Kitabı oku: «Die Tränen der Waidami», sayfa 5

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Sie waren bereits da!

Fünf der Schiffe schoben sich vor die Ausfahrt der Bucht und versperrten sie, während das größte der Schiffe in die Bucht hinein segelte.

Das Krachen von Kanonen riss ihn mit der Gewalt einer Explosion plötzlich zurück in die Wirklichkeit seiner Kajüte. Schweratmend setzte er sich, nur um sofort aufzuspringen. Es war so weit.

Von einem Moment auf den anderen überkam Jess eisige Ruhe. Das Warten, das so sehr an seinen Nerven gezerrt hatte, war vorbei. Es gab kein Zurück mehr, es war seine Entscheidung gewesen, sich den Anweisungen in der Schriftrolle zu beugen. Entschlossen rannte er aus seiner Kajüte. Als er das Deck betrat, empfing ihn bereits das erwartete Chaos.

Während ein riesiger Viermaster drohend neben der Monsoon Treasure lag und seine Breitseite auf sie gerichtet hielt, rannten zurückgebliebene Waidami schreiend zwischen den Hütten umher und verschwanden im Dschungel. Ihre panischen Strömungen überschlugen sich förmlich, verloren sich aber schnell und spurlos im Dickicht der Insel. Rauch schwelte an Land, und einige der Hütten lagen in Trümmern, wo die Kanonenkugeln ihren verheerenden Weg zwischen sie geschlagen hatten.

Überrascht fiel sein Blick auf die Beiboote, die mit seinen Männern zwischen Strand und Monsoon Treasure dümpelten. Die Männer widersetzten sich offen seinem Befehl. Jess runzelte unwillig die Stirn, doch er konnte sie verstehen. Es fiel ihnen schwer, tatenlos auf der Insel abzuwarten, was weiter geschehen würde. Doch trotzdem zögerten sie und starrten stattdessen unentschlossen zu ihm herüber.

Jess wandte sich dem Viermaster zu. An dem mächtigen Bug reckte sich eine schlanke Frauengestalt in die Höhe. Ihre Haare breiteten sich über das Holz aus und rankten sich in einer wilden roten Farbe bis hinauf an die Reling und vermittelten den Eindruck, das Schiff würde in Flammen stehen. ›Thethepel‹ stand in ebenfalls roten Buchstaben auf dem Bug geschrieben.

Es gab keinen Zweifel, sie hatten ein Schiff gebaut, das selbst die Kampfkraft der versenkten Darkness in den Schatten stellte.

Jess ließ seinen Blick weiter wandern, bis er an einer schmächtigen Gestalt in dem grauen Gewand eines Sehers hängenblieb.

Torek!

Ein selbstgefälliges Lächeln stand in dem jungen Gesicht, als er Jess‘ Blick begegnete. Leidenschaftslos betrachtete er den verhassten Seher. Er hatte gewusst, dass er dem Mörder Hongs wieder gegenüberstehen würde. Und er würde ihn dafür bezahlen lassen. Doch nicht heute und nicht hier. Jess atmete beherrscht ein und aus und verfolgte regungslos, wie Torek in ein wartendes Beiboot abenterte und sich zur Treasure rudern ließ.

Jess wartete. Er verschränkte die Arme vor der Brust, versuchte den schwelenden Hass darin zu unterdrücken und blickte zu der Fallreeppforte. Die groben Gesichtszüge eines Piraten tauchten auf, der zu oft in eine Schlägerei geraten war. Die breite Nase war ein unförmiger Klumpen, der das ganze Gesicht beherrschte und die Brutalität des Mannes offen zur Schau stellte. Geschickt enterte der Pirat auf und beobachtete ihn lauernd, während er die Muskete von seiner Schulter nahm und sie auf Jess richtete. Dieser konnte sich ein spöttisches Grinsen nicht verkneifen, blieb aber ansonsten weiterhin regungslos auf seinem Platz. Ein weiterer Pirat erschien, der dem Beispiel seines Kameraden folgte und die Muskete augenblicklich auf Jess richtete. Erst danach betrat Torek das Deck der Treasure.

Sorgfältig glättete er mit beiden Händen sein Gewand und sah sich provozierend langsam auf dem Schiff um. Nach einer geraumen Weile, in der keiner ein Wort sprach, setzte er sich in Bewegung. Jeder Schritt schien sorgfältig platziert. Seine Miene zeigte deutlich, dass er sich lange auf diesen Augenblick gefreut hatte und ihn tausendmal in Gedanken durchgespielt haben musste. Die Augen Toreks waren von einer unheimlichen Freude erfüllt, die sich mit dem Hohn und der Verachtung Jess gegenüber zu einem köstlichen Mahl für sein Selbstbewusstsein vereinigten. Während weitere Piraten das Schiff enterten, kam Torek auf ihn zu und blieb unmittelbar vor ihm stehen.

»Torek«, sagte Jess knapp.

»So sehen wir uns also schon wieder, Jess Morgan! – Ist es nicht interessant, dass wir uns erneut so unvermittelt gegenüberstehen, und es lächerlich einfach war, dich gefangen zu nehmen?« Toreks Lächeln vertiefte sich und zeigte deutlich das Fest, das sich in seinem Inneren abspielen musste. Mit einer übertriebenen Geste verschränkte er die Arme vor der mageren Brust. »Ich muss gestehen, dass ich nicht verstehen kann, warum der Name Morgan in der Karibik so gefürchtet sein soll.«

»Dann ist mir die Frage gestattet, warum Ihr immer solch einen großen Aufwand betreibt, um mich gefangen zu nehmen.« Jess deutete lächelnd auf die gefechtsbereiten Schiffe vor der Bucht und auf die Thethepel.

Torek presste wütend die Lippen aufeinander. Seine Arme fielen herab, und er trat, jede Vorsicht vergessend, noch näher an Jess heran.

»Vielleicht macht es einfach Spaß zu beobachten, wie du nach deinem Schiff weinst, wie ein kleines Kind nach seiner Mutter«, zischte er und funkelte ihn herausfordernd an.

»Was wollt Ihr?«

»Befiehl deine Männer an Bord.«

Jess folgte dem Blick Toreks zu den Booten, in denen die Männer immer noch warteten, dann blickte er wieder auf den Seher.

»Was, wenn ich es nicht tue?«

»Oh, da gibt es genau eine Möglichkeit.« Torek machte eine Pause, während er an Jess vorbeitrat und zur Reling ging, um sich in einer etwas ungelenken Geste darauf abzustützen. »Wir werden die Insel vom Meer aus in Beschuss nehmen und anschließend werden wir das, was davon noch übrig ist, in Brand setzen.« Erneut machte er eine Pause, in der er sich wieder Jess zuwandte, um ihn interessiert zu mustern. »Aber im Grunde habe ich kein Interesse daran, deine Männer zu töten. Wir bauen so viele Schiffe, dass wir jeden erfahrenen Seemann brauchen, den wir bekommen können. Wenn sie also freiwillig an Bord kommen, wird ihnen nichts geschehen. Sie werden lediglich in die Bilge gesperrt, bis wir Waidami erreichen. Dort werden sie auf unsere Schiffe verteilt.« Torek räusperte sich vernehmlich und seine Stimme nahm einen beinahe sanften Ton an, als er fortfuhr. »Und wir werden mit euch einfach davonsegeln und keinen der abtrünnigen Waidami jagen, die auf diese Insel geflohen sind.«

Jess nickte langsam. Er war nicht überrascht, dass Torek darüber Bescheid wusste. Nicht umsonst war er der Vertraute Bairanis geworden. So trat er neben den Seher und winkte seinen Männern. Jintel antwortete ihm, in dem er ebenfalls eine Hand hob. Gleich darauf wurden die Riemen ins Wasser getaucht, und sie ruderten in ihre Richtung.

Der junge Seher sagte nichts, sondern lächelte ununterbrochen sein selbstsicheres Lächeln, während er die Ruderer beobachtete. Als die Boote an der Treasure längsseits gingen, warf er Jess einen langen abschätzenden Blick zu und gab seinen Begleitern einen Wink.

»Legt ihn in Ketten«, sagte er und betonte jedes Wort mit der Freude eines Kindes, das gerade eine Belohnung erhalten hatte.

Ein Mann trat zwischen den anderen Piraten hervor. In seinen Händen hielt er schwere Hand- und Fußketten. Jess ließ die Arme langsam an seinen Seiten herabsinken. Er atmete ergeben ein, als sich die eisernen Fesseln um seine Gelenke schlossen. Hatte ihn die Schriftrolle schon gedanklich in Fesseln gelegt, so erhielt er jetzt den äußeren Beweis dafür, dass er seine Freiheit bereits verloren hatte, als er sich auf Tamakas Vision eingelassen hatte. Voll Unbehagen verfolgte er, wie seine Männer das Deck betraten und ebenfalls in Ketten gelegt wurden. Ihre Augen ruhten vertrauensvoll auf ihm. Genau dieses Vertrauen belud ihn bereits jetzt mit einer Schuld, die er niemals begleichen konnte. Sie würden auseinandergerissen und auf verschiedenen Schiffen verteilt werden. Jess hatte keinerlei Zweifel daran, dass sie dort den Anfeindungen der anderen Piraten ausgesetzt sein würden. Jeder wusste, dass sie zur Crew des Verräters gehörten, und würde sie das spüren lassen. Auch seine Männer wussten das, hatten es von Anfang an gewusst. Vielleicht würden die Brüder getrennt werden, das würde Rodrigeuz das Herz brechen, wenn er nicht auf seinen kleinen Bruder aufpassen konnte und ihm in dieser Zeit vielleicht etwas geschah. N’toka war inzwischen zu Kadmis Schatten geworden und würde es ebenso hassen, von ihm getrennt zu werden. McPherson hatte sowieso schon mit dem Holzbein zu kämpfen. Jess unterdrückte ein Seufzen und hasste in diesem Augenblick dieses blinde Vertrauen. Was, wenn Tamakas Vision nicht in Erfüllung gehen würde? Schließlich hatte er selbst immer wieder betont, dass eine Vision nur Möglichkeiten enthielt.

»Und wieder einmal bist du nicht in der Lage, deine Männer wirklich zu schützen. Ist das nicht beschämend?« Toreks Stimme riss ihn aus seinen Gedanken, als hätte er sie gelesen. »Bevor deine Männer in die Bilge gesperrt werden, sollen sie noch sehen, wie ihr Captain sein Knie vor mir beugt.« Seine Augen huschten zu Jess‘ Männern und kehrten dann zu Jess zurück, um ihn hohnlächelnd von oben bis unten zu taxieren. »Knie dich vor mir nieder, Pirat«, befahl er.

Jess lachte laut auf.

»Ich werde nicht vor Euch knien!«, sagte er langsam und provokant.

Auf einen herrischen Wink Toreks hoben die beiden bewaffneten Piraten ihre Musketen und richteten die Läufe auf Jess Kopf.

»Ihr werdet mich wohl kaum erschießen, weil ich nicht vor Euch niederknie, Torek. Bairani will mich lebend, wozu wäre sonst der ganze Aufwand notwendig?« Diesmal lächelte Jess selbstgefällig und machte einen Schritt auf den Seher zu, in dessen Miene sofort Panik aufflackerte. »Ich werde mein Knie nicht freiwillig vor deinesgleichen beugen, Seher.«

Aus Toreks Gesicht wich alle Farbe. Wütend ballte er seine Fäuste, während er sich hastig umsah und sich davon überzeugte, wer Zeuge dieser Szene war. Als er sich wieder Jess zuwandte, konnte dieser darin lesen, dass er diese Demütigung so nicht hinnehmen würde. Jess erschauderte.

»Du wirst dein Knie vor mir beugen, Pirat! – Schon bald wirst du vor mir auf den Knien umherrutschen, wenn ich es will und du wirst noch ganz andere Dinge tun, einfach weil ich es will …!« Die Worte trafen Jess, als würde jedes von einem Messer geführt, das einen blutigen Schnitt hinterließ. Torek sprach genau das aus, wovor Jess sich am meisten fürchtete, und er wusste mit unheimlicher Sicherheit, dass der Seher Recht behalten würde …

*

Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein, als Jess endlich Schritte in der Dunkelheit vernahm. Er wusste nicht, wie lange er bereits in der Bilge der Thethepel war. Jegliches Zeitgefühl war ihm im Laufe der Stunden abhandengekommen, in denen er gegen den Schlaf angekämpft hatte. Die Thethepel war Stunde um Stunde dem Spiel der Wellen gefolgt, die stetig gegen ihren Rumpf stießen und Jess dabei leise zuwisperten. Das Lied der Wellen folgte einem gleichmäßigen Rhythmus, der die Müdigkeit verstärkte und den Schlaf unaufhaltsam näher lockte. Doch Jess hatte sich erfolgreich dagegen gewehrt, indem er die Ketten seiner Fußfesseln um seinen linken Oberschenkel geschlungen hatte. Jedes Mal, wenn der Schlaf ihn zu übermannen drohte, hatte er die eisernen Glieder so fest wie möglich zusammengezogen. Sein Bein war inzwischen von einem schmerzhaften Pochen erfüllt, aber nur so hatte er den Schlaf zurückhalten können. Der Gedanke, dass Torek ihn dabei bewusst beobachten würde, wie er seinen Dämonen gegenübertrat, war für Jess nicht zu ertragen. Er war sicher, dass Torek ihn nur aus diesem Grund auf die Thethepel gebracht hatte, und diesen Triumph konnte er ihm nicht gestatten. Es war demütigend genug gewesen, dass der junge Seher bemerkt hatte, welche Wirkung seine letzten Worte auf Jess gehabt hatten. Deutlich hatte ihm die Überraschung im Gesicht gestanden, als er Jess‘ Entsetzen bemerkt hatte, dann hatte er laut gelacht.

Die Schritte hatten inzwischen die Tür seines Gefängnisses erreicht und verharrten. Licht drang in schmalen Streifen durch die Ritzen der Tür und brannte in seinen Augen. Er hob eine Hand und schirmte damit sein Gesicht ab, während er wartete. Leise quietschend schwang die Tür auf, und der Pirat mit dem zerschlagenen Gesicht stand vor ihm.

»Los, steh auf. Du darfst aus deinem Rattenloch, Captain«, knurrte er ihn an.

Jess richtete sich auf. Sein Bein rebellierte mit einer Schmerzwelle, als er es mit seinem Gewicht belastete, doch er ignorierte den Schmerz. Langsam ging er durch die Tür. Der Pirat griff ihn bei der Schulter und stieß ihn auf den Niedergang zu.

»Geh voran, Mann.«

Jess antwortete nichts. Dennoch wunderte er sich, dass er aus der Bilge geholt wurde. Waren sie bereits an ihrem Ziel angelangt? Er hatte nicht bemerkt, dass sie irgendwo vor Anker gegangen waren, jedoch hatte er die Zeit auch eher in einem Dämmerzustand verbracht.

Überrascht betrat er das Deck. Sie hatten tatsächlich Waidami erreicht und lagen bereits vor Anker. Sie mussten länger unterwegs gewesen sein, als er gedacht hatte. Torek stand versonnen an der Reling und blickte auf, als wäre er von ihm angesprochen worden. Ein seltsamer Ausdruck lag auf seinem Gesicht. Er sah verletzlich aus, ja beinahe verträumt. Doch als sein Blick auf Jess fiel, verschwand dieser Ausdruck. Stattdessen trat das verhasste Lächeln in sein Gesicht. Fragend hob er eine Augenbraue, als sein Blick an dem dunkelroten Fleck an Jess‘ linkem Hosenbein hängenblieb, aber er sagte nichts. Der junge Seher richtete seine Aufmerksamkeit wieder kurz auf den Strand, als müsste er sich von irgendetwas überzeugen, dann drehte er sich wieder zu Jess um und winkte dem Piraten, der ihn aus der Bilge geholt hatte, ihn näher zu führen.

»Dein neues Zuhause«, sagte er knapp und deutete auf die Insel in seinem Rücken. »Aber du kennst dich ja aus, schließlich bist du hier aufgewachsen, nicht wahr? Dein Ziehvater wartet auch bereits auf unseren Besuch.«

Jess bemerkte verwundert, dass Torek nicht ganz bei der Sache zu sein schien. Die Augen des Sehers huschten immer wieder an den Strand, und Jess fragte sich, was die Aufmerksamkeit Toreks so sehr zu fesseln vermochte. Leise klirrten seine Ketten, als er an die Reling trat und zum Strand blickte. Erstaunt sah er, dass Waidami sich verändert hatte. Sie lagen in der Hauptbucht der Insel vor Anker, in der die Piratenschiffe anlegten, wenn sie Bairani aufsuchten. Normalerweise war es den Piraten nicht gestattet, das Dorf zu betreten. Nur die Kapitäne durften auf einem Weg, der um das Dorf herumführte, zu den Höhlen des Obersten Sehers gehen. Doch heute wimmelte es von Piraten im Dorf. Dagegen waren nur wenige Waidami zu sehen, als ob sie sich in ihren Hütten versteckten.

Jess verengte seine Augen und versteifte sich unmerklich, als er plötzlich am Ende eines Bootsteges eine Gruppe Männer entdeckte, die mit Ketten aneinandergefesselt in einer Reihe hintereinander über den Strand marschierten. Angeführt wurde die kleine Gruppe von dem rothaarigen Dan, gefolgt von Sam, Kadmi und den anderen. Am Ende humpelte McPherson, der als Einziger nur Handfesseln trug. Jintels breites Gesicht hob sich und begegnete seinem Blick. Wieder konnte er das Vertrauen seines Profos darin erkennen und wieder entfachten sich Schuldgefühle in ihm. Wohin brachten sie die Männer? Torek hatte gesagt, dass sie lediglich auf die anderen Schiffe verteilt werden würden. Ein Seitenblick auf den Seher zeigte ihm, dass dieser seine Aufmerksamkeit bereits wieder auf etwas anderes gerichtet hatte. Jess folgte seinem Blick und traf auf eine junge Frau, die mit dem Rücken zu ihnen stand und sich gerade mit einer alten Frau unterhielt, die im Schatten einer Hütte saß. Plötzlich richtete sie sich auf und wandte ihr stolz geschnittenes Gesicht der Thethepel zu. Ihre Miene versteinerte, als sie Torek entdeckte, und Jess bemerkte, wie der Junge neben ihm fast gleichzeitig erstarrte. Jess pfiff leise durch die Zähne. Shamila! Dort unten stand die Tochter Bairanis, die für ihn wie eine kleine Schwester gewesen war, und strafte Torek mit einem Blick, für den es keine Beschreibung gab. Dann sah sie Jess an und von einem Augenblick auf den anderen wurden ihre Gesichtszüge weich. Sie schenkte ihm ein trauriges Lächeln und hob zum Zeichen, dass sie ihn erkannt hatte, eine Hand. Jess reagierte nicht. Er hätte ihr gerne gezeigt, dass er sie ebenfalls erkannt hatte, doch er spürte auch den Blick Toreks auf sich. Beiläufig sah er den Seher an. Wie er erwartet hatte, war dessen Gesicht eine Maske des Hasses. Es gab keinen Zweifel für ihn, dass dort unten die verwundbare Stelle Toreks stand.

*

Bairani saß in seiner Höhle und starrte blicklos auf das alte Pergament. Wie lange hatte er darauf gewartet, dass ihm die Vision den einen Piraten zeigte. Wie lange hatte er darauf gehofft, die uneingeschränkte Macht über die Karibik gewinnen zu können?

Tief atmete er ein, schloss kurz die Augen, um sich zu besinnen. Es war eine Ewigkeit her, dass er auf einen Weg gezwungen worden war, deren Windungen nicht immer leicht zu nehmen gewesen waren. Doch jetzt endlich saß er hier und wusste, dass Morgan wieder in seiner Gewalt war. Jess Morgan, der ihm den Sieg bringen würde ... oder den Untergang.

Bairani öffnete die Augen, strich beinahe liebevoll über das Pergament, bevor er es sorgfältig und behutsam zusammenrollte. Morgan würde sich ihm nicht entziehen können. Er würde gezwungen sein, sich ihm mit all seiner Kraft und Hingabe zu unterwerfen. Seine Schlagkraft und all sein Geschick gehörten jetzt wieder den Waidami. Die Spanier schrumpften darunter zusammen wie ein einzelner Tropfen Wasser, der unter der gleißenden Hitze der Sonne verging. Ein Lächeln stahl sich auf seine dünnen Lippen, während er sich erhob und zu der Truhe ging, die in einer hinter einem Vorhang verborgenen Nische stand. Das alte Holz antwortete mit einem Stöhnen, als er den Truhendeckel öffnete und den wertvollen Inhalt betrachtete. Bairani legte die Rolle zwischen die anderen und wollte gerade eine andere entnehmen, als ein Wächter eintrat.

»Oberster Seher«, sagte er und stand gerade und abwartend im Eingang, bis Bairani hervortrat. »Seher Torek wünscht Euch zu sprechen.«

»Lass ihn eintreten.« Bairani nickte dem Wächter zu und setzte sich wieder an den großen Tisch. Sein altes Herz, das schon so lange im stetigen Rhythmus schlug, beschleunigte sich und ließ eine ungewohnte Erregung durch seine Glieder fließen. Morgan war zum Greifen nah. Er bemühte sich, Torek unbeeindruckt zu betrachten, als dieser mit ehrfurchtsvoll geneigtem Kopf die Höhle betrat.

»Oberster Seher«, sagte Torek ehrerbietig und verneigte sich in seine Richtung.

»Torek!« Bairani schenkte dem jungen Seher ein spärliches Lächeln und deutete auf einen Stuhl an seinem Tisch. »Nimm Platz, mein Sohn, und berichte von deinem Erfolg.«

Toreks Miene veränderte sich. Unter die Ehrfurcht schob sich Stolz, und sein Blick begegnete ohne Umschweife den Augen Bairanis. Die Spur an Arroganz darin entging dem älteren Mann dabei nicht.

»Morgan und die Monsoon Treasure sind unser, Oberster Seher. Wie vorhergesehen haben wir ihn und seine Mannschaft auf Bocca del Torres ohne Probleme gefangen gesetzt.« Er setzte sich langsam und aufrecht zu Bairani, strich sorgfältig sein Gewand glatt und versuchte der nächsten Frage einen beiläufigen Tonfall zu geben: »Wann wollt Ihr mit der Zeremonie beginnen?«

Bairani war sich bewusst, dass der Junge ihn im Verdacht hatte, nicht mit offenen Karten zu spielen, weil er in den letzten Wochen auf Distanz gegangen war. Torek hatte sich schnell zu einem Seher entwickelt, dessen Fähigkeiten weit über alles hinausgingen, was auf Waidami jemals vorhanden gewesen war. In der Zeit, in der sie gemeinsam darauf gewartet hatten, dass Morgan wieder die Verbindung mit der Monsoon Treasure einging, war aus dem schüchternen Jungen ein selbstsicherer Seher geworden, der nur zu genau von seiner Einzigartigkeit wusste. In seinen Augen blitzte nicht nur die Arroganz der Jugend, sondern auch das Wissen, dass niemand an ihn heranreichen konnte. Bairani zweifelte inzwischen daran, dass es eine gute Idee gewesen war, den Jungen so schnell zu seiner rechten Hand zu machen. Vielleicht hatte er sich nur einen Konkurrenten an die Seite geholt und nicht die erhoffte Verstärkung. Doch seine eigenen Visionen waren zu schwach geworden, als dass sie noch großen Nutzen brachten. Und die anderen Seher zeigten immer öfters ihr Missfallen an seiner Vorgehensweise. Deshalb war er auf die Visionen und die Unterstützung Toreks angewiesen, wenn er die Waidami zu Größe führen wollte.

Nachdenklich betrachtete Bairani den schlaksigen jungen Mann, der immer noch auf eine Antwort von ihm wartete. Seine Hand glitt zu dem Amulett, das warm unter seinen Fingern pulsierte, sich in seine Handfläche schmiegte, als wäre Leben in ihm.

»Wir sollten keine unnötige Zeit verlieren«, entschied er und stand auf. »Lass mich jetzt unseren neuen Verbündeten begrüßen.«

*

Eine knappe Stunde später stand Jess in einer der Höhlen im Vulkan, die er bereits von den zahlreichen Besuchen bei Bairani kannte. Zwei Wächter standen schweigend mit vor der Brust verschränkten Armen neben ihm und ließen ihn nicht aus den Augen. An der Zeichnung des Auges auf ihrer Stirn erkannte er, dass es sich um Männer handelte, die dem Obersten Seher bis in den Tod treu ergeben waren. Es waren fanatische Anhänger, die unter den Einwohnern Waidamis wegen ihrer Bedingungslosigkeit nicht besonders beliebt waren. Jess ließ seinen Blick durch die Höhle wandern, die schmucklos und kalt wirkte. Vor ihm befand sich ein kunstvoll verzierter Thron. Seine Armlehnen waren mit Gold belegt und seine hohe Rückenlehne endete in einer stilisierten Krone, geschmückt mit Diamanten und Saphiren. Der Thron hatte sich auf einem stark bewachten Schatzschiff befunden, das damals von Stout aufgebracht worden war. Er war ein Geschenk dieses Kriechers gewesen. Bairani hatte in seinem Größenwahn nicht widerstehen können und sich den Thron in diese Höhle stellen lassen. Jess zog verächtlich eine Augenbraue hoch und sah zum Eingang hinüber. Leise Schritte näherten sich, deren Klang durch den Gang hallte und einen Besucher ankündigten, lange bevor er selbst hereintreten würde. In Jess stieg die Anspannung, und er änderte ein wenig seine Position, um die schmerzenden Muskeln zu entlasten. Einer seiner Wächter versetzte ihm einen groben Stoß und zwang ihn so in die ursprüngliche Stellung zurück. Jess presste die Lippen aufeinander und atmete bewusst langsam. Die Schritte klangen jetzt näher, und er musste Ruhe bewahren.

Vier weitere Wachen erschienen, die alle das Zeichen des Auges auf ihrer Stirn trugen. Hinter ihnen trat der Oberste Seher ein. Bairani hielt seinen Kopf hoch erhoben und würdigte ihn keines Blickes. Er nahm mit andächtiger Haltung seinen Platz auf dem Thron ein und legte betont sorgsam seine Hände um die Armlehnen. Während er seine mitleidslosen Augen langsam auf Jess richtete, schritt Torek eilig herein und stellte sich mit einem erwartungsvollen Gesichtsausdruck neben den Thron.

»Willkommen zu Hause, mein Sohn. Ich freue mich sehr darüber, dich endlich hier begrüßen zu dürfen«, sagte Bairani mit seiner unangenehmen Stimme, in der ein lauernder Unterton lag.

»Die Freude ist recht einseitig, fürchte ich.« Jess antwortete scheinbar gelassen. Bairani durfte seine Unruhe nicht bemerken.

»Das glaube ich gerne.« Bairani kicherte, und sein faltiges Gesicht legte sich in noch mehr Falten. »Es ist wirklich schade, dass du so denkst. Schließlich haben wir beide uns doch mal sehr nahe gestanden, wenn man bedenkt, dass du bei mir aufgewachsen bist. – Aber ich versichere dir, dass wir uns bald wieder sehr nahe sein werden.« Die langen Finger, die gerade noch die Lehne umklammert hatten, trommelten nun in einem bedrohlichen Rhythmus gegen das Holz, während der Oberste Seher ihn lange und ausgiebig musterte.

Unbehaglich verfolgte Jess, wie Bairani sich kurz zu Torek neigte und ihm leise etwas sagte. Torek lächelte zustimmend und der Oberste Seher griff bedächtig nach einem Amulett, das an einer Kette um seinen Hals hing. Das Amulett war aus rötlich schimmerndem Gold gefertigt und hatte die Form eines Vulkans. Auf seiner Mitte prangte das Auge der Thethepel, das einen roten Edelstein enthielt. Es musste eine Träne der Thethepel sein. Eine düstere Vorahnung streifte Jess. Es war der gleiche Stein, der sich auch am Griff des rituellen Dolches für die Verbindungen befand. Jess schluckte. Bairani umfasste das Amulett nun mit beiden Händen und fixierte ihn mit seinen leblosen Augen. Zuerst war es nur ein leichtes Ziehen, das Jess in seinem Herzen spürte. Doch dann ergoss sich glühende Hitze hinein und füllte es mit Schmerz. Jess stöhnte und bäumte sich auf. Sein Blick hing an dem Bairanis, als hielte dieser ihn fest. Anstrengung stand in dem Gesicht seines Peinigers und die offensichtliche Erregung, die ihm die Qualen von Jess bereitete.

Jess‘ Blick verschleierte sich, und er schloss die Augen. Die Hitze trat aus seinem Herzen und ergoss sich in seine Adern, bildete ein Netz, das ihn fesselte und sich langsam und unaufhaltsam in ihm zusammenzog. Der Schmerz war überall. Jess brach der Schweiß aus. Seine Muskeln verkrampften sich in dem vergeblichen Versuch, der Qual zu entkommen. Plötzlich änderte sich etwas. Das Netz lockerte sich ein wenig, und der Schmerz ließ nach. Doch gleichzeitig mischte sich etwas anderes in das Feuer, das permanent durch seine Adern rann. Jess konnte es nicht fassen, es schlängelte sich durch seinen Körper und griff nach seinem Verstand. Entsetzen packte ihn, als er darin Bairani erkannte, und drängte den Schmerz in den Hintergrund. Bairani war in seinem Kopf und wickelte sich um seinen Willen wie der Leib einer Schlange. Jess schrie wütend auf. Verzweifelt konzentrierte er sich und versuchte, seinen Willen vor dem Zugriff zu schützen. Er schüttelte den Kopf, als könnte er so Bairani hinauswerfen. Von einem Augenblick auf den anderen zog sich das Gefühl zurück. Jess taumelte und registrierte noch, dass Bairani bewusstlos auf dem Boden lag, bevor er selbst zusammenbrach.

*

Nachdenklich sah Torek den beiden Kriegern nach, die den bewusstlosen Jess hinausschleiften. Das war der dritte vergebliche Versuch Bairanis gewesen, den Willen des Piraten zu übernehmen. Schweratmend lag der Oberste Seher in seinem Thron. Zusammengesackt und bleich, der Kampf mit dem Willen Morgans verlangte seinem Körper mehr ab, als er zu geben in der Lage war. Torek verspürte Genugtuung bei dem Anblick. Bairani hatte ihm bereits vor Wochen berichtet, dass er in einer Schriftrolle das Geheimnis entdeckt hatte, wie man den Dolch der Thethepel manipulieren konnte. Wenn man den diesen mit den Tränen der Thethepel und dem Blut eines Sehers auflud, stellte man bei der zeremoniellen Tätowierung mehr als nur eine Verbindung zwischen Kapitän und Schiff her. Das Amulett war mit der gleichen Mixtur aufgeladen worden und ermöglichte seinem Träger den Zugriff auf den Willen des Kapitäns. Eine erfreuliche Waffe in den falschen Händen, wie Torek fand. Bairani war zu schwach, um diese Verbindung wirklich nutzen zu können. Morgan war längst an den Grenzen seiner körperlichen und geistigen Verfassung angelangt und trotzdem stemmte er sich erfolgreich gegen den Zugriff. Das Ganze konnte noch ewig so weiter gehen. Es sei denn, er überzeugte Bairani, ihm das Amulett zu überlassen. Dieser schien jedoch davon überzeugt zu sein, dass er ihn besser nicht an all seinen Plänen teilhaben ließ.

Ein Stöhnen kam über die schlaffen Lippen des älteren Sehers. Torek lächelte abfällig. Bairani hatte ihn unterschätzt. Mit seinem Misstrauen ihm gegenüber hatte er ihn nur wütend gemacht.

Langsam öffnete der Oberste Seher seine Augen und stützte sich auf den Armlehnen in die Höhe.

»Wie geht es Euch, Oberster Seher?«, fragte Torek und bemühte sich, seiner Stimme einen sorgenvollen Klang zu geben.

»Wo ist Morgan?«, entgegnete dieser und ignorierte damit die Frage.

»Die Krieger bringen ihn wieder in den Kerker.«

»Nein. Sie sollen ihn wieder hierher bringen. Ich war diesmal kurz davor, ihn zu überwältigen.« Bairani sah ihn finster an. »Ich werde einen weiteren Versuch machen.«

»Verzeiht, aber ich denke, Ihr seid bereits zu sehr erschöpft. Wenn Ihr jetzt zu viel wagt, erleidet Ihr womöglich körperlichen Schaden. Wir können es uns nicht leisten, Euch zu verlieren.«

Bairani lehnte seinen Kopf mit geschlossenen Augen an die Lehne in seinem Rücken, als müsste er die Worte überdenken.

»Morgan ist zu stark. Er nutzt die gleiche Zeit, die Ihr benötigt, um Euch zu erholen, um seine Kräfte zu sammeln. Glaubt mir, ich habe gesehen, dass es nur einen Weg gibt, ihn zu übermannen.«

Bairanis Augen öffneten sich wieder und blickten kalt auf Torek.

»Was hast du gesehen?«

Torek zögerte kurz, obwohl er wusste, dass Bairani seinen Köder geschluckt hatte. Er wusste, dass der ältere Mann nicht mehr so deutliche Visionen wie früher hatte. Mehr und mehr verließ er sich auf die Visionen, die er von Torek erhielt. Noch vor wenigen Monaten hätte er ihm nichts vorspielen können. Zu gut erinnerte er sich an den Versuch, ihn anzulügen, um einen der Schiffsbaumeister für beleidigendes Verhalten zu bestrafen. Damals hatte ihn Bairani mit Leichtigkeit durchschaut. Das war inzwischen anders geworden. Seine Zeit als Oberster Seher neigte sich dem Ende zu.

»Wir benötigen ein weiteres Amulett, um von zwei Seiten anzugreifen und seinen Willen zu brechen.«

Die blassen Augen musterten ihn ausgiebig, als suchten sie nach einem Hinweis auf Ehrlichkeit. Torek wusste, dass Bairani nicht bereit war, das Amulett aus der Hand zu geben. Es hätte sein Misstrauen nur gesteigert, wenn er dies vorgeschlagen hätte.

»Für Morgan benötigen wir einen Seher, der ihn begleitet und dafür sorgt, dass er auch tut, was wir von ihm wollen. Das könnt unmöglich Ihr selbst übernehmen. Waidami braucht Eure Führung hier.«

Die Worte tropften wie Gift in die Höhle und taten ihre Wirkung. Ein Beweis mehr, dass Bairani langsam zu alt wurde. Bedächtig glitt seine Hand an das Amulett und umfasste es, wie um sich versichern zu müssen, dass es noch an seinem Platz hing.

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