Kitabı oku: «Die Tränen der Waidami», sayfa 6

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»Deine Vision trügt. Es ist nicht möglich, ein weiteres Amulett herzustellen«, sagte er gedehnt. »Dies ist nur möglich, solange die Verbindungszeremonie noch nicht durchgeführt ist.«

Torek zog bedauernd die Schultern zusammen und runzelte besorgt die Stirn. »Das bedeutet, dass Ihr Euch ständig in der Gegenwart Morgans aufhalten werdet. Ihr werdet sorgfältig darauf achten müssen, ihn stets unter Kontrolle zu halten. Der Pirat will nichts anderes als Euch tot sehen!«

Bairani zuckte unmerklich zusammen, doch Torek tat, als hätte er es nicht bemerkt. Der Oberste Seher fürchtete sich vor dem einen möglichen Ende der Vision, in der Morgan ihn unter dem steinernen Torbogen tötete. »Dann werde ich Morgan erneut rufen lassen, wenn Ihr einen weiteren Versuch wagen wollt?«

Bairani betrachtete ihn regungslos. »Nein«, sagte er langsam und setzte sich aufrecht in den Thron. »Behalte ihn ein paar Tage im Kerker, während ich mich erhole. Jede Nacht an Land wird ihn zusätzlich schwächen. Und dann werde ich seinen Widerstand überwinden, und er wird mir gehören!«

*

Jess lief der Schweiß in Strömen über den Rücken, als er drei Tage später wieder in der Höhle kniete. Er fürchtete nicht den Schmerz, aber er fürchtete sich vor dem Gefühl, wenn Bairani in seinen Kopf eindrang. Er hatte es nicht für möglich gehalten, dass er jemals solche Angst empfinden könnte. Aber der Gedanke daran, was Bairani alles tun konnte, wenn er erst sein Ziel erreichte und seinen Willen übernahm, löste in ihm diese hilflose Angst aus.

Vielleicht sollte er sich nicht mehr dagegen wehren. Es würde die Qualen erträglicher machen. Tatsächlich war es nur eine Frage der Zeit, bis er keine Kraft mehr besaß, um sich zu wehren. Jess zitterte vor Erschöpfung. Drei Kämpfe hatten sie bereits hinter sich, an deren Ende Bairani jedes Mal kurz vor seinem Ziel die Besinnung verloren hatte. Zwei Nächte hatte er an Land verbracht, in denen er kaum geschlafen hatte und die ihn zermürbt hatten. Er konnte nicht mehr. Seine Augen brannten vor Müdigkeit. Er konnte sie kaum noch offen halten.

Wie angenehm musste es sein, wenn er Bairani einfach gewähren ließ und er endlich wieder auf die Monsoon Treasure zurückkehren durfte. Schlaf, endlich wieder Schlaf ohne schlechte Träume.

Doch als Bairani an der Seite von Torek hereintrat, regte sich in ihm der Widerstand. Es ging nicht, er konnte nicht einfach aufgeben, solange noch ein winziges Fünkchen Kraft in ihm steckte.

Bairani ließ sich auf seinen Thron nieder. Sein Gesicht wirkte inzwischen ausgezehrt. Auch er trug die Kämpfe nicht ohne sichtbare Spuren aus.

Torek platzierte sich wie immer neben ihm. Er betrachtete Jess mit einem Lächeln, das ein Sieger trug. In Jess verhärtete sich die Vorahnung, dass er heute verlieren würde. Bairani würde ihn heute überwältigen. Übelkeit stieg in ihm auf, die schon lange in ihm gelauert hatte.

Die Prozedur der vergangenen Tage wiederholte sich in der immer gleichen, quälenden Abfolge. Die gleißende Hitze fraß sich mit unbeschreiblicher Geschwindigkeit von seinem Herzen aus durch seinen Körper und legte ihr Netz aus. Jess war am Ende seiner Kräfte. Das unkontrollierte Zittern glich immer mehr einem heftigen Schüttelfrost. Jess hatte keinerlei Kontrolle mehr über seine Muskeln, als sich Bairani langsam und unaufhaltsam in ihn hinein schlängelte. Und trotzdem konnte er nicht einfach aufgeben. Verzweifelt wehrte er sich und versuchte, seinen Verstand vor dem verhassten Zugriff zu sperren, bis die Kräfte des Obersten Sehers wieder zu erlahmen begannen. Doch diesmal kam es nicht zu einem abrupten Ende. Ganz plötzlich zog sich Bairani völlig zurück. Jess wollte aufatmen, als der Oberste Seher sich erschöpft das Amulett über den Kopf streifte und Torek hinhielt. Der Junge zögerte nicht einen Augenblick. Als hätte er nie auf etwas anderes gewartet, nahm er das Schmuckstück, legte es um und griff noch im selben Moment nach Jess. Blitzartig stieß er mit frischer Kraft zu, nur um sich sofort wieder zurückzuziehen. Noch bevor Jess den Schock darüber überwunden hatte, griff Torek wieder an. Zum ersten Mal bröckelte die Mauer, die Jess aufgebaut hatte, und wurde dünner. Jeder neue Angriff von Torek trug unaufhaltsam eine weitere Schicht ab. Als der Seher die letzte Schicht durchstieß, zersplitterte der Wille von Jess Morgan wie Glas. Ein unerträglicher Schmerz explodierte in seinem Kopf und schien seine Augen zu zerreißen, gefolgt von einer schwarzen Welle, die auf ihn zuschoss und ihn verschlang.

*

Als Jess aufwachte, befand er sich wieder im Kerker. Angekettet an der Wand, versuchte er sich aufzurichten. Sein Kopf schmerzte, und er übergab sich in das faulige Stroh. Jess stöhnte. Das Zittern war vorüber, stattdessen fühlte er sich vollkommen leer. Alles, was geblieben war, war der bittere Geschmack Toreks in ihm.

»Endlich bist du wach. Ich hatte schon befürchtet, dein Herz hätte die Anstrengungen der letzten Tage nicht verkraftet.«

Jess kniff die Augen zusammen und suchte Torek, den er in einer Ecke des Kerkers auf einem Strohballen sitzend fand.

»Hast du schon einmal eine Marionette gesehen, Morgan?«, fragte er hämisch.

Jess schwieg. Die Demütigung saß in Gestalt dieses Jungen vor ihm und führte ihm die Ausweglosigkeit dieser ganzen verfahrenen Situation vor Augen. Auf was hatte er sich hier bloß eingelassen?

»Du darfst dich jetzt ein paar Tage erholen. Nachdem du einmal bezwungen wurdest, kannst du es nicht verhindern, dass ich dich wieder benutze. Wenn du wieder bei Kräften bist, werden wir üben. Zeigst du dich kooperativ, darfst du bald wieder auf dein heißgeliebtes Schiff.« Torek rutschte von dem Strohballen herunter und kam auf Jess zu. Mit gerümpfter Nase tat er, als müsste er den Gestank zur Seite wedeln. »Ich habe dir da ein Fläschchen hingestellt. Den Inhalt solltest du noch von Tamaka kennen. Es ermöglicht dir einen erholsamen Schlaf.« Er kicherte gutgelaunt und wandte sich zum Gehen. An der Tür blieb er stehen und klopfte zum Zeichen für den Wärter, ihn wieder hinauszulassen. Als die Tür aufschwang, schien Torek es sich noch einmal anders überlegt zu haben. Schwungvoll dreht er sich um und kam wieder auf ihn zu. Dicht beugte er sich zu ihm herunter, nicht ohne eine Hand vor Mund und Nase zu halten.

»Schon bald wirst du deinen ersten Auftrag erhalten, und ich werde dich begleiten. Ich bin davon überzeugt, dass wir unseren Spaß miteinander haben werden.«

*

Als es Bairani wenige Tage später gelang, durchzubrechen, war es auf einmal ganz leicht. Jess verlor zunächst die Orientierung und blinzelte in die Welt aus Schatten und Strömungen, die sich vor seinen Augen öffnete. Er sah sich im Raum um. Es war die gleiche Blickweise, die er im Kampf wählte, damit er alles um sich herum detailliert wahrnehmen konnte. Zu seinem Erstaunen konnte er vollkommen klar denken und nahm auf seltsame Weise die Welle des Triumphes wahr, die durch den Obersten Seher und Torek schoss. Einer der Wachen trat zu ihm und befreite ihn von seinen Ketten. Dem Mann war das Geschehen völlig gleichgültig. Er mochte bereits ganz andere Dinge in diesem Raum gesehen haben. Jess vermied es, sich die schmerzenden Handgelenke zu reiben. An den Stellen, an denen die Ketten seine Gelenke aufgescheuert hatten, war die Haut blutig und entzündet. Plötzlich musste er zu der Wache sehen. Der Mann hatte sich an die Höhlenwand zurückgezogen.

»Gleich, was geschieht, es wird nicht eingegriffen.« Toreks Stimme drang nur undeutlich zu ihm. Im gleichen Moment trieb ihn eine unsichtbare Kraft voran. Jess sprang auf den Mann zu, der immer noch die Ketten in seinen Händen hielt. Ehe dieser reagieren konnte, riss Jess ihm das Langmesser aus dem Gürtel und tötete ihn mit einem gezielten Stich ins Herz. Ein überraschter Aufschrei des zweiten Wächters erfüllte den Raum. Jess wirbelte herum und warf das Messer nach ihm. Der Mann war bereits tot, als sein Körper schlaff auf dem Boden aufschlug. Der Schaft des Messers ragte aus seiner Brust.

Jess war völlig verwirrt. Warum hatte er das getan? Unsicher stand er in der Höhle. Als er das begeisterte Klatschen von Bairani und Torek hörte, begriff er langsam.

Bairani!

Widerspruchslos ging er zum Thron des Obersten Sehers und kniete sich vor ihm nieder. Jess fühlte sich wie in einem Alptraum gefangen. Alles was er hier tat, war nicht er selbst, sondern Bairani in seinem Kopf, der ihn lenkte.

Auf einen Ruf Toreks erschienen neue Wachen, die ihn wieder in Ketten legten. Dann wich der Druck aus seinem Kopf, und sein Blick klärte sich. Jess wischte sich über die brennenden Augen und sah zu Bairani. Der Oberste Seher saß erschöpft auf seinem Stuhl und lächelte ihn wortlos an.

*

»Du darfst gehen.« Torek lächelte vergnügt. »Du darfst dich auf der Insel frei bewegen. Es gibt jetzt keinen Ort mehr für dich, an dem du unserem Ruf nicht mehr folgen wirst. Bei Sonnenuntergang treffen wir uns am Hafen.«

Jess starrte ihn gedemütigt an. Er war nicht mehr in der Lage zu antworten. Ihm fehlte selbst die Kraft, um noch aufstehen zu können. Seltsam losgelöst bemerkte er seine kniende Position. Torek hatte Recht behalten. Er war nun nichts weiter als eine Marionette, die blind an ihren Fäden den Befehlen von zwei Wahnsinnigen folgen würde. Was hatte er getan? Wie hatte er sich darauf einlassen können?

Kälte kroch in seine Glieder, die ihn wieder unbehaglich zittern ließ. Langsam und schwerfällig richtete er sich auf, bemüht, so aufrecht wie möglich zu gehen. Niemand sagte noch ein Wort, niemand hielt ihn auf, als er sich endlich umdrehte und die Halle mit kraftlosen Schritten verließ. Der Weg erschien ihm länger als die Male zuvor und dunkler. Als hätten sie ihm den Weg freigemacht, begegnete er keiner Menschenseele, bis er die Höhlen verließ und geblendet auf den Weg starrte, der ins Dorf und zur Bucht hinunter führte.

Wo sollte er hingehen? Jess blinzelte und wischte sich über die schmerzenden Augen, die das grelle Sonnenlicht nach den dunklen Tagen in den Höhlen kaum ertragen konnten. Er fühlte sich ausgebrannt und schmutzig, und das lag nicht allein daran, dass er seit Tagen kein Wasser mehr gesehen hatte.

Zur Treasure zurück und endlich schlafen? Ein sehnsüchtiges Ziehen antwortete ihm, als ob die Treasure selbst darauf brannte, endlich wieder seine Füße auf ihren Planken zu spüren. Zögernd setzte er sich in Bewegung. Im Moment gab es kein anderes Ziel.

Noch während er schwerfällig dem Weg durch den Dschungel folgte, überkamen ihn Zweifel. Was wollte er auf seinem Schiff? Er würde sich früh genug der neuen Mannschaft stellen. Jess blieb stehen und sah sich kurz um. Dann schlug er sich kurzerhand in den Dschungel und folgte einfach seinem Instinkt. Beinahe war es, als wäre er diesen Weg erst gestern gegangen. Wie von selbst lenkten seine Schritte ihn in eine Richtung, gingen den Berg hinab, bis er das leise Wispern von sanften Wellen hören konnte. Als er am Ende des Dickichts die letzten Pflanzen zerteilte und auf den Strand hinaustrat, war es, als wäre er wirklich erst gestern hier gewesen. Der Strand lag genauso da wie damals, als er das letzte Mal hier Tamaka getroffen hatte. Die Felsen, auf die er sich immer zurückgezogen hatte, bis der Seher gekommen war, standen unberührt von all den vergangenen Ereignissen da und würden hier auch immer noch so gleichgültig stehen, wenn es Jess Morgan schon lange nicht mehr gab. Selbst die Palmen standen noch dort, vielleicht durch die Last der Jahre ein wenig mehr dem Meer zugeneigt.

Jess atmete tief durch. Die Erinnerungen überwältigten ihn mit aller Macht und drängten sich ihm auf. Vielleicht lag es einfach daran, dass er sich heute genauso verloren und einsam fühlte wie in jenen Tagen. Wie dankbar war er Tamaka gewesen, der seine Wunden versorgt und dabei die Geschichten der Waidami erzählt hatte.

»Aber wieso hat die Göttin das alles zugelassen? Sie hatte Pa’uman doch zurück? Warum hat sie nicht dafür gesorgt, dass die Menschen keinen weiteren Kummer erleiden?«, hatte er gefragt, als er die Legende der Göttin Thethepel hörte. Der Seher hatte geheimnisvoll gelächelt, als er antwortete: »Weil sie blind vor Liebe war. Und diese Blindheit ist ihr letztendlich zum Verhängnis geworden. Thethepel und Pa’uman wurden für ihre Selbstsucht bestraft.« Auf seine weitere Frage, um welche Strafe es sich gehandelt habe, hatte er keine Antwort mehr erhalten. »Das wirst du früh genug erfahren«, war alles gewesen.

Jess war es beinahe so, als könnte er Tamakas Gegenwart spüren. Doch niemand außer ihm befand sich an diesem Strand. Wie damals ging er entschlossen zum Wasser. Er entledigte sich kurzerhand seines verschwitzten Hemdes. Achtlos ließ er es in den feinen Sand fallen und lief in die leichte Brandung. Jess holte tief Luft und tauchte. Knapp über dem weichen Sandboden glitt er hinaus, holte nur kurz an der Oberfläche Luft und tauchte erneut. Anschließend ließ er sich eine Weile treiben und starrte in den leicht bewölkten Himmel. Das Blau verlor langsam aber deutlich an Farbe. Der Tag neigte sich dem Ende zu, und er zögerte die Begegnung mit der Monsoon Treasure und seiner neuen Mannschaft hinaus.

»Du versteckst dich«, mahnte ihn seine innere Stimme. Mit einem langen sehnsüchtigen Blick über das Meer schwamm er zurück an Land. Als er ans Ufer watete, spürte er es sofort. Er war nicht mehr allein. Eine leichte Strömung verbarg sich hinter dem großen Felsen, angespannt und ängstlich. Aufseufzend beschloss er, die Strömung zu ignorieren, da derjenige in seinem Versteck offenbar keine Gefahr darstellte. Mit einem letzten Blick auf das immer dunkler werdende Meer hob er sein Hemd vom Sand auf.

»Jess?«

Die Stimme hinterließ eine eiskalte Spur in ihm, obwohl sie oder vielleicht, weil sie so samtweich war. Überrascht sah er auf. Aus dem Schatten des Felsens löste sich eine Frau. Lange schwarze Haare fielen in üppigen Locken über die Schultern und umrahmten ein ebenmäßiges Gesicht mit großen tiefbraunen Augen, die ihn erwartungsvoll ansahen.

»Jess?«, wiederholte sie vorsichtig und trat langsam auf ihn zu.

Jess ließ seinen Blick über sie gleiten. Sie trug eines der inseltypischen langen Tücher, das hinter dem Hals zusammengebunden war und ihre gertenschlanke Figur umschmeichelte. Das leuchtende Rot mit den großen weißen Blüten darauf betonte ihre exotische Schönheit.

»Shamila«, entgegnete er endlich und lächelte sie an. Ihre Züge entspannten sich zusehends, und sie lächelte glücklich zurück.

»Es ist also wahr? Du kannst dich tatsächlich daran erinnern, was vor der Verbindung war?« Sie zögerte kurz und trat dann noch einen Schritt näher. »Du kannst dich auch an …«

»… dich erinnern. Ja!«, beendete er den Satz. Sie hatte eine atemberaubende Ausstrahlung, die für einen Moment die Last von seinen Schultern hob. Eine Leichtigkeit erfüllte ihn, die so gar nicht zu dem gerade Erlebten passen wollte. Trotzdem gab er sich dem hin, griff danach, als wäre es ein Stück Treibholz in stürmischer See. Er lächelte sie an und sagte:

»Sagen wir, ich kann mich an das kleine Mädchen erinnern, das seine dicken Arme immer so fest um meinen Hals geschlungen hat, als wollte es mich erwürgen.«

Shamilas Augen leuchteten in der Erinnerung daran auf. Ihre vollen Lippen öffneten sich zu einem leisen Lachen. Jeden Morgen hatte sie ihn so begrüßt. Ihre Arme hatten ihn umklammert, und dann hatte sie sich mit dem ganzen Gewicht eines unbeholfenen pummeligen Kindes an ihn gehängt, bis er sie lachend hochgehoben und auf seine Schultern gesetzt hatte.

»Allerdings hast du keine Ähnlichkeit mehr mit der lästigen kleinen Wanze von einst«, setzte er noch hinzu. Sie löste in ihm etwas aus, das er nicht erklären konnte. Ein warmes Gefühl sickerte in sein Innerstes. Dennoch schluckte er die Bemerkung hinunter, die ihm auf der Zunge lag. Sie war wunderschön geworden.

Eine leichte Röte huschte über ihre Wangen, doch sie sah nicht beschämt weg, wie er es erwartet hatte. Plötzlich wurde er sich ihrer Strömungen bewusst. Eine Welle der Zuneigung ging von ihr aus, stark und impulsiv, begleitet von einem heftig trommelnden Herzschlag. Die Erkenntnis traf ihn, machte ihn für einen Atemzug lang sprachlos.

Shamila war verliebt in ihn. Unvermittelt hatte er Torek vor Augen, wie er am Tag ihrer Ankunft auf ihren Anblick reagiert hatte. Vor ihm stand die Frau, die Toreks Herz gewonnen hatte. Aber offenbar empfand sie nicht das Gleiche für ihn.

»Es ist schön, dass du wieder da bist, Jess«, sagte sie. Mitleid füllte ihre Augen, als sie weitersprach: »Auch, wenn die Umstände für dich wenig angenehm sein dürften.«

»Manchmal hat das Schicksal andere Pläne als man selbst«, antwortete er ausweichend, während sie ihn mit ihren warmen Augen durchdringend musterte.

Ihre Sehnsucht wuchs. Langsam schob sich ihr Körper näher, um ihn zu berühren.

»Torek liebt dich«, warf er ein, um sie aufzuhalten. Etwas anderes fiel ihm nicht ein. Er selbst fühlte sich von ihr angezogen. Erleichtert spürte er, wie sie erstarrte und verwundert einen Schritt zurück machte.

»Er ist ein grausamer Mann geworden.« Ihre Stimme klang verbittert. Nachdenklich sah sie von ihm fort aufs Meer hinaus. Auch ohne die Strömung zu lesen, spürte er, wie verletzt sie war. »Es gab eine Zeit, da habe ich auch etwas für ihn empfunden. Aber dann wurde er der Günstling meines Vaters. Er hat sich verändert. Aus dem liebenswerten Jungen ist ein sadistisches Monster geworden, das wohl kaum zu echter Liebe fähig sein kann. – Sieh nur, was er dir angetan hat.« Mit den letzten Worten überbrückte sie die Distanz zu Jess. Sie hob beide Hände und legte sie flach auf seine nackte Brust, direkt über der Tätowierung.

Jess stockte der Atem. Die Berührung war schlicht, aber so intensiv, dass sie seine mühsame Beherrschung wie einen dünnen Vorhang zu zerreißen drohte. Verlangen erfüllte ihn, ohne dass er bestimmen konnte, ob es seine eigene Empfindung war oder die ihre. Dennoch schob er sie sanft, aber bestimmt von sich. Sie hatte Gefühle für ihn, die er in dieser Art nur für eine Frau empfand. Sein Herz gehörte Lanea, alles andere entsprang einem körperlichen Verlangen, einer Suche nach Rettung für seine Seelenpein, nicht mehr. Entsetzt hob Shamila eine Hand vor den Mund, als ihr seine Ablehnung bewusst wurde, und starrte ihn aus großen Augen an. »Es … es tut mir leid. Ich hätte nicht …«

»Nein!« Jess nahm sanft ihre zitternde Hand in seine. »Es tut mir leid.«

Ein plötzliches Zupfen in seinem Bewusstsein erinnerte ihn daran, was sein eigentliches Ziel gewesen war. Torek wartete sicherlich schon ungeduldig im Hafen, um ihm seiner neuen Mannschaft zu präsentieren.

»Ich muss gehen«, flüsterte er und gab ihre Hand frei.

Er wandte sich um und ohne einen Blick zurück schlug er den Weg nach Süden ein. Mit weitausholenden Schritten steuerte er auf das Dorf und den Hafen zu. Überrascht bemerkte er, wie schnell er die ersten Masten sehen konnte. Der Strand lag näher am Dorf, als ihm bewusst gewesen war. Ein Wunder, dass damals niemand ihre heimlichen Treffen bemerkt hatte, oder täuschte er sich da? Die Fähigkeiten der Seher waren verwirrend und immer häufiger stellte er sich die Frage, was alles vielleicht von ihnen manipuliert wurde. Vielleicht waren auch die damaligen Treffen nicht unbemerkt geblieben, sondern ganz bewusst geduldet worden.

Ärgerlich wischte Jess die Erinnerungen zur Seite. Es brachte ihn nicht weiter, sich über die Vergangenheit den Kopf zu zerbrechen. Was vor ihm lag, gab eindeutig mehr Grund zur Sorge.

Zielstrebig trat er zwischen die ersten Hütten. Nur wenige Dorfbewohner ließen sich sehen. Ein Kopf zog sich erschrocken zurück und schloss die Tür hinter sich, als er vorbeiging. Ein alter Mann saß mit einem kleinen Kind auf einer Bank im Schatten und zog es beschützend in seine Arme. Jess beachtete ihn nicht weiter, aber er erinnerte sich sehr gut daran, dass früher keiner der Piraten durch das Dorf hatte gehen dürfen. Jetzt wichen sie ihm erschrocken aus. Offensichtlich hatte sich hier Einiges geändert. Das erklärte auch, warum immer mehr Boote und kleine Segelschiffe mit Waidami auf Bocca del Torres Zuflucht gesucht hatten.

In der Bucht lag eine überwältigende Anzahl von Segelschiffen vor Anker. Jess blickte über die Schiffe und spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Was hatte im Brief Tamakas gestanden? Die Übermacht der Waidami würde schon bald sehr groß sein? Daran hatte er jetzt keinen Zweifel mehr. In der Bucht lagen elf Segelschiffe, die hier noch nicht gewesen waren, als sie mit der Monsoon Treasure angekommen waren. Weiter draußen konnte er auch vereinzelte Masten ausmachen. Dann gab es noch die Werft und wer weiß wie viele Schiffe, die sich zurzeit auf Fahrt befanden. Jedes einzelne dieser Schiffe war mit Kanonendecks ausgestattet, die jeden spanischen Kapitän das Fürchten lehren konnten. Die Cacafuego war ein Fischerboot dagegen. Hoffentlich nahm Tirado das Schreiben Tamakas ernst und zögerte nicht, Hilfe aus Spanien zu erbitten. Sie würden diese dringend nötig haben.

»Beeindruckend, nicht wahr?«

Jess fuhr herum. An einer Fischerhütte lehnte Torek mit süffisantem Lächeln. »Und natürlich ist es nur ein kleiner Teil von unserer Flotte, die du hier siehst. Wir waren fleißig. Dein spanischer Gouverneur wird dem nichts mehr entgegenzusetzen haben. Vor allem jetzt nicht mehr, nachdem du wieder bei uns bist.«

»Wie konntet ihr so viele Schiffe in so kurzer Zeit bauen?«, fragte Jess, darum bemüht gleichgültig zu klingen.

»Wir haben eine weitere Werft gebaut, Tag und Nacht gearbeitet. Inzwischen gibt es auch den einen oder anderen Kapitän, der freiwillig zu uns gestoßen ist, um sich mit seinem Schiff verbinden zu lassen. Welcher Kapitän träumt nicht davon, eins zu werden mit seinem Schiff?« Torek stieß sich von der Hütte ab und trat dicht an Jess heran. Er hatte sämtliche Zurückhaltung verloren. Selbst die letzte Spur von Angst war aus seinen Augen verschwunden. Torek war sich seiner Macht über ihn absolut sicher. »Du hast schließlich auch alles daran gesetzt, um wieder mit der Monsoon Treasure verbunden zu werden, nicht wahr? Auch wenn der Preis dafür höher ist, als du dir hättest vorstellen können.«

»Wir werden sehen, wer den Preis dafür bezahlt«, entgegnete Jess knapp.

Torek lachte laut, dann zeigte er auf die Treasure. »Du wolltest sicher gerade auf dein Schiff hinübersetzen. Ich werde dich begleiten, deine neue Mannschaft wartet bereits ungeduldig darauf, ihren Captain kennen zu lernen.«

Jess ließ Torek einfach stehen und ging zum Bootssteg hinunter. Natürlich wollte sich dieser verdammte kleine Mistkerl das nicht entgehen lassen.

Noch während sie sich den dort liegenden Beibooten näherten, erhoben sich zwei Gestalten, die auf den Duchten gesessen haben mussten. Sie hatten die Sonne in ihrem Rücken, sodass Jess ihre Gesichter nicht sehen konnte. Beide Männer waren groß und breitschultrig. Als die grobschlächtigen Gesichter sich endlich aus dem Schatten bewegten, hatte Jess das undeutliche Gefühl, beiden schon einmal begegnet zu sein.

»Captain«, murmelten sie wie aus einem Mund. Während der eine ihm flüchtig zunickte, rührte sich der andere Mann kein Stück. Seine blassgrauen Augen ruhten abschätzig auf Jess.

»Wie sind eure Namen?«, fragte Jess und sparte sich jede Begrüßung, die ohnehin nicht erwartet wurde.

»Rees, Sir. Martin Rees«, sagte der, der genickt hatte. Eine wulstige Narbe zerteilte seine Unterlippe und zog sich von dort schräg über das Kinn. »Und das ist Gerard de Croix, ein Franzose.« Rees betonte es, als würde das alles erklären.

Gerard de Croix machte noch immer keine Anstalten, sich zu bewegen und reagierte erst, als Torek ihn anfuhr: »Rudert uns rüber zur Treasure, sofort!«

Der Mann zuckte mit den Schultern und hielt das Boot, während die Männer hineinstiegen. Dann löste er das Tau, und er und Rees begannen, in gleichmäßigen Schlägen über die Bucht zu rudern.

*

Torek genoss jeden einzelnen Ruderschlag, der ihn und Jess Morgan der Monsoon Treasure ein Stück näher brachte. Morgan saß mit steinerner Miene im Bug und sah über die Küste, als befänden sie sich auf einem Ausflug. Aber Torek ließ sich von dem gleichmütigen Äußeren des Piraten nicht täuschen. Zu lebhaft stand ihm noch der verletzte Gesichtsausdruck Morgans vor Augen, als Bairani und er ihn aus der Höhle entlassen hatten. Es war ein heftiger Schlag für seine Arroganz gewesen, als ihm bewusst wurde, dass sie mit ihm machen konnten, was sie wollten. Torek lachte leise auf in Erinnerung an den köstlichen Triumph, fühlte seinen Geschmack auf der Zunge wie einen vollmundigen Wein. Morgan bemerkte sein Vergnügen, schwieg aber weiterhin. Es war nur ein kurzer Blick gewesen, bevor er sich die Rudergasten besah. Sicher taxierte er sie, um festzustellen, mit wem er es zu tun hatte.

Jedenfalls waren sie geschickte Ruderer, die das Boot mit gekonnten Ruderschlägen längsseits an die Treasure brachten. Rees ergriff das Fallreep und sah dann abwartend zu Torek.

Gut! Ohne Zweifel wusste der Einfaltspinsel genau, wer das Kommando hatte. Und das musste auch Morgan spüren. Er würde ihm nicht den Vortritt lassen, der dem Kapitän eigentlich zustand. Für Morgan war es nur eine kleine weitere Qual. Der Seher warf ihm einen Blick zu. Sicher brannte der Pirat darauf, endlich wieder sein Schiff betreten zu können, nach all den Tagen an Land. Soweit Torek es beurteilen konnte, hatte Morgan sich geweigert, den Schlaftrunk zu sich zu nehmen, den er ihm gebracht hatte. Diese Sturheit, die er nebenbei erwartet hatte, hatte Morgan nicht weiter gebracht. Im Gegenteil. Torek war davon überzeugt, dass sie wesentlich länger gebraucht hätten, seinen Willen zu unterwerfen, wenn er ausgeruht gewesen wäre. Morgan hatte nicht die geringste Ahnung, wie schwer er es ihnen auch so schon bereits gemacht hatte.

Torek ergriff die Leiter und begann, daran hinaufzusteigen. Wie er diese Dinger hasste. Obgleich er inzwischen einige Übung mit dem Erklimmen dieser schwankenden Leitern hatte, fiel ihm dies immer noch schwer. Unbehaglich wurde ihm bewusst, was für eine lächerliche Gestalt er abgeben musste, während er ständig mit dem Gleichgewicht kämpfte, obwohl das Schiff nur leicht in der Brandung auf und ab dümpelte. Seine Laune sank mit jeder Sprosse, die ihn nach oben führte. Er brauchte dringend eine Aufmunterung.

Missgelaunt betrat Torek schließlich das Deck. Augenblicklich kam ein Mann auf ihn zu, seltsam gekrümmt, als trüge er eine unsichtbare Last, die seinen Rücken in grotesker Weise nach vorne beugte.

Noch bevor er etwas sagen konnte, trat Morgan hinter ihn.

»Alle Mann an Deck, Seemann«, befahl der Pirat mit einer Selbstverständlichkeit, die Torek ärgerte. Da war sie zurück, die Arroganz dieses Bastards. Morgans Hand glitt dabei wie zufällig über die Reling, aber Torek wusste, dass er den Zustand der Monsoon Treasure prüfen wollte.

Der Seemann sah Torek unsicher an, dann nickte er: »Aye, aye, Sir!«, und wiederholte den Befehl so laut, dass er bis in die hintersten Winkel des Schiffes dringen musste.

Als hätten sie nur darauf gewartet, versammelten sich die Männer an Deck. Torek suchte unter ihnen vergeblich nach einem Mann, den er fest unter ihnen erwartet hatte.

»Folgt mir auf das Achterdeck«, befahl Torek. Zu spät bemerkte er, dass Morgan bereits genau dorthin unterwegs war. Dieser verdammte Mistkerl! Übellaunig beeilte er sich, ihm zu folgen. Da der Pirat gelassen vor ihm herschritt, war es ein Leichtes ihn zu überholen. Noch bevor Morgan das Wort ergreifen konnte, stürzte Torek an die Balustrade des Achterdecks und räusperte sich lautstark. Alle Augen richteten sich gespannt auf ihn, doch noch immer konnte er nicht denjenigen ausmachen, den er suchte. Aufregung ergriff ihn.

»Männer!«, rief Torek gerade so laut, dass ihn alle Seeleute hören konnten. »Nachdem ihr ausreichend Gelegenheit hattet, euch mit eurem neuen Schiff bekannt zu machen, übergebe ich das Kommando Captain Jess Morgan, der unmittelbar meinem Befehl untersteht.« Torek verkniff sich ein vergnügliches Grinsen und machte eine übertriebene Verbeugung zu Jess hin, der inzwischen neben ihn getreten war und ihn eher belustigt als verärgert betrachtete.

»Ich denke, es erübrigt sich, mich vorzustellen. Jeder von euch hat von mir gehört, den ein oder anderen unter euch kenne ich bereits«, ergriff Jess das Wort, als sich plötzlich ein Schott öffnete und ein Mann das Deck betrat.

Torek unterdrückte nur mühsam den Impuls, sich schadenfroh die Hände zu reiben. Der Neuankömmling rieb sich mit einer Hand über den kahlen Kopf und gähnte unverhohlen, während er mit schweren Schritten auf das Achterdeck zusteuerte, als kümmerte es ihn nicht, die Ansprache seines neuen Captains zu unterbrechen.

»Darf ich dir deinen neuen Ersten Maat vorstellen?« Torek lächelte Jess an, der dem Mann entgegensah.

»McFee!«, sagte Morgan ruhig, doch die Kälte darin ließ selbst Torek leicht frösteln.

»Morgan« McFee stellte sich breitbeinig vor die beiden Männer, doch er schenkte Torek keinerlei Aufmerksamkeit, sondern sah nur Morgan an. Er gab sich nicht die geringste Mühe, den Hass zu verbergen, der in seinem Gesicht und seiner Stimme lag.

Ansatzlos schlug Morgan zu. Der Hieb traf McFee völlig unvorbereitet ins Gesicht und warf ihn rückwärts auf die Planken. Torek holte zischend Luft und starrte Morgan an, der sein Schwert gezogen hatte. Die Spitze zielte ruhig auf McFees Kehle. An Deck war es totenstill, niemand sagte ein Wort oder wagte sich zu rühren.

»Captain Morgan für dich, McFee!«, sagte der Pirat gedehnt. »Und wage es nie wieder, einem Befehl nicht augenblicklich nachzukommen.«

McFee richtete sich benommen auf. Sein vernarbtes Gesicht war eine einzige Maske aus Wut, Hass und Hilflosigkeit. Torek tanzte innerlich. Diese Demütigung war ein neues Glied an der langen Kette, die McFee Jess Morgan eines Tages um den Hals legen würde.

»Aye, Captain.« McFee spuckte die Worte voller Verachtung aus. Langsam erhob sich der muskulöse Mann. Seine Haltung war angespannt und einen flüchtigen Moment sah es so aus, als wollte er sich auf Jess Morgan stürzen. Doch die Spitze des Schwertes zeigte immer noch auf ihn, kein Zittern, nicht das geringste Anzeichen, dass Morgan nicht zustoßen würde, wenn sich ihm auch nur der geringste Grund bieten würde.

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