Kitabı oku: «Die Tränen der Waidami», sayfa 4

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Jess schluckte, als ihn Cales Entschlossenheit traf.

»Ich weiß! Auch mir tut es leid«, entgegnete er ebenso leise und tiefe Trauer erfüllte ihn. »Und ich kann nicht zulassen, dass du mich aufhältst, mein Freund.«

Als Cale die Pistole herausriss, griff Jess zu. Mit der einen Hand packte er ihn am Handgelenk und versetzte ihm mit der anderen einen schweren Schlag unter das Kinn. Die Pistole fiel klappernd auf die Planken, und Cale wurde ein Stück zurückgeworfen. Mit einem ächzenden Laut krachte er gegen die Reling und rutschte benommen an ihr herunter.

Jess war mit einem Satz bei ihm und zerrte ihn wieder auf die Beine.

»Du lässt mir keine andere Wahl, Cale«, sagte er ruhig und gab seinem Ersten Maat einen kräftigen Stoß. Mit ungläubig aufgerissenen Augen fiel dieser rücklings über die Reling.

Erstarrtes Schweigen in Jess‘ Rücken folgten dem lauten Klatsch, als Cale im Wasser aufschlug. Jess beugte sich nach vorne und atmete erleichtert auf, als der Kopf seines Freundes kurz darauf prustend aus dem Wasser auftauchte.

Wütend sah Cale zu ihm hoch.

»Du bist ein verdammter Idiot, Jess Morgan! Das ist ein Fehler, du wirst sehen!«

»Spar dir deinen Atem. Bis zur Pier zurück ist es noch ein ganzes Stück, Cale. Such den Gouverneur auf, er wird dir helfen.« Jess richtete sich auf. Sein Blick glitt zurück zum Hafen. Die Monsoon Treasure segelte gerade unter den Kanonenmündungen der östlichen Festungsanlage hindurch und würde gleich das offene Meer erreichen. Es war ein weites Stück zu schwimmen, aber Jess hatte keinen Zweifel daran, dass Cale die Strecke bewältigen würde.

»Leb wohl, mein Freund«, setzte er leise hinzu. Wieder hatte er eine Brücke eingerissen und mit dem Gefühl, dass die Verfolgung seiner Ziele doch so viel mehr als Preis forderte als nur sein Leben, nahm er wieder seinen Platz auf dem Achterdeck ein.

»Kurs Bocca del Torres, Männer!«, sagte er entschieden und lauschte den Strömungen seiner Männer, die ihm zum ersten Mal von ihren Zweifeln erzählten, ob er gerade das Richtige tat.

*

Lanea ließ die Schriftrolle sinken und schloss ergeben die Augen.

Bei den Göttern, dachte sie verzweifelt und konzentrierte sich auf den Rhythmus ihrer Atmung, in der Hoffnung, sich so an die reale Welt um sie herum klammern zu können und nicht den Verstand zu verlieren. Konnten sie denn niemals wieder Ruhe finden? Sie konnte es einfach nicht glauben, was sie gerade gelesen hatte. Aber es erklärte den überstürzten Aufbruch von Jess und zerriss ihr Herz.

Jess hatte sich nicht einmal umgedreht, als sie ihn gerufen hatte. Nein, sie hatte nicht gerufen. Sie hatte seinen Namen geschrien und damit beinahe die gesamte Dienerschaft auf den Plan gerufen. Tirado war bereits dort gewesen, und sie war ihm geradewegs in die Arme gelaufen, mit denen er sie zurückgehalten hatte.

Tirado!

Lanea öffnete die Augen und begegnete dem teilnahmsvollen Blick des Gouverneurs. Doch unmittelbar hinter seinem Mitgefühl drängte sich die Ungeduld hervor und legte sich auf seinem gutaussehenden Gesicht nieder. Er hoffte unverkennbar darauf, endlich von ihr den Inhalt der Schriftrolle erfahren zu können. Doch Cristobal Tirado y Martinez war nicht der Mann, der dieser Regung nachgeben würde und sie in der gegenwärtigen Situation zu irgendetwas drängte. Seine Hände ruhten also entspannt auf den Armlehnen seines Stuhles. Seine langen Beine hatte er lässig von sich gestreckt und vermittelte den Eindruck, dass er eine zwanglose Gesellschaft genoss.

Lanea seufzte leise, und ihr Gegenüber hob unmerklich eine Augenbraue.

»Möchtet Ihr, dass ich Euch das Schreiben übersetze?«

»Ich möchte wirklich nicht ungeduldig erscheinen, angesichts der Situation, in der Ihr Euch momentan befindet, aber – ja – ich wäre Euch zutiefst dankbar, wenn Ihr mir den Inhalt offenbaren könntet.« Tirado hatte seine Beine eingezogen und sich aufrecht hingesetzt. Aufmunternd lächelte er sie an. »Ich weiß, dass es sehr schmerzlich für Euch sein muss.«

Lanea presste die Lippen fest aufeinander und nickte. Sanft streichelte sie mit den Fingerspitzen über die Schriftzeichen. Die letzten Überbleibsel eines Lebens, das von der Besessenheit seiner Visionen gezeichnet war und deren Intensität auch überdeutlich zwischen den Worten dieses Schriftstückes lag. Lanea verweilte einen Moment, in dem sie die Gegenwart Tirados fast vollständig vergaß. Erst als auf ein leises Klopfen hin ein Diener eintrat und dem Gouverneur verstohlen etwas zuflüsterte, fand sie wieder zurück in das Hier und Jetzt.

Tirado bedachte sie mit einem merkwürdigen Blick und erhob sich elegant aus seinem Stuhl.

»Entschuldigt mich bitte einen Augenblick. Es wird nicht lange dauern.« Dann folgte er dem Diener, der mit teilnahmslosem Gesicht an der Tür wartete, dass sein Herr ihm folgte.

Was mochte so dringend sein, dass der Gouverneur seine Neugierde vergaß und sie alleine zurückließ? Unentschlossen stand sie auf und trat an das große Fenster, das den Blick auf den Garten freigab, dessen Springbrunnen sie bei ihrem ersten Besuch so fasziniert hatte. Doch jetzt empfand sie das Rauschen der beständigen Wasserfontäne als störend und verschwenderisch. Eine überflüssige Spielerei, die oberflächlich eine heile Welt vorgaukelte, in der es eben nicht nur um Spiel, sondern um Leben und Tod ging. Düster betrachtete sie die Palmen, die um den Brunnen herum gepflanzt waren. Zorn stieg in ihr auf, doch die Tür wurde wieder geöffnet und riss sie aus ihren Gedanken.

»Ich muss Euch nochmals um Verzeihung bitten, Lanea. Ich werde Euch gleich von den Nachrichten, die ich erhalten habe, berichten, doch ich möchte zunächst auf das Schriftstück zurückkommen, wenn Ihr gestattet.«

Lanea nickte und hob das Schriftstück, das sie immer noch in Händen hielt. Nervös fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen und begann:

»Jess, mein Sohn!

Ich kann nicht umhin, diese Anrede für Dich zu verwenden, auch wenn ich weiß, dass Du es, nein, dass Du mich verabscheust. Aber dieses Wort verleiht dem Ausdruck, was ich für Dich empfinde; was ein Vater für seinen Sohn empfindet, mit all seinen Sorgen und seinem Stolz.« Lanea hielt mit zitternder Stimme inne und rang um Fassung. Ihre Kehle schnürte sich bei jedem Wort weiter zu, und sie räusperte sich mehrfach, bevor sie weiterlas: »Wenn Du dieses Schriftstück erhältst, befindet ihr euch, Du, Lanea und die Crew in Sicherheit, und die Monsoon Treasure ist wieder ein Teil von Dir. Doch der Sieg ist kein wirklicher Sieg. Gerade habt Ihr von dem Überfall auf die Abtei von Santo Domingo und auf Puerto Cabballas erfahren, u nd das wird nicht alles sein, was die Waidami in naher Zukunft zerstören werden. Jedes erreichbare Kloster wird vernichtet werden, denn die Waidami wollen keine Religion neben der ihren dulden. Keine Küstenstadt, kein Fischerdorf, selbst Cartagena wird sicher sein, wenn es mir nicht gelingt, Dich davon zu überzeugen, dass meine Vision kein Hirngespinst ist und Du der Schlüssel zur Vernichtung Bairanis bist. – Du hast mich auf Bocca del Torres gefragt, ob Du am Ende frei sein wirst, und ich habe Dir nicht geantwortet. Die Antwort darauf geht über meine Kräfte. Es gibt keine Gewissheit, denn wie Du weißt, sind die Visionen letztendlich nur Möglichkeiten, doch ich sehe auch jetzt nur ein Ende voller Leid und Schmerz.« Laneas Stimme versagte abrupt. Sie hatte den Text doch schon gelesen und wusste genau, was darin stand. Wieso konnte sie nicht einfach vorlesen, ohne mit den Tränen kämpfen zu müssen? Ihr Blick verschleierte sich und sie wischte sich hastig über die Augen. Reiß Dich zusammen, ermahnte sie sich und holte tief Luft: »Dein Ende wird von dem gleichen Fluss gespeist wie Dein Leben; er ist voller Steine und Untiefen. Die Angst davor, Einzelheiten zu nennen und Dich damit dazu zu verleiten, die falschen Entscheidungen zu treffen, ist einfach zu groß. Alles wäre gefährdet! Aber mein Freund Durvin, der ebenfalls ein Seher ist und der Überbringer dieser Nachricht, wird Dich, soweit es in seiner Macht steht, unterstützen und über Dich wachen. Doch manche Dinge sind leider unvermeidbar auf dem Weg, der vor Dir liegt. Jess, es fällt mir schwer, denn ich weiß, was ich von Dir verlange, aber verlasse unverzüglich Cartagena und begib Dich nach Bocca del Torres. Waidami-Schiffe werden an der Insel patrouillieren und Dich dort finden und gefangen nehmen. Auch wenn es Dir unwahrscheinlich erscheinen mag, aber Bairani will Dich und braucht Dich, um seine Macht und seinen Schrecken in die Karibik zu tragen. – Ein Weg, der unglaublich viel verlangt und doch ist der andere Weg, der Dir offensteht, nicht weniger leidvoll. Schon bald ist die Übermacht der Waidami so groß, dass der spanische Gouverneur gezwungen ist, Hilfe aus Spanien zu erbitten. Doch keinem seiner Schiffe wird der Durchbruch gelingen und die so dringend benötigte Hilfe wird nicht eintreffen. Die spanischen Schiffe werden zum größten Teil vernichtet und selbst Cartagena wird fallen. Danach gibt es niemanden mehr, der sich noch gegen die Waidami stellen könnte. Lanea wird, wie unzählige andere, bei einem Angriff ums Leben kommen, und Du bleibst gebeugt unter der Last des Wissens zurück, dass Du dies hättest verhindern können. – Erneut meine Bitte, mein Flehen, verlasse auf der Stelle Cartagena. Nur, wenn Du Dich dem Willen Bairanis unterwirfst, wird Dir auf diesem Weg ein Mensch begegnen, der das Schicksal zu unseren Gunsten wenden wird, und nur so wird Dir die Gelegenheit verschafft werden, Bairani zu töten. – Mit einem Gewissen, das voller Schuld auf Dein Leben blickt, erbitte ich Deine Vergebung – Tamaka« Laneas Stimme wurde bei den letzten Worten immer leiser. Dann ließ sie die Rolle kraftlos sinken. Ihre Augen brannten so sehr, dass die Tränen dahinter unter dem Schmerz einfach versiegten.

Tirado räusperte sich leise, nahm Lanea behutsam die Schriftrolle ab und legte sie beiseite.

»Er hatte keine Wahl …«

Seine Berührung war angenehm tröstlich, als er seine Hände um ihre schloss und sie aus seinen warmen, braunen Augen ansah.

»Es tut mir leid, Lanea.« Die Stimme des Gouverneurs legte sich wie ein weicher Verband über ihre frische Wunde und milderte den Schmerz, der dennoch da war und pochte wie bei einer Entzündung. »Jess musste gehen, und er musste Euch zurücklassen. Unmöglich kann er Euch dem aussetzen, mit dem er jetzt rechnen muss. Eins muss ich Eurem Vater lassen, Lanea, er hat sehr geschickt seine Worte gewählt und Jess damit in eine Ecke gedrängt.« Sanft, aber bestimmt, führte er Lanea zu der Sitzgruppe vor dem Kamin und deutete ihr, sich zu setzen. »Ich hatte ja bisher immer so meine Zweifel an diesen Visionen, aber es entbehrt jeder logischen Erklärung, dass Euer Vater von den Überfällen bereits wusste. – Ich gebe es ungern zu, aber es ist nicht von der Hand zu weisen, dass seine Visionen anscheinend doch erschreckend zutreffend sind.« Tirado rieb sich nachdenklich über das Kinn und richtete seinen Blick aus dem Fenster. »Ihr seid nicht die Einzige, die Jess zurückgelassen hat.« Er nickte dem Diener zu, der unauffällig eingetreten war und jetzt sofort wieder durch die Tür verschwand.

»Wer ist noch …« Das erneute Öffnen der Tür unterbrach Lanea, und sie sah sich überrascht um. »Nein!«, rief sie und hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund.

»Doch!« Cale nickte zynisch, während er auf sie zukam. Seine Haltung zeugte von unterdrückter Wut und war so untypisch für den sonst so gelassenen Mann. »Jess hat mich eigenhändig über Bord geworfen, als ich mich geweigert habe, seinem unsinnigen Plan blind zu folgen.«

*

Tirado deutete auf den Platz neben Lanea. Cale setzte sich dankbar in den weichen Sessel, und Lanea ergriff stumm seine Hand. Ihr Mund war völlig ausgetrocknet. Jess hatte Cale über Bord geworfen? Sie konnte es nicht glauben, aber seine dunklen Haare schimmerten noch feucht, und er trug Kleidung, die sie nicht kannte.

»Lanea, wäret Ihr ein weiteres Mal so freundlich, das Schreiben Eures Vaters vorzulesen?«

Lanea nickte Tirado langsam zu und nahm das Pergament entgegen, das er ihr reichte.

»Ein Schreiben Tamakas?« Cale sah sie verwundert an.

Zögernd nickte sie erneut. Erst jetzt fiel ihr auf, wie erschöpft Cale wirkte, und sie fragte sich, wie weit er hatte schwimmen müssen. Jess schien völlig unberechenbar geworden zu sein. Was mochte bloß in ihm vorgehen?

Erneut las sie den Text mit leiser und tonloser Stimme vor, doch diesmal ließ sie die Bedeutung der Worte nicht in ihr Bewusstsein dringen. Als sie endete, rang sie nach Atem wie nach einer großen Anstrengung.

Tirado musterte Cale, der Lanea anstarrte und immer wieder den Kopf schüttelte.

»Ich kann es nicht glauben.« Cale drückte Laneas Hand.

»Und doch hat die Vergangenheit gezeigt, dass diese Visionen ernst zu nehmen sind. – Die Frage ist, wie leisten wir unseren Beitrag dazu?«

»Ich weiß nicht, ob ich bereit dazu bin, einen Beitrag zu leisten. Jess hat sehr deutlich gezeigt, dass er kein Interesse an meiner Hilfe hat.« Cale schloss verbittert und verschränkte die Arme vor der Brust. Lanea betrachtete ihn erstaunt. Er wirkte wie ein beleidigtes Kind, das die anderen beim Spielen nicht dabei haben wollten. Sie fühlte sich ähnlich. Jetzt, in diesem Augenblick wollte sie nichts anderes als nur fort. Weit fort von diesem Ort, an dem sie sich dummerweise zuerst sicher und glücklich gefühlt hatte; weit fort vom Meer, das trotz seiner unendlichen Möglichkeiten doch Schuld an all ihrer Qual hatte. Das Meer, die Schiffe und das Land, das es zu erobern und zu besitzen galt.

Tirado nickte langsam. »Ich verstehe Eure Entscheidung, Señor Stewart. Bedauerlicherweise steht mir diese Freiheit nicht zu. Ich bin für diesen Teil der Neuen Welt verantwortlich und kann nicht zulassen, dass die Waidami das Volk tyrannisieren und sich das Vermögen aneignen, das dem spanischen König zusteht.« Der Gouverneur betrachtete nachdenklich Lanea. Sie saß wie erstarrt in dem Sessel und umklammerte immer noch das Schreiben. Gedankenverloren strich sie über die geliebte Handschrift. »Ich musste Jess versprechen, für Euch Sorge zu tragen, Lanea. Lasst mich Euch und Señor Stewart ein Angebot machen, bei dem es Euch an nichts mangeln wird. Ich wüsste einen Ort, an dem die Waidami keine Bedrohung darstellen sollten. Das Meer ist beinahe einen Tagesritt entfernt.«

Lanea blinzelte ihn an. Hatte er ihre Gedanken gelesen? Tirado lächelte verständnisvoll und wandte sich Cale zu: »Ich besitze eine Zuckerrohr-Plantage auf einer Insel, deren Verwalter gestorben ist. Ein Posten, von dem ich überzeugt bin, dass Ihr ihn zu meiner vollsten Zufriedenheit ausfüllen würdet. Dort ist genug Platz für Euch und Lanea; solange es Euch beliebt, soll es Euch ein Zuhause sein.«

»Ich weiß nicht, ob ich darüber in diesem Moment eine Entscheidung treffen kann.« Zweifelnd betrachtete Cale den Gouverneur.

»Nun, betrachtet es als eine Möglichkeit, fernab von den Ereignissen Eure Gedanken in Ruhe zu klären. Ihr könntet ungestört Eure weitere Vorgehensweise überdenken. Und wenn Ihr beschließt zu gehen, wird Euch niemand im Weg stehen.«

Cale wiegte den Kopf nachdenklich hin und her und wechselte einen langen Blick mit Lanea. Dann stand er auf, reichte Tirado die Rechte, die dieser ergriff. »Ihr seid ein großzügiger Mann, Señor Gouverneur, und ich verstehe nun, warum Jess von Euch als einen Freund gesprochen hat. Ich werde Euer Angebot mit Dank annehmen.«

»Mein Angebot ist nicht so uneigennützig wie es scheint. Ihr tut mir einen Gefallen, wenn Ihr den freien Posten übernehmt. Ein Verwalter ist dringend notwendig. Mir mangelt es an Zeit, mich selbst darum zu kümmern.« Tirado wandte sich wieder Lanea zu: »Was ist mit Euch?«

»Es gibt nichts, was mich hier noch hält.« Lanea zögerte nicht. Sie wollte nur fort von hier; fort von den Erinnerungen und einen Ort finden, der sie auf andere Gedanken bringen würde. »Ich bin erleichtert, dass Ihr mir eine derartige Zuflucht bietet. Wie kann ich Euch jemals dafür danken?«

»Ihr schuldet mir keinen Dank. Ich gab mein Wort, Lanea. Es bindet mich, solange ich lebe und in der Lage bin, es zu erfüllen. Wenn Ihr es wünscht, wird ein Schiff bereits in den nächsten Tagen mit Euch aufbrechen.«

Lanea sah zu Cale hinüber, der ihrem Blick begegnete und dann nickte. »Gerne«, antwortete Lanea und reichte Tirado nun auch die Hand. Sanft umschloss er ihre Finger und beugte sich galant darüber, um einen Kuss anzudeuten. Sie genoss die Berührung und zog die Hand auch nicht fort, als er sie nicht aus seinem Griff entließ. Es lag so viel Trost darin, dass es ihr beinahe die Stimme raubte. »Was werdet Ihr jetzt unternehmen?«, fragte sie dennoch.

»Ich werde unverzüglich Kundschafter aussenden. – Rodriguez!« Tirado ging mit schnellen Schritten zu dem Schreibtisch, der in einer Ecke des Raumes stand. Unauffällig öffnete sich die Tür und der Diener trat ein. »Ihr wünscht, Señor Gouverneur?«

»Ruft einen Boten. Ich habe dringende Befehle für Capitan Mendez und Capitan Fernandez.«

»Jawohl.« Rodriguez verbeugte sich und zog sich zurück.

Tirado zog einen Bogen Pergament aus einer Schublade, tauchte den Federkiel in das bereitstehende Tintenfass und begann zu schreiben.

»Frederico Mendez ist der Kapitän der Neptuno. Er ist einer meiner zuverlässigsten Männer. Er wird dem spanischen Hof eine Nachricht überbringen, damit wir von dort möglichst schnell mit Verstärkung rechnen können.« Die Feder tanzte eilig über das Pergament, stoppte aber plötzlich. Nachdenklich sah Tirado auf Lanea und Cale. »Capitan Fernandez kennt Ihr bereits, Lanea. Er wird Euch und Señor Stewart sicher nach Kuba bringen.«

Ein Schiff würde sie SICHER nach Kuba bringen! Erst jetzt bemerkte Lanea, wie unbeteiligt sie die letzten Minuten hier gesessen hatte. Doch dieser Satz rüttelte sie auf. Die vertraute Monsoon Treasure gefährdete von nun an ihre Sicherheit. Die Monsoon Treasure und die Männer darauf waren jetzt der Feind. Der Gedanke war nur schwer zu ertragen. Müde erhob sie sich. Sie wollte nur noch alleine sein. Augenblicklich standen auch Cale und Tirado auf.

»Ich möchte mich zurückziehen, Señor Tirado, bitte.«

»Selbstverständlich, Lanea.« Tirado trat um den Tisch herum. »Rodriguez wird Euch begleiten. Sollte Euch der Sinn nach einem neuen Zimmer stehen, so wird er Euch ein neues richten lassen.«

»Danke. Ihr seid zu liebenswürdig, aber das wird nicht nötig sein.«

»Dann bleibt mir nicht mehr, als Euch zunächst einen ruhigen Schlaf zu wünschen.«

Lanea lächelte ihn dankbar an. Als würde Rodriguez sein ganzes Leben hinter der Tür verbringen und daran lauschen, öffnete sich diese jetzt. Mit einer kurzen Geste deutete er in den Flur und sagte: »Wenn Ihr mir bitte folgen würdet.«

Lanea drehte sich noch einmal kurz zu dem jungen Gouverneur um. Sein Blick war freundlich, aber die Sorge in seinen Augen konnte er nicht verbergen. Irgendwie hatte sie das starke Gefühl, dass die Informationen ihres Vaters nicht verhindern konnten, was vor ihnen lag. Gleichgültig was Tirado auch alles unternehmen würde, um dem zuvor zu kommen. Ein Grund mehr, Cartagena zu verlassen, auch wenn sie Tirado alles Gute wünschte.

»Viel Glück!«, sagte sie leise und folgte Rodriguez hinaus. »Ihr werdet es brauchen.«

Ausgeliefert

Der Anker der Monsoon Treasure fiel klatschend in das türkisblaue Wasser und zerriss für einen flüchtigen Moment die spiegelglatte Oberfläche.

Bocca del Torres!

Jess machte einen tiefen Atemzug und blickte über den Strand der kleinen Bucht, die ihnen seit vielen Jahren als Zuflucht diente. Die Hütten säumten den Übergang zum Inneren der Insel und schienen auf ihre Bewohner zu warten.

Doch die Ruhe war trügerisch. Jess waren nicht die kleinen Boote entgangen, die an dem einfachen Steg lagen. Ein dumpfes Gefühl breitete sich in seinem Inneren aus. Ein weiteres Zeichen, dass Tamaka Recht behalten sollte. Die ersten Waidami waren hierher geflüchtet.

»Endlich wieder zu Hause!« Jintel trat mit einem breiten Grinsen neben seinen Captain. »Die Männer freuen sich auf ein paar Tage der Ruhe.«

»Wir haben Besuch«, entgegnete Jess knapp und verließ das Achterdeck, während Jintel ihm folgte.

»Ja, aber ist es nicht genau das, was du uns erzählt hast? Du hast doch nicht etwas anderes erwartet, oder? Captain?«

»Vielleicht hatte ich einfach gehofft, dass der Seher sich wenigstens in einer Sache irrt.«

Zwischen den Palmen und den dichten Büschen hinter den Hütten waren Bewegungen zu erkennen. Ihre Besucher verbargen sich also im Schutz des Dickichts. Jess öffnete sich für die Strömungen und traf auf die unterschiedlichsten Gefühle und Erwartungen. Zwischen Angst vor ihnen und der Hoffnung, dass sie hier ein sicheres Zuhause gefunden haben mochten, konnte er alles spüren.

Mit einem Seufzen wandte er sich an Jintel, der ebenfalls die Bewegungen entdeckt hatte.

»Nimm dir ein paar Männer und sorge für ordentliche Unterkünfte, Jintel. Aber die Leute erhalten ihren eigenen Bereich. Dieser Strand ist leider nicht sicher genug. Hast du einen Vorschlag?«

»Weiter südlich im Landesinneren befindet sich eine kleine Lichtung mit einem Frischwasservorkommen. Ich denke, das sollte für den Anfang ein guter Platz sein. Sie sind nicht sofort von See aus zu entdecken.«

Jess nickte nachdenklich. »Gut. Kümmere dich um alles Erforderliche. Und vor allem schärfe ihnen ein, dass sie an diesem Strand in nächster Zeit nichts zu suchen haben. Du bist mir für diese Menschen verantwortlich.«

»Aye, Captain.« Jintel räusperte sich und warf ihm einen langen Blick zu. Auch in ihm hatte sich die Unsicherheit vor dem Ungewissen eingenistet. Seine Strömung hatte den ruhigen und unerschütterlichen Fluss verloren. Es war bei Jintel nicht anders als bei den anderen Männern der Crew. Eine Frage lastete auf ihm, die er nicht länger zurückhalten konnte:

»Was erwartet uns, Jess? Hat Tamaka dazu etwas gesagt?«

»Die Waidami werden hierher kommen und mich holen, Jintel«, entgegnete er ruhig. »Das war alles, was in dem Schreiben stand. Aber ich fürchte, dass es nicht dabei bleiben wird. Du solltest dich mit den Männern ebenfalls ins Innere der Insel zurückziehen. Es ist besser, wenn ihr nicht mehr hier seid, wenn sie kommen.«

»Du erwartest allen Ernstes, dass wir dich hier alleine zurücklassen?«

»Ich erwarte, dass ihr meine Befehle befolgt.«

Jintel presste aufgebracht die Lippen zusammen. Sein Unterkiefer mahlte, als kaute er auf einem besonders zähen Stück Fleisch herum. Jess brauchte seine Strömungen nicht zu lesen, um zu wissen, was in ihm vorging: Es widerstrebte ihm, sich einfach zurückzuziehen.

»Die Waidami werden wissen, dass du die Treasure nicht alleine hierher gesegelt hast. Und ihnen sollte wohl kaum verborgen bleiben, dass einige aus ihrem Volk hier untergeschlüpft sind. Torek wird dies alles berücksichtigen, wenn ich diese kleine Schmeißfliege richtig einschätze.«

»Du redest beinahe wie Cale.«

»Wirfst du mich jetzt auch über Bord?«

Auch wenn Jintel ihn schwach angrinste, spürte Jess den Ernst hinter dieser Frage.

»Es würde wohl kaum etwas nützen.« Er schüttelte den Kopf und legte dem bulligen Mann kurz die Hand auf die Schulter. »Ich möchte euch aus der Sache raushalten. Torek ist ein unberechenbarer Wahnsinniger. Möglicherweise wird er euch töten lassen, nur um mich zu treffen. Dieses Risiko kann ich nicht eingehen.«

»Was stellst du dir also vor? Was sollen wir tun?«

»Am liebsten wäre mir, wenn ihr die Insel verlasst. Aber dann sind die flüchtigen Waidami hier alleine, und sie sind sicherlich nicht weniger gefährdet.« Jess warf einen langen Blick auf die Hütten. »Wenn ich Torek wäre, würde ich zuerst auf die Hütten feuern lassen. Sie sind ein hervorragendes Ziel, und das Zeichen, das er damit setzt, ist von See aus direkt für alle zu sehen, die diese Bucht ansteuern.« Tatsächlich war es wahrscheinlich gleich, wohin er seine Männer schicken würde. Torek wusste es längst. Wenn er ihnen wirklich etwas antun wollte, würde es für ihn ein Leichtes sein, sie aufzuspüren.

»Ihr zieht euch alle mit den Flüchtlingen zurück. Und kommt erst wieder herausgekrochen, wenn sie mit mir die Insel verlassen haben.«

Jintels Blick flackerte, dann senkte er die Augen. Seine Hände ballten sich langsam zu Fäusten, die schon so manchen Schlag ausgeführt hatten, doch jetzt nur hilflos an seinen Seiten herabhingen. »Ich werde mich in meine Kajüte zurückziehen. Du sorgst dafür, dass die Männer verschwinden.«

»Du willst es ihnen nicht selbst sagen?« Diesmal lag ein klarer Vorwurf in seiner Stimme, die Jess noch mehr an Cale erinnerte. Als hätten die beiden Männer eine geheime Absprache getroffen.

»Es gibt nichts mehr zu sagen.« Jess nickte ihm zu und drehte sich um. Während er auf das Schott zuging, sperrte er die Strömungen seiner Umgebung aus. Er wollte alleine sein und sich nicht von ihnen beeinträchtigen lassen. Sie auf diese Weise zu verlassen, fiel ihm schwerer, als er zugeben wollte.

Als er kurz darauf die Tür seiner Kajüte hinter sich schloss, stand er zunächst da und lauschte auf die Geräusche, die von Deck herunterdrangen. Jintel brüllte mit rauer Stimme seine Befehle, auf die seine Männer unverzüglich reagierten, als wären sie alle über eine unsichtbare Schnur miteinander verbunden. Eingespielt, wie sie waren, dauerte es nicht lange, bis sich Totenstille über die Treasure ausbreitete. Jetzt war er wirklich allein. Jess stand immer noch an der Tür und starrte in das Innere des Raums. McDermott hatte die Treasure nicht lange genug in seinem Besitz gehabt, um große Veränderungen vornehmen zu können. Die wenigen Sachen, die Jess von ihm gefunden hatte, hatte er noch am Abend der Schlacht über Bord werfen lassen. Dennoch war es seltsam zu wissen, dass McDermott hier seinen Platz eingenommen hatte. Der Raum war derselbe, doch trug er nicht mehr nur noch die Erinnerungen von ihm selbst in sich.

Ein Schmerz fraß sich durch die Tätowierung, als wollte auch diese ihn daran erinnern, dass die Verbindung zu seinem Schiff die Ursprünglichkeit verloren hatte. Jess fühlte mit der Hand über die Linien, die die Monsoon Treasure so lebendig auf seinem Körper verewigten. Die Tätowierung fühlte sich unter seiner Hand nicht anders an, als die erste. Dennoch wurde das Gefühl in ihm täglich stärker, dass trotzdem eine Veränderung geschehen war, ohne dass er zu sagen vermochte, was genau es war.

Der Pirat trat an seinen Schreibtisch und öffnete eine Schublade. Nachdenklich betrachtete er den Inhalt. Der Dolch der Thethepel lag darin, unachtsam hineingeworfen, nachdem er seinen Dienst versehen hatte. Sicher ein weiterer Grund, warum sie kamen, um ihn zu holen. Bei der Geschwindigkeit, in der sie in letzter Zeit neue Schiffe bauten, brauchten sie den Dolch, um die neuen Kapitäne mit ihnen zu verbinden. Jess nahm den Dolch und besah ihn sich genau. Die nadelfeine Spitze hatte er nun schon mehrfach zu spüren bekommen. Bei genauem Hinsehen konnte er ein feines Loch in der Spitze ausmachen, durch das die Tränen der Thethepel flossen, um die Tätowierung zu färben. Der Stein, der den Griff krönte, war immer noch tiefrot und schien mit geheimnisvollem Leben erfüllt. Für einen Augenblick überlegte er, den Dolch ebenfalls über Bord zu werfen, da die Zerstörung nur in den Höhlen der Thethepel möglich war. Doch er war sich sicher, dass er damit nichts anderes erreichen würde, als Torek und Bairani unnötig zu erzürnen. Damit riskierte er möglicherweise eine unkontrollierte Racheaktion des Sehers, die seine Männer ausbaden mussten. Also legte er den Dolch zurück in die Schublade und schloss sie wieder.

Unschlüssig sah er durch den Raum. Ein Kribbeln kroch über seinen Rücken. Es gab nicht das Geringste, das er tun konnte.

*

Am nächsten Morgen lag Jess auf der Koje in seiner Kajüte und starrte in das Zwielicht, das den Raum erfüllte wie die Zweifel seinen Verstand. Nur langsam wich die Dunkelheit, als könnte sie sich nicht entscheiden, dem Tag wirklich schon den Platz zu überlassen.

Jess lag völlig ruhig. Ein Beobachter hätte nicht erkennen können, welcher Sturm in ihm tobte.

Was tat er hier, fragte er sich. Er lag wie ein Opferlamm da und wartete auf die Ankunft des Unvermeidlichen. Er opferte sich, nein, er opferte wesentlich mehr als nur sich selbst. Zum ersten Mal waren seine Atemzüge unkontrolliert und zitterten leicht.

Auf Tamakas Vision hin, opferte er sein Leben, seine Hoffnung auf ein anderes Leben. Er opferte seine Männer, und was ihm am schwersten fiel, er opferte seine Liebe.

Wieder machte er einen tiefen Atemzug, und ein Lächeln wanderte trotzig in seine Mundwinkel, als er an Lanea dachte. Sie musste so verletzt sein, weil er sie einfach zurückgelassen hatte - wieder einmal. Aber diese Verletzung würde heilen, und Lanea würde ihn vergessen.

Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. Die Ruhe war nun auch äußerlich zerstört, als er sich bei seinen finsteren Gedankengängen immer weiter verspannte und mit den Händen den hölzernen Rand seiner Koje umklammerte, als müsste er sich daran festhalten.

Er begab sich auf unbekanntes Terrain. Freiwillig lag er hier und wartete darauf, dass die Waidami kamen, um ihn zu holen. Was würde dann mit ihm geschehen? Tamaka hatte sich wie immer unklar ausgedrückt. Das Einzige, woran er in seiner Schriftrolle keinen Zweifel gelassen hatte, war, dass Jess erst wieder für Bairani segeln musste, um irgendwann jemanden zu treffen, der für den weiteren Verlauf äußerst wichtig war. Ohne diese Person würde es ihm nicht gelingen, Bairani zu töten. Sie allein würde im rechten Augenblick das Blatt zu ihrer allen Gunsten wenden.

Jess ballte die Fäuste und schnaubte wütend auf. Was immer das auch heißen mochte. Es blieb nur abzuwarten und zu hoffen, dass er tatsächlich so die Gelegenheit bekam, Bairani zu töten.

Langsam schloss er die Augen und konzentrierte sich auf seine Atemzüge. Das leichte Zittern, das dabei sein Innerstes berührte wie die schnellen Flügelschläge eines Kolibris, war die Unruhe der Monsoon Treasure, und Jess erschauerte.

Sie kommen, schrie es plötzlich in ihm, bevor die Treasure ihn einfach mit sich riss. Er war gedanklich vorbereitet, doch als er mit seinen Sinnen durch das langsam heller werdende Wasser der Bucht tauchte, um an ihrem Ende auf sechs Schiffsrümpfe zu stoßen, traf ihn der Anblick wie ein Fausthieb.

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