüberliegende Seite des Tisches und warf einen Blick durch das Fenster hinaus. Inzwischen hatten sich mehrere der spanischen Segelschiffe zu ihnen gesellt und lagen dicht bei der Treasure vor Anker. Ein friedliches Bild. Dennoch war Jess durchaus bewusst, dass Admiral Gonzalez die Ankerplätze der Schiffe nicht zufällig gewählt hatte. Unauffällig hatte man ihn in die Mitte genommen. Der Mann traute ihm nicht, gleich, was sein Gouverneur auch von ihm halten mochte. Er blieb der Pirat, den man im Auge behalten musste oder besser noch direkt vor den Mündungen der spanischen Kanonen.

»Wenn ich richtig mitgezählt habe, Capitan, dann befanden sich auf der Seite der Waidami siebzehn Schiffe?«

Jess wandte sich wieder dem Spanier zu. Tirado trommelte nachdenklich auf dem Kartenausschnitt mit dem Barriereriff herum.

»Aye!«

»Wisst Ihr, ob dies allesamt Schiffe waren, die auch mit ihren Kapitänen verbunden sind? Oder handelte es sich womöglich um neue Verbündete?«

»Soweit ich das beurteilen kann, waren es Kapitäne der Waidami. Ich kann mir niemanden vorstellen, der ein Bündnis mit den Waidami eingehen würde. Noch weniger einen Partner, den sich der Oberste Seher an die Seite holen würde.«

»Woher kommen plötzlich so viele Schiffe? Ich habe noch nie davon gehört, dass mehr als drei oder vier Waidami-Schiffe auf einmal gesichtet worden sind.«

»Diesmal lag es jedoch in ihrer Absicht, die Silberflotte zu überfallen. Da sie im Besitz der Derroterro waren, kannten sie die Aufstellung der spanischen Schiffe, Señor Gouverneur. Es war damit zu rechnen, dass eine Flotte angreift. Jedoch muss ich gestehen, dass auch ich nicht mit einer derartig hohen Zahl gerechnet habe.«

Tirado stoppte das Trommeln seiner Finger und hob den Blick. »Ihr sagt dies so, als ob Euch etwas die Zunge beschwert, Ihr aber zu unwillig seid, es auszusprechen, mein Freund.«

»Sagen wir, ich habe das Gefühl, dass der Ablauf der Schlacht, auch wenn ganz in unserem Sinne, doch zu einfach war.«

»Was veranlasst Euch zu diesem Gedanken? Euer Plan, die Männer unter Deck hinter den Silberbarren zu verbergen war überzeugend. Die Strömungen der Soldaten konnten so nicht von ihnen ausgemacht werden. Das Überraschungsmoment lag damit auf Eurer Seite. Also, was ist es, das Euch zweifeln lässt?«

»Die spanische Flotte war in der Überzahl, aber der Großteil bestand auch aus schwerfälligen Schatzschiffen, die im Kampf leicht auszumanövrieren sind. Die Kapitäne der Waidami sind Euren Kapitänen weit überlegen. Verzeiht meine Ehrlichkeit, Señor Gouverneur. Aber in Anbetracht der Anzahl der Waidami-Schiffe bin ich ehrlich überrascht, dass mein Plan aufgegangen ist.«

»Ihr wollt also andeuten, dass wir diese Schlacht gewonnen haben, weil wir sie gewinnen sollten. Ist es das?«

»Möglicherweise.« Er wusste selbst, wie verrückt das klang. Dennoch hatte er das Gefühl, dass sich etwas über ihnen zusammenbraute, mit dem niemand von ihnen rechnete.

Tirado atmete tief ein. Langsam stand er auf, trat um den Tisch herum und stellte sich neben Jess. Sein Blick wanderte über die Schiffe, die draußen in der Bucht verteilt lagen und alle ihre Breitseiten der Monsoon Treasure präsentierten. Langsam verschränkte er die Arme vor der Brust und nickte: »Dann macht es also Sinn, dass mein Admiral dem einzigen Piratenschiff in dieser Bucht seine gesamte Aufmerksamkeit zuteilwerden lässt.«

»Ich plane keinen Verrat, wenn Ihr das vermuten solltet.«

Tirado warf ihm einen Blick von der Seite zu. »Nein, das glaube ich Euch sogar. Auch wenn ich selbst zutiefst überrascht darüber bin.« Ein flüchtiges Lächeln glitt über sein Gesicht, bevor ein Schatten darauf zurückblieb. »Aber möglicherweise tragt Ihr, ohne es zu wissen, etwas mit Euch, was den Waidami einen Vorteil verschafft. - Wir sollten unseren gemeinsamen Feind nicht unterschätzen.«

Jess nickte langsam. Tirado hatte Recht und sprach nur aus, worüber er selbst sich bereits seit dem Ende der Schlacht seine Gedanken machte. »Ich werde meine Männer anweisen, das Schiff noch einmal zu durchsuchen.« Doch er hatte nicht die geringste Ahnung, wonach die Männer suchen sollten. »Ich fürchte jedoch, dass es zu einfach wäre, wenn die Waidami etwas oder jemanden an Bord versteckt hätten. Versprecht Euch nicht zu viel davon.«

»Ich denke, das wäre auch zu einfach. Lasst uns die Zeit nutzen, während Ihr hier auf die Ankunft Eurer Männer wartet. Wir können den Hergang der Schlacht in Ruhe durchgehen und nach möglichen Fallen suchen. Also erweist mir den Gefallen und nehmt eine offizielle Einladung von mir an. Es ermöglicht Euch das Betreten meines Palastes durch die Tür wie gewöhnliche Menschen und macht es nicht nötig, unbescholtene Damen in Aufruhr zu versetzen«, sagte er und spielte damit auf Jess’ letzten Besuch während eines Maskenballes an. Ein Grinsen breitete sich jetzt auf seinem Gesicht aus. Es war das erste Mal seit Betreten des Schiffes, dass Jess den Eindruck hatte, dem Tirado gegenüberzustehen, den er bei seinen bisherigen Begegnungen kennengelernt hatte.

»Nebenbei bemerkt, Señor Capitan, würdet Ihr mir eine Freude bereiten, wenn Ihr Eure bezaubernde Navigatorin als Begleitung mitbrächtet. Ich hoffe, sie ist unbeschadet aus der Schlacht mit Euch zurückgekehrt?« Tirado hatte sich jetzt ihm wieder ganz zugewandt und drehte dem Fenster und den drohenden Schiffen den Rücken zu. Das Interesse an Lanea wehte wie eine frische Brise durch den Raum und überraschte Jess, wie der leichte Schmerz, der sich im selben Moment wieder über die Tätowierung auf seiner Brust ergoss.

»Es geht ihr gut, danke«, entgegnete er und fuhr sich mit der Hand über die schmerzende Stelle. Kälte drang durch den Stoff des Hemdes in seine Handfläche. »Ohne Eure Hilfe hätte sie es wohl kaum rechtzeitig geschafft, zur Schlacht dazuzustoßen. Eine neue Verbindung wäre ohne den Dolch nicht möglich gewesen. Ich bin Euch mehr als nur zu Dank verpflichtet.«

Tirado winkte ab und ging langsam auf die Tür zu. »Seid mein Gast, Señor Capitan. Damit erweist Ihr mir Dank genug. Ich werde eine Kutsche schicken, die Euch und Eure Begleiterin abholen wird.«

»Es wird uns ein Vergnügen sein.«

Der Spanier nickte ihm kurz zu und verließ den Raum. Jess blieb nachdenklich zurück.

Entscheidungen

Tirado öffnete die beiden Fenster und machte einen Schritt hinaus auf den schmalen Balkon. Der Garten lag still und friedlich vor ihm. Das leise Plätschern des Brunnens mischte sich mit dem Spiel der Zikaden zu einer einschläfernden Hintergrundmelodie. Genau das, was er jetzt brauchte. Die Gespräche mit den Kommandanten der Silberflotte, die aus ihrer Sicht das Geschehen in der Schlacht geschildert hatten, waren ermüdend gewesen und hatten ihn letztendlich nur zu der gleichen Erkenntnis geführt, die auch Morgan bereits festgestellt hatte. Trotz aller Verluste war die Übernahme der Monsoon Treasure beinahe zu einfach gewesen. Der Kapitän war, laut Bericht von Admiral Gonzalez, geradezu mühelos überwältigt worden. Gonzalez hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass er Morgan verdächtigte, ein falsches Spiel zu spielen, um die Waidami direkt in den Hafen von Cartagena zu bringen. Unnachgiebig hatte er dazu geraten, den Piraten augenblicklich in Ketten zu legen und ihn nicht als Gast im Palast weilen zu lassen. Dazu war die überraschende Botschaft gekommen, dass die Waidami eine kleine Küstenstadt und ein Kloster überfallen hatten und niemand diese Massaker überlebt hatte. Tief atmete Tirado die kühle Abendluft ein. Nein, nicht Morgan war das Problem. Er seufzte und kniff die Augen zusammen.

Aus den Schatten der Gartenanlage traten zwei Gestalten, die eng beieinander gingen.

Am Brunnen blieben sie stehen, sodass das matte Licht sie beleuchtete. Das azurblaue Kleid, das Lanea trug, schimmerte tiefgründig wie das Meer in der Abenddämmerung. Der Manteau, der in Wellen dabei von ihren schmalen Schultern fiel, verstärkte den Eindruck. Schweigend stand das Paar sich gegenüber, vertieft in der Betrachtung des anderen, als müssten sie sich jede Einzelheit einprägen. Dann begann Lanea zu sprechen. Tirado konnte sie nicht verstehen, aber an den Gesten ihrer Hände und ihren unruhigen Schritten bemerkte er, dass ihre eigenen Worte sie stark aufwühlten. Schließlich blieb sie wieder vor dem Piraten stehen. Die junge Frau schüttelte heftig den Kopf. Eine Hand legte sie über ihren Mund, als wollte sie zu lautes Weinen unterdrücken, während sie mit der anderen ihre Mitte umschlang. Tirado spürte ihren Schmerz nahezu körperlich. Er konnte nur vermuten, dass sie gerade von dem Tode ihres Vaters berichtete.

Da stand diese junge Frau, vor der er ehrlichen Respekt empfand. So entschlossen, wie sie damals hier aufgetaucht war, um ihn um Hilfe zu bitten, hatte sie kaum etwas von den tiefen Wunden in ihrem Inneren gezeigt. Jetzt verlor sie jegliche Selbstbeherrschung. Ihr Gesicht war nach unten gesenkt, während ihre Schultern von Weinkrämpfen geschüttelt wurden. Jess Morgan stand ruhig da und hörte zu, ließ ihr Raum für ihren Schmerz. Erst als sie geendet hatte, nahm er sanft ihr Gesicht in seine Hände, hob es zu sich heran und sprach. Seine Worte schienen wie ein unsichtbarer Halt zu sein. Ihre Gestalt richtete sich daran auf, ihr Blick saugte seinen Anblick in sich auf. Der Pirat senkte seinen Mund auf ihre Lippen und küsste sie zärtlich. Laneas Arme schlossen sich dabei um seine schlanke Gestalt, und sie drängte sich an ihn, als ob nur in seiner unmittelbaren Nähe Trost zu finden war.

Tirado räusperte sich verlegen und ging rückwärts zurück in das Gebäude, bis er die beiden aus dem Blick verlor. Dieser Augenblick war nicht für ihn bestimmt. Dennoch war er froh, dass er Zeuge davon geworden war; bestätigte es ihn doch in seiner Meinung, dass man einen Mann nicht stur nach Gut und Böse einordnen konnte. Sicher hatte Morgan Verbrechen begangen, die ohne jede Rücksicht auf Geschlecht und Alter vorgegangen waren. Die Schiffe, die er gekapert hatte, waren allesamt mit der an Bord befindlichen Besatzung versenkt worden. Dennoch hob er sich von den anderen Piraten ab, hatte sich von seinem Gewissen leiten lassen und die Seiten gewechselt. Und daran hegte er keinen Zweifel, gleich, was Admiral Gonzalez glaubte. Morgan hatte bewiesen, dass es viele Facetten gab. Selbst zu tiefen Gefühlen war er fähig. Aus jedem Blick und jeder Geste in Richtung Laneas sprach eine Liebe, die er selbst bisher nicht kennengelernt hatte. Was Morgan und diese Frau füreinander empfanden, war unübersehbar ein kostbarer Schatz. Tirado seufzte leise. Seine Gedanken wanderten von alleine zu der Pergamentrolle, die ihm der Seher für Morgan ausgehändigt hatte und nun wie ein zu fettes Abendmahl schwer in seinem Magen lag. Es war an der Zeit, die Rolle zu übergeben. Ein Gedanke schlich wie ein dunkler Schatten durch die Nacht und setzte sich in ihm fest. Was, wenn dieses Schreiben nichts Gutes zu verkünden hatte?

Leise schloss Tirado die Fenster und damit den Garten und die beiden Menschen dort aus seiner Gegenwart aus. Er fürchtete, dass ihr Glück nur von kurzer Dauer sein könnte.

*

Im Verlaufe des Abends wurde Tirado immer ungeduldiger. Es war nun schon Stunden her, dass er Lanea und Jess im Garten beobachtet hatte. Das Mahl mit seinen Gästen zog sich dahin. Admiral Gonzalez und seine Gattin, vor allem diese, plauderten angeregt mit Morgan. Während seine Begleiterin Lanea sich nur zaghaft beteiligte, was dem Umstand geschuldet war, dass sie sich auf ungewohntem Terrain befand, kam von Kardinal Joaquin García Álvarez tadelnde Blicke und Worte der Geringschätzung. Nur mühsam konnte Tirado sich an die gebotene Höflichkeit halten und sich an der Konversation beteiligen, wie es von einem Gastgeber erwartet wurde. Seine Verpflichtungen, die er als Gouverneur hatte, waren an diesem Abend mehr als unerquicklich. In seinem Hinterkopf drohte die zu überreichende Pergamentrolle allgegenwärtig und verdarb ihm den Appetit, ohne dass er ihren Inhalt kannte.

»Für einen Piraten seid Ihr ungewöhnlich gebildet«, sagte gerade die Frau des Admirals und strahlte Morgan an, nicht ohne ihrem Gatten einen befangenen Blick zuzuwerfen.

»Tatsächlich?« Jess wandte sich der Dame mit einem charmanten Lächeln zu, die daraufhin hochrot anlief. »Ich nehme an, Ihr habt einen reichen Erfahrungsschatz an Begegnungen mit meinesgleichen?«

»Oh, nein! Gott sei Dank nicht! Oh, verzeiht. Ich meine ... Piraten trinken doch Rum, sagt man und sind grob und ...«

»Wundert es Euch wirklich, Donna Isadora, dass dieses Gesindel eine gewisse Bildung besitzt?«, fiel Kardinal Álvarez der Dame ganz ungalant ins Wort und hob in einer unnachahmlichen Geste die Augenbrauen. Damit wirkte er noch überheblicher als bereits zuvor. Sein Missfallen über die Gegenwart von Morgan stand offen in seiner aufgeblasenen Miene. Nur zu deutlich hatte Tirado die Auseinandersetzung mit ihm in Erinnerung, als der Mann von den gemeinsamen Plänen mit dem Piraten erfahren hatte. »Natürlich ist der Teufel gebildet! Um die Menschheit unbemerkt in ihr Verderben zu führen, benötigt es Verschlagenheit, Boshaftigkeit und leider auch Intelligenz. Wie sonst sollte ausgerechnet ein ehrenwerter Mann wie Señor Gouverneur Tirado y Martinez, der seinem Land tagtäglich zur Ehre gereicht, in die mit Verblendung ausgestattete Falle eines Piraten hineinstolpern, der sich wie ein Wolf unter das Leben von anständigen Bürgern schleicht?«

Tirado sog scharf die Luft ein, als der Pirat sich mit nicht deutbarer Miene an den Geistlichen wandte. Allerdings hegte er keinen Zweifel, dass Morgan den Frieden an der Tafel seines Gastgebers nicht gefährden würde.

»Möglicherweise gehören diese sicherlich negativen Eigenschaften zu meinem Leben dazu, wie die unerschöpfliche Liebe, die Ihr zu Euren Schützlingen hegt und in aller Großzügigkeit auch auf die einheimische Bevölkerung ausdehnt. Doch liegt es mir fern, mich in Unschuld gewandet unter meine Opfer zu begeben. Dies ist wohl mehr die Vorgehensweise, mit der die Indios Bekanntschaft von anderer Seite gemacht haben.«

»Es mangelt Euch an jeglichem Respekt unserem Herrn und seiner Gefolgschaft auf Erden gegenüber. Ich. ...«

»Das sagt jemand, der seine Demut auszieht wie seine Kutte, wenn er Angst hat, sie könnte beschmutzt werden?«

Hektische rote Flecken breiteten sich auf dem strengen Gesicht des hageren Mannes aus. »Señor Gouverneur!«, sagte er mit zitternder Stimme und erhob sich steif. »Ich komme nicht umhin, mich über die mehr als fragwürdige Gesellschaft an Eurer Tafel zu wundern. Ich verwahre mich davor, mit einem Mann das Mahl zu teilen, der seine Seele bekanntermaßen Satan verschrieben hat, ganz zu schweigen von der Schamlosigkeit, dass seine Mätresse ...«

»Genug!« Tirado erhob sich nun seinerseits, was den Bischof augenblicklich zum Verstummen brachte. Triumphierend warf er Morgan einen überheblichen Blick zu, in der festen Überzeugung nun die Unterstützung des gottesfürchtigen Gouverneurs zu erhalten, und setzte sich wieder. »Bei allem gebotenen Respekt, Eure Eminenz, aber wen ich an MEINE Tafel als Gast bitte, unterliegt ganz alleine meiner Entscheidung. Selbstverständlich liegt mir das Wohlbefinden jeden Gastes am Herzen, doch vor allem steht jeder Gast unter meinem persönlichen Schutz. Und so kann ich es ganz und gar nicht dulden, dass jemand an meiner Tafel beleidigt wird, gleich von wem. Ich ersuche Euch hiermit in aller Form, besinnt Euch auf die gebotene Höflichkeit und nehmt wieder Platz.«

Der Kardinal schnappte nach Luft: »Womöglich verlangt Ihr noch von mir, dieser Hu ...«

»Ich sagte genug.« Tirados Worte waren leise, aber nicht ohne Schärfe. »Zwingt mich nicht dazu, Euch hinausbitten zu müssen, Eure Eminenz.«

Der Mann schluckte. Die roten Flecken wurden von einem Augenblick auf den anderen von fahler Blässe überlagert, als er sich erneut erhob. Die Arroganz wich der Miene eines Märtyrers, als er langsam nickte. »Ganz wie Ihr wünscht, Señor Gouverneur. Ich bedaure sehr, dass die Falle dieses gotteslästerlichen Piraten Euren Verstand bereits derart fest umklammert hält. Doch ich verzeihe Euch und werde für Eure Seele beten, auf dass sie zurückkehren werde in die Gefilde der Wahrhaftigkeit!« Damit rauschte er davon, ohne noch einen Blick an einen der Umstehenden zu verschwenden.

Tirado hatte das unbestimmte Gefühl, sich den Kardinal gerade zu einem unliebsamen Feind gemacht zu haben. Nur zu genau wusste er, dass der Mann bereits seit einiger Zeit eine Liste mit Verfehlungen führte, die er als Gouverneur in den Augen des Geistlichen beging. Diese Auseinandersetzung gab seiner Geduld den Rest. Mit entschuldigendem Lächeln wandte er sich wieder der Tafel zu. Der Admiral legte gerade seine Serviette säuberlich gefaltet ab und nickte ihm zu.

»Ich denke, es war für uns alle ein langer und anstrengender Abend, Señor Gouverneur. Und ich habe meine Familie schon seit einigen Wochen nicht mehr gesehen.« Mit einer galanten Geste ergriff er die Hand seiner Frau, die sich daraufhin lächelnd erhob. »Wenn Ihr erlaubt, ziehen wir uns zurück.«

»Sehr gerne, Admiral.« Tirado lächelte ihm dankbar zu. Auch wenn Gonzalez Morgan misstraute, stand er doch absolut loyal zu den Entscheidungen, die er als Gouverneur traf. Ein Mann, von dessen Sorte er sich mehr in seiner Umgebung gewünscht hätte. »Eine Kutsche wird Euch nach Hause bringen. Donna Isadora!« Tirado verbeugte sich vor der Frau, die ihre besten Tage bereits hinter sich hatte, aber immer noch kokett lächelte wie ein junges Mädchen.

Als sie den Raum verließen, sah er ihnen unschlüssig hinterher. Er musste mit Morgan alleine sprechen. Lanea sollte bei der Übergabe der Pergamentrolle nicht anwesend sein.

»Ich bedaure diesen Zwischenfall, Señor Gouverneur.« Jess sah ihn unumwunden an. Er hatte sich ebenfalls erhoben und schien Anstalten zu machen, sich zu verabschieden. Lanea begegnete aufmerksam seinem Blick. Nur zu deutlich stand das Erkennen in ihren Augen, dass er alleine mit Morgan reden wollte. Sie legte dem Piraten leicht eine Hand auf den Arm, als auch sie langsam aufstand. »Ich denke, ich werde zur Treasure zurückkehren, wenn die Herren erlauben. Auch für mich war der Abend anstrengend in dieser doch sehr ungewohnten Umgebung.«

»Ich habe bereits Anweisung erteilt, ein Schlafgemach für Euch und Capitan Morgan richten zu lassen. Bitte erweist mir die Ehre und nehmt das Angebot an. Die Bequemlichkeit ist sicher ungleich höher als auf der Monsoon Treasure. Eine Kutsche wird die gesamte Nacht bereitstehen und Euch zum Hafen bringen, wenn Ihr es dennoch wünschen solltet.«

Lanea sah zögernd zu Morgan. Dessen Miene verzog sich zu einem wissenden Lächeln, als hätte sie ihm etwas zugeflüstert.

»Auch dieses Angebot nehmen wir nur allzu gerne an.« Er nickte und über das Gesicht der jungen Frau flog ein freudiger Schimmer.

*

Cristobal wartete, bis die Tür sich hinter Lanea geschlossen hatte. Jess Morgan hatte sich genau wie er selbst von seinem Platz erhoben und blickte ihr mit hinter dem Rücken verschränkten Armen hinterher. Sie standen sich gegenüber und sahen sich schließlich über den Tisch hinweg an.

»Lasst uns den Abend bei einem Glas Portwein auf der Terrasse beschließen, Capitan Morgan.« Unschlüssig glitt Cristobals Blick zu der schmalen Schatulle, die am Ende des Tisches stand. Das Mahagoni, aus dem sie bestand, glänzte frischpoliert und verriet nichts über ihren Inhalt. Jess‘ Augen verengten sich kaum merklich und folgten seinem Blick. Auch wenn der Pirat entspannt wirkte, schien nicht das Geringste seiner Aufmerksamkeit zu entgehen. Dann nickte er und betrat nachdenklich an seiner Seite die Terrasse.

»Nehmt Platz, mein Freund«, sagte er und deutete auf einen Stuhl. Er selbst nahm gegenüber Platz und nickte dann Rodriguez zu, der abwartend neben der Tür stand.

Augenblicklich eilte der Diener eilfertig herbei und platzierte mit eleganten Bewegungen zwei zierliche Kristallkelche und schenkte aus einer kunstvoll geschliffenen Karaffe den Portwein ein.

»Du darfst dich zurückziehen, Rodriguez. Ich benötige deine Dienste heute Abend nicht mehr.«

»Ganz wie Ihr wünscht, Señor Gouverneur.« Der Diener verbeugte sich steif und schritt davon.

Tirado hob sein Glas und schwenkte es behutsam, sodass die blutrote Flüssigkeit in sanften Kreisen darin umher floss. Es wirkte träge und stand so im scharfen Gegensatz zu der verheißungsvollen blutroten Farbe des Getränks. Versonnen schnupperte er an dem Glas und betrachtete sein Gegenüber über den Rand hinweg.

Dieser Moment war einer der seltenen in seinem Leben, in denen er nicht wusste, wie er das folgende Gespräch beginnen sollte. Diesmal saß ihm kein spanischer Abgesandter gegenüber oder irgendein Kaufmann, die es mit geschickten Reden für sich einzunehmen galt. Ihm gegenüber saß ein Pirat, den er tatsächlich als einen Freund betrachtete und über dessen Unberechenbarkeit er sich durchaus im Klaren war. Tirado hatte nicht die geringste Ahnung, ob dieser Mann ihn seinerseits als Freund betrachtete. Aber wenn er die letzten Begegnungen mit ihm Revue passieren ließ und den vergangenen Tag, dann hatte er daran keinen Zweifel. Jess Morgan hatte ihm die Reste der Silberflotte zurückgebracht und die Schiffe mit den versprochenen Schätzen als Entlohnung waren noch während des Abendessens im Hafen eingelaufen. Noch immer musste Cristobal darüber staunen, wie viele Schätze diese Piraten im Laufe ihrer Karriere gehortet haben mussten. Zwei Schiffe der Silberflotte waren randvoll mit den unglaublichsten Schätzen zurückgekehrt. Natürlich war nicht zu übersehen gewesen, dass die Mehrzahl davon ohnehin nur zu ihrem rechtmäßigen Besitzer zurückgebracht wurde. Fast hätte er geschmunzelt, wenn er nicht dem aufmerksamen Blick Morgans begegnet wäre, der ihn nicht aus den Augen ließ. Plötzlich verzog sich Morgans Gesicht zu einem breiten Grinsen.

»Verzeiht, wenn es so scheint, als würde ich mich über Euch amüsieren, Señor Gouverneur. Aber ich komme nicht umhin festzustellen, dass Ihr eine ungewöhnliche Anspannung ausstrahlt.« Jess lächelte ihn an, dann lehnte er sich entspannt zurück und schlug seine langen Beine übereinander.

Tirado nickte.

»Ihr verfügt in der Tat über eine ausgeprägte Beobachtungsgabe.« Tirado stand auf und schüttelte abwehrend den Kopf, als Jess sich ebenfalls erheben wollte. »Bitte bleibt sitzen, aber erlaubt mir zu holen, was diese Anspannung auslöst.«

Der Pirat nickte seinerseits und beobachtete, wie der Gouverneur wieder in den Speiseraum trat, die Schatulle an sich nahm und zurück auf die Terrasse trug. Behutsam stellte Tirado seine Fracht auf dem Tisch ab. Jess Morgan hob fragend eine Augenbraue und betrachtete ihn wortlos.

»Kurz nachdem Ihr mit der Silberflotte den Hafen von Cartagena verlassen habt, hatte ich, wie Ihr ja bereits wisst, Besuch von Eurer reizenden Navigatorin, die mich um Hilfe bat. – Was Ihr nicht wisst, ist, dass ich noch weiteren Besuch erhielt, kaum dass Lanea den Palast verlassen hatte.« Tirado machte eine Pause, in der er aufmerksam Jess beobachtete. Doch dieser saß völlig entspannt da, lediglich das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden. »Es handelte sich um einen Seher, und er behauptete, er wäre ein Freund von Euch.«

Der gelassene Ausdruck im Gesicht des Piraten wich, und blankes Misstrauen trat in seine Augen. Er saß weiterhin regungslos da, doch Tirado hatte auch bemerkt, wie eine kaum sichtbare Anspannung durch seinen Körper lief. Das Raubtier in diesem Mann witterte Gefahr und vermittelte nun den Eindruck, jederzeit zum Angriff übergehen zu können.

»Er hat sich nur kurz hier aufgehalten und stellte sich als ein Freund Tamakas vor. Durch den vorhergehenden Besuch Laneas war mir dieser Name nicht unbekannt. Sie hatte mir erzählt, dass er ihr Vater gewesen war, und dass er sein Leben dabei verlor, für Euch den Dolch der Thethepel zu stehlen. Da die Bitte, die er an mich richtete, mir von harmloser Natur erschien, sah ich keinen Grund dafür, in ihm eine Gefahr zu sehen. Er übergab mir eine schlichte Schriftrolle, die ich allein an Euch weiterreichen sollte, nachdem Ihr von der Schlacht zurückgekehrt seid. – Der Mann legte größten Wert darauf, dass Ihr diese nicht erhaltet, solange Eure Begleiterin zugegen ist.«

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