Kitabı oku: «Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union», sayfa 12

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B. Das Verhältnis zwischen Unionsrecht und nationalem Recht
I. Die Eigenständigkeit des Unionsrechts

[129] Die Unionsverträge sind zwar völkerrechtlichen Ursprungs; das durch sie geschaffene Unionsrecht bildet jedoch eine eigenständige Rechtsordnung, die sich von ihren völkerrechtlichen Grundlagen weitgehend gelöst hat. Eigenständigkeit beansprucht die Unionsrechtsordnung daneben auch gegenüber den nationalen Rechtsordnungen.

[130] Die Eigenständigkeit der Unionsrechtsordnung ist für den Bestand der EU von grundlegender Bedeutung, da nur durch sie die Aushöhlung des Unionsrechts durch nationales Recht verhindert und die einheitliche Geltung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten gewährleistet werden kann. Sie gehört deshalb nach der Rechtsprechung des EuGH in dessen beiden bereits erwähnten Urteilen in den Rechtssachen „van Gend & Loos“ und „Costa/E.N.E.L.“ zu den charakteristischen Merkmalen und zu den Grundlagen der Unionsrechtsordnung.

[S. 106]

Aufgrund der Eigenständigkeit der Unionsrechtsordnung werden etwa die unionsrechtlichen Begriffe grundsätzlich nach den Erfordernissen des Unionsrechts und den Zielen der EU bestimmt. Auch ist Prüfungsmaßstab für die Rechtsakte der EU ausschließlich das Unionsrecht, nicht aber das nationale Gesetzes- oder Verfassungsrecht.

II. Das Zusammenwirken der Rechtsordnungen

[131] Dieser Aspekt des Verhältnisses von Unionsrecht zum nationalen Recht umfasst diejenigen Beziehungen, in denen sich das Unionsrecht und das nationale Recht gegenseitig ergänzen. Art. 4 Abs. 3 EUV umschreibt diese Beziehung sehr anschaulich mit den Worten:

„Nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit achten und unterstützen sich die Union und die Mitgliedstaaten gegenseitig bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben. Die Mitgliedstaaten ergreifen alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus den Verträgen oder den Handlungen der Organe der Union ergeben. Die Mitgliedstaaten unterstützen die Union bei der Erfüllung ihrer Aufgabe und unterlassen alle Maßnahmen, welche die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden könnten.“

Dieser allgemeine Grundsatz wurde in dem Bewusstsein formuliert, dass die Unionsrechtsordnung allein nicht in der Lage ist, die mit der EU verfolgten Ziele zu verwirklichen. Anders als die nationalen Rechtsordnungen bildet die Unionsrechtsordnung kein in sich geschlossenes System, sondern sie bedarf zu ihrer Durchführung des Unterbaus der nationalen Rechtsordnungen.

Dieses Zusammenwirken des Unionsrechts und nationalen Rechts ist so vielgestaltig, dass es hier nur anhand einiger wichtiger Beispiele verdeutlicht werden kann.

Das System der Richtlinie

[132] Ausdruck der engen Verbindung und Ergänzung der Unionsrechtsordnung durch die nationalen Rechtsordnungen und umgekehrt der nationalen Rechtsordnungen durch die Unionsrechtsordnung ist zunächst das System der Richtlinie120. Während die Richtlinie selbst nur das zu erreichende Ziel in einer für die Mitgliedstaaten verbindlichen Form festlegt, bleibt es den innerstaatlichen Stellen, d.h. dem nationalen Recht überlassen, in welcher Form und mit welchen Mitteln dieses Ziel verwirklicht wird.

Das Vorabentscheidungsverfahren

[133] Im Bereich der Gerichtsbarkeit wird eine enge Verbindung zwischen nationaler Gerichtsbarkeit und Gerichtsbarkeit der EU durch das Vorabentscheidungsverfahren (Art. 267 AEUV) hergestellt121. In diesem Verfahren können (müssen) die nationalen[S. 107] Gerichte dem EuGH Fragen zur Auslegung und Gültigkeit des Unionsrechts zur Vorabentscheidung vorlegen, die in den bei ihnen anhängigen Verfahren entscheidungserheblich sein können. Das Vorabentscheidungsverfahren verdeutlicht zum einen, dass auch die Gerichte der Mitgliedstaaten das Unionsrecht zu beachten und anzuwenden haben, und zum anderen, dass die authentische Auslegung und die Beurteilung der Gültigkeit des Unionsrechts in die ausschließliche Zuständigkeit des EuGH fallen.

Vervollständigung eigener Regeln

[134] Die gegenseitige Abhängigkeit von Unionsrechtsordnung und nationaler Rechtsordnungen zeigt sich schließlich auch dann, wenn es darum geht, Lücken in der Unionsrechtsordnung zu schließen. Dies geschieht etwa dadurch, dass das Unionsrecht zur Vervollständigung eigener Regeln auf die jeweils bereits in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen bestehenden rechtlichen Regelungen verweist. Das Schicksal einer unionsrechtlichen Regelung wird damit von einem bestimmten Punkt an von den jeweiligen nationalen Rechtsvorschriften bestimmt122. Allgemein gilt dies für den gesamten Vollzug von Unionsrecht, sofern das Unionsrecht keine eigenen Regeln betreffend den Vollzug des Unionsrechts aufstellt. In allen diesen Fällen gehen die nationalen Behörden bei der Durchführung der Unionsregelungen nach den Bestimmungen des nationalen Rechts vor. Dieser Grundsatz gilt freilich nur insoweit, als dabei die Wirksamkeit der Unionsregelung nicht in Frage gestellt und den Erfordernissen der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts Rechnung getragen wird, da in jedem Fall zu vermeiden ist, dass Wirtschaftsteilnehmer nach unterschiedlichen Maßstäben und damit ungleich behandelt werden123.

Weiterführende Literatur: Pescatore, Das Zusammenwirken der Gemeinschaftsrechtsordnung mit den nationalen Rechtsordnungen, EuR 1970, S. 307.

III. Die unmittelbare Geltung und Anwendbarkeit des Unionsrechts

[135] Die unmittelbare Geltung des Unionsrechts folgt bereits aus der Eigenständigkeit der Unionsrechtsordnung. Als unabhängige, neben den jeweiligen staatlichen Rechtsordnungen auf dem Territorium der Mitgliedstaaten existierende Rechtsordnung bedarf das von der Unionsrechtsordnung umfasste Recht keines staatlichen Aktes, um in den Mitgliedstaaten Geltung beanspruchen zu können. Es gilt in den Mitgliedstaaten nicht als nationales Recht, sondern unmittelbar als Unionsrecht.

Von der „unmittelbaren Geltung des Unionsrechts“ zu unterscheiden ist seine „unmittelbare Anwendbarkeit“ in den Mitgliedstaaten. Die unmittelbare Anwendbarkeit des Unionsrechts besagt, dass das Unionsrecht neben den Unionsorganen[S. 108] und den Mitgliedstaaten auch den Unionsbürgern/Unternehmen unmittelbar Rechte verleihen und Pflichten auferlegen kann.

[136] Die Grundlage der unmittelbaren Anwendbarkeit des Unionsrechts findet sich ebenfalls in der Eigenständigkeit der Unionsrechtsordnung. Die unmittelbare Anwendbarkeit bestimmt sich deshalb nicht nach nationalem Recht, insbesondere nicht nach nationalem Verfassungsrecht, sondern ausschließlich nach Unionsrecht. Vor diesem Hintergrund hat der EuGH die unmittelbare Anwendbarkeit des Unionsrechts im Wesentlichen aus der Natur und der Zweckbestimmung der Union abgeleitet. Danach sind die Unionsverträge mehr als nur eine Übereinkunft, die nur wechselseitige Verpflichtungen zwischen den Mitgliedstaaten begründen. Vielmehr erstrecken sie sich durch die Ausrichtung auf die Schaffung eines Binnenmarktes auch auf die Verhältnisse der Unionsbürger/Unternehmen und beziehen diese damit in ihr Regelungswerk mit ein.

[137] Mit dieser Aussage allein ist allerdings noch nicht viel gewonnen; denn es bleibt dabei offen, welche Vorschriften des Unionsrechts unmittelbar anwendbar sind. Der EuGH hat sich dieser Frage zunächst im Hinblick auf die Vorschriften des primären Unionsrechts angenommen und festgestellt, dass alle diejenigen Normen der Unionsverträge für den Einzelnen unmittelbar anwendbar sein können, die

• unbedingt formuliert,

• in sich vollständig und rechtlich vollkommen sind und deshalb

• zu ihrer Erfüllung oder Wirksamkeit keiner weiteren Handlungen der Mitgliedstaaten oder der Unionsorgane bedürfen124.

[138] Im Zuge dieser Rechtsprechung hat der EuGH die unmittelbare Anwendbarkeit einer Reihe von Vertragsvorschriften anerkannt, von denen insbesondere diejenigen über die Grundfreiheiten des Binnenmarktes125 herausragen, d.h. die Vorschriften über den freien Warenverkehr (Art. 34 AEUV)126, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Art. 45 AEUV)127, die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV)128, die Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV)129 sowie die Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 56 AEUV)130. Von großer praktischer Bedeutung ist schließlich auch die Anerkennung der unmittelbaren Anwendbarkeit des Grundsatzes der Lohngleichheit für Männer und Frauen (Art. 157 AEUV)131 sowie des allgemeinen Diskriminierungsverbots (Art. 18 AEUV)132.

[S. 109]

[139] Im Bereich des Sekundärrechts stellt sich die Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit nur im Hinblick auf die Richtlinien133, da diese Wirkung im Hinblick auf die Verordnungen und die an bestimmte Adressaten gerichteten Beschlüsse bereits unmittelbar aus den Unionsverträgen folgt. Seit dem Jahre 1970 hat der EuGH die Grundsätze über die unmittelbare Anwendbarkeit des primären Unionsrechts auch auf die Richtlinien ausgedehnt134.

[140] Die unmittelbare Anwendung des Unionsrechts in der Form, wie sie vom EuGH anerkannt und entwickelt worden ist, kann in ihrer praktischen Bedeutung kaum überschätzt werden: Sie verbessert die Stellung des Einzelnen, indem sie die Freiheiten des Binnenmarktes zu Rechten ausgestaltet, die der Einzelne vor den nationalen Gerichten durchsetzen kann135.

Weiterführende Literatur: Beljin, Unmittelbare Anwendung des EG-Rechts und EGrechtskonforme Auslegung, JZ 2003, S. 768; Klein, Unmittelbare Geltung, Anwendbarkeit und Wirkung von europäischem Gemeinschaftsrecht, 1988; Nettesheim, Der Grundsatz der einheitlichen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts, GS für Grabitz, 1995; Riegel, Die unmittelbare Wirkung des Gemeinschaftsrechts – Vorlageverfahren und Mitwirkungspflichten der mitgliedstaatlichen Gerichte, BayVBl. 1982, S. 617.

IV. Der Vorrang des Unionsrechts

[141] Die Eigenständigkeit der Unionsrechtsordnung gegenüber den nationalen Rechtsordnungen führt zwangsläufig zu der Frage, welches Recht im Falle der Kollision Vorrang vor dem anderen beanspruchen kann.

[142] Ein solches Problem besteht nicht im Verhältnis Völkerrecht – staatliches Recht. Da das Völkerrecht erst durch den Akt der Inkorporation oder Transformation Bestandteil der staatlichen Rechtsordnungen wird, entscheidet sich die Frage des Vorrangs allein nach den Regeln des staatlichen Rechts. Je nach dem Rang, den das staatliche Recht dem Völkerrecht in der staatlichen Rechtsordnung zuweist, geht dieses dem Verfassungsrecht vor136 oder steht im Range zwischen Verfassungsrecht und einfachem Gesetzesrecht137 oder hat es nur den Rang einfachen Gesetzesrechts138. Das Verhältnis von gleichrangigem inkorporierten oder transformierten Völkerrecht und staatlichem Recht bestimmt sich nach der Regel „lex posterior derogat legi priori“.

[S. 110]

[143] Diese staatlichen Kollisionsregeln sind hingegen auf das Verhältnis zwischen Unionsrecht und staatlichem Recht nicht anwendbar, weil das Unionsrecht nicht Bestandteil der staatlichen Rechtsordnungen ist. Ein Konflikt zwischen Unionsrecht und nationalem Recht kann deshalb allein aus der Unionsrechtsordnung heraus gelöst werden139.

Das geschriebene Unionsrecht enthält auch nach dem Vertrag von Lissabon keine ausdrückliche Regelung, die etwa besagt, dass das Unionsrecht dem nationalen Recht vorgeht oder dass es dem nationalen Recht nachsteht. Es war erneut der EuGH, der in seinem bereits vorgestellten Urteil vom 15. Juli 1964 in der Rechtssache „Costa/ ENEL“140 zwei für das Verhältnis des Unionsrechts zum nationalen Recht grundlegende Feststellungen getroffen hat:

• Die Staaten haben Hoheitsrechte endgültig auf das von ihnen geschaffene Gemeinwesen übertragen. Dies können sie durch spätere einseitige, mit dem Unionsbegriff unvereinbare Maßnahmen nicht rückgängig machen.

• Es ist ein Grundsatz des Vertrags, dass kein Mitgliedstaat die Eigenart des Unionsrechts antasten kann, im gesamten Bereich der Union einheitlich und vollständig zu gelten.

Aus alledem folgt:

Unionsrecht, welches den Befugnissen der Verträge entsprechend gesetzt wurde, geht jedem entgegenstehenden Recht der Mitgliedstaaten vor. Es ist nicht nur stärker als das frühere nationale Recht, sondern entfaltet eine Sperrwirkung auch gegenüber später gesetztem Recht.

[144] Ihre unionsrechtliche Grundlage findet diese Vorrangregel in Art. 4 Abs. 3 EUV, wonach die Mitgliedstaaten alle Maßnahmen unterlassen, welche die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden könnten141. Eines der Hauptziele der Union besteht in der Errichtung und Erhaltung des Binnenmarktes. Dieser Binnenmarkt umfasst die Freiheit des Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs sowie die Gleichheit der Wettbewerbsbedingungen. Seine Herstellung und Erhaltung setzt aber zwingend voraus, dass die zu diesem Zweck erlassenen Unionsnormen einheitliche Geltung haben. Die einheitliche, d.h. die im Gebiet der gesamten Union gleiche Geltung des Unionsrechts kann jedoch nur gewährleistet werden, wenn das Unionsrecht Vorrang vor dem nationalen Recht, einschließlich des nationalen Verfassungsrechts, beanspruchen kann.

[145] Als Rechtsfolge aus dieser Vorrangregel ergibt sich im Kollisionsfall, dass dem Unionsrecht widersprechendes nationales Recht unabhängig davon, ob es früher oder später[S. 111] als die Unionsrechtsnorm ergangen ist, unanwendbar ist142. Die Rechtsfolge der Unanwendbarkeit des nationalen Rechts tritt automatisch ein, d.h. ohne dass es der vorherigen Beseitigung der nationalen Bestimmung auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren bedarf143. Das später als die Unionsrechtsnorm erlassene nationale Recht ist, soweit es mit der Unionsrechtsnorm unvereinbar ist, als unwirksam, aber nicht als „inexistent“ zu betrachten144.

[146] Der Vorrang des Unionsrechts wird von den Gerichten der Mitgliedstaaten, nach anfänglichem Zögern145, allgemein anerkannt.

Dies gilt auch für das BVerfG. In einem Beschluss des Zweiten Senats vom 6. Juli 2010 heißt es dazu: „Das Recht der Europäischen Union kann sich nur wirksam entfalten, wenn es entgegenstehendes mitgliedstaatliches Recht verdrängt. ... Im Anwendungsbereich des Unionsrechts ist entgegenstehendes mitgliedstaatliches Recht grundsätzlich unanwendbar. Der Anwendungsvorrang folgt aus dem Unionsrecht, weil die Union als Rechtsgemeinschaft nicht bestehen könnte, wenn die einheitliche Wirksamkeit des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten nicht gewährleistet wäre.146 Allerdings sieht das BVerfG diesen Anwendungsvorrang als nicht umfassend an, sondern sieht sich als berechtigt und sogar verpflichtet an, „Handlungen der europäischen Organe und Einrichtungen darauf zu überprüfen, ob sie aufgrund ersichtlicher Kompetenzüberschreitungen oder aufgrund von Kompetenzausübungen im nicht übertragbaren Bereich der Verfassungsidentität (Art. 79 Abs. 3 GG) erfolgen“. Diese sog. „Ultra-vires-Kontrolle“ hat das BVerfG zusammen mit seiner Doktrin vom „ausbrechenden Rechtsakt“ erstmals in seinem Urteil v. 12. Oktober 1993147 zum Vertrag über die Europäische Union (Maastricht-Vertrag) formuliert, wo das BVerfG für sich in Anspruch nimmt, zu prüfen, ob Rechtsakte der EU-Organe und Einrichtungen, wozu auch die Urteile des EuGH gehören, sich in den Grenzen der eingeräumten Hoheitsbefugnisse halten oder aber eine vertragsausdehnende Auslegung der Verträge durch die Gerichtsbarkeit der EU vorliege, die einer unzulässigen autonomen Vertragsänderung gleichkomme148. Dieser Vorbehalt oder diese „Reservezuständigkeit“ soll zwar in einem „Kooperationsverhältnis“ zum EuGH ausgeübt[S. 112] werden und – wie das BVerfG in seinem Urteil zum Lissabon-Vertrag ergänzt – nur ausnahmsweise in Betracht kommen, wenn Rechtsschutz auf EU-Ebene nicht zu erlangen ist149, das BVerfG hat dabei allerdings noch weitgehend offengelassen, wie diese Kontrolle verfahrensmäßig abgewickelt werden soll. Dies hat das BVerfG in seinem Beschluss vom 6. Juli 2010 nun nachgeholt. Zunächst stellt das BVerfG fest, dass die Ultra-vires-Kontrolle mit der vertraglich dem Gerichtshof der EU übertragenen Aufgabe zu koordinieren ist, die EU-Verträge auszulegen und anzuwenden und dabei Einheit und Kohärenz des Unionsrechts zu wahren. Dazu führt das BVerfG aus: „Wenn jeder Mitgliedstaat ohne weiteres für sich in Anspruch nähme, durch eigene Gerichte über die Gültigkeit von Rechtsakten der Union zu entscheiden, könnte der Anwendungsvorrang praktisch unterlaufen werden, und die einheitliche Anwendung des Unionsrechts wäre gefährdet. Wenn aber andererseits die Mitgliedstaaten vollständig auf die Ultra-vires-Kontrolle verzichten, so wäre die Disposition über die vertragliche Grundlage allein auf die Unionsorgane verlagert, und zwar auch dann, wenn deren Rechtsverständnis im praktischen Ergebnis auf eine Vertragsänderung oder Kompetenzausweitung hinausliefe. ... Die nach dieser Konstruktion im Grundsatz unvermeidlichen Spannungslagen sind im Einklang mit der europäischen Integrationsidee kooperativ und durch wechselseitige Rücksichtnahme zu entschärfen.“ Dieses Gebot der Rücksichtnahme gebietet, dass die Ultra-vires-Kontrolle allein durch das BVerfG und nur zurückhaltend und europarechtsfreundlich ausgeübt werden darf. Dazu gehört vor allem, dass (1) das BVerfG die Entscheidungen des Gerichtshofs der EU grundsätzlich als verbindliche Auslegung des Unionsrechts zu beachten hat, (2) vor der Annahme eines Ultra-vires-Akts dem Gerichtshof der EU im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens (Art. 267 AEUV) die Gelegenheit zur Vertragsauslegung sowie zur Entscheidung über die Gültigkeit und die Auslegung des fraglichen Rechtsakts zu geben ist und (3) die Kontrolle nur in Betracht kommt, wenn ersichtlich ist, dass Handlungen der Unionsorgane außerhalb der übertragenen Kompetenzen ergangen sind. Ersichtlich ist dabei ein Verstoß gegen das Prinzip der begrenzten Ermächtigung nur dann, wenn der Kompetenzverstoß hinreichend qualifiziert ist, was voraussetzt, dass der Verstoß offensichtlich und erheblich ist. Mit diesen Konkretisierungen hat das BVerfG seinen markigen Ausführungen im Maastricht-Urteil die Schärfe genommen und hat letztendlich eine praktikable und auch unter dem Gesichtspunkt der Autonomie der EU-Rechtsordnung akzeptable verfahrensmäßige Absicherung der Ultra-vires-Kontrolle vorgestellt.

Es bleibt aber festzuhalten, dass das BVerfG mit der „Identitätskontrolle“ einen Prüfungsvorbehalt bzw. eine Reservezuständigkeit formuliert hat, soweit es um die Überprüfung der Wahrung des durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten materiellen Identitätskerns des Grundgesetzes geht. Allein das BVerfG sei zu der Prüfung berufen,[S. 113] ob der unantastbare Kerngehalt der Verfassungsidentität des Grundgesetzes nach Art. 23 Abs. 1 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG gewahrt ist150.

V. Die unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts

[147] Zur Vermeidung eines unter Anwendung der Vorrangregel zu lösenden Normenkonflikts zwischen Unionsrecht und nationalem Recht kann von den nationalen Rechtsanwendern und Gerichten auf die unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts zurückgegriffen werden.

[148] Die Figur der unionsrechtskonformen Auslegung ist erst relativ spät in der Rechtsprechung des EuGH anerkannt und in die Unionsrechtsordnung eingeführt worden. Nachdem der EuGH zunächst nur auf Anfragen nationaler Gerichte es für „zweckmäßig“ erachtet hatte, eine einheitliche Auslegung nationaler Rechtsvorschriften im Anwendungsbereich einer Richtlinie „sicherzustellen“151, wurde eine Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung erstmals im Jahre 1984 in der Rechtssache „Von Colson und Kamann“ festgestellt152. In diesem Fall ging es um die Feststellung der Höhe des Schadensersatzes für die Diskriminierung von Frauen bei der Berufseinstellung. Während die deutsche Regelung dafür nur den Ersatz des Vertrauensschadens (insbesondere also die reinen Bewerbungskosten) vorsah (§ 611a Abs. 1 BGB), verlangte die Richtlinie 76/207 EWG, dass im nationalen Recht zur Durchsetzung der Chancengleichheit beim Zugang zum Beruf effektive Sanktionen verhängt werden. Da allerdings die Sanktion nicht weiter konkretisiert war, konnte die Richtlinie in diesem Punkt nicht für unmittelbar anwendbar erklärt werden, so dass ein Urteil drohte, das zwar die Unionsrechtswidrigkeit des nationalen Gesetzes festgestellt, aber dem nationalen Gericht keine Grundlage geboten hätte, die nationale Vorschrift außer Acht zu lassen. Ein solches Urteil wurde schließlich durch die Erklärung der Bundesregierung im Verfahren vor dem EuGH verhindert, wonach § 611a BGB den Anspruch auf Schadensersatz nicht beschränkt und insbesondere die Anwendung allgemeiner Schadensersatzbestimmungen nicht ausgeschlossen habe. An diese Aussage anknüpfend entschied der EuGH, dass die nationalen Gerichte verpflichtet seien, die innerstaatlichen Zivilrechtsvorschriften so auszulegen und anzuwenden, dass eine effektive Sanktion einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts gewährleistet ist. Eine bloß symbolische Entschädigung genüge den Anforderungen an eine wirksame Umsetzung der Richtlinie nicht.

[S. 114]

[149] Die rechtliche Grundlage für die unionsrechtskonforme Auslegung sieht der EuGH in Art. 4 Abs. 3 EUV. Danach sind die Mitgliedstaaten gehalten, alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus den EU-Verträgen oder aus Handlungen der Unionsorgane ergeben, zu treffen. Hierzu gehört auch, dass die nationalen Stellen die Anwendung und Auslegung von innerstaatlichem Recht, das durch unionsrechtliche Vorschriften überlagert wird, am Wortlaut und Zweck des Unionsrechts auszurichten haben (Pflicht zur Unionstreue). Für die nationalen Gerichte spiegelt sich hier zugleich auch ihre Rolle als europäische Gerichte im Sinne von Sachwaltern für die korrekte Anwendung und Beachtung des Unionsrechts wider153.

Für die richtlinienkonforme Auslegung tritt zu Art. 4 Abs. 3 EUV als spezielle rechtliche Grundlage Art. 288 Abs. 3 AEUV hinzu. Danach sind die Mitgliedstaaten zur Umsetzung der Richtlinien verpflichtet. Rechtsanwender und Gerichte haben über die richtlinienkonforme Auslegung dazu beizutragen, dass dieser Verpflichtung in vollem Umfang durch den betreffenden Mitgliedstaat nachgekommen wird. Die richtlinienkonforme Auslegung dient der Herstellung von Richtlinienkonformität auf der Ebene der Rechtsanwendung und gewährleistet damit die einheitliche Auslegung und Anwendung von nationalem Umsetzungsrecht in allen Mitgliedstaaten. Es soll auf nationaler Ebene nicht das auseinanderdividiert werden, was durch die Richtlinie auf Unionsebene gerade erst angeglichen wurde.

[150] Die Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung richtet sich gegen alle staatlichen Organe, die konkrete Rechtsanwendung oder Rechtsprechung betreiben. Erfasst wird damit neben der Verwaltung und den Gerichten auch der Gesetzgeber. Soweit der Gesetzgeber die Verfassung durch Gesetzesrecht konkretisiert, muss er sich über Inhalt und Umfang der zu konkretisierenden Verfassungsnorm ein klares Bild machen oder, anders ausgedrückt, er muss die Verfassungsnormen auslegen; diese Auslegung hat unter Beachtung unionsrechtlicher Verpflichtungen zu erfolgen, d.h. sie muss unionsrechtskonform vorgenommen werden.

[151] Der unionsrechtskonformen Auslegung zugänglich sind alle nationalen, generellen Rechtssätze, einschließlich der Verfassung. Den wichtigsten Anwendungsfall bilden natürlich auch hier diejenigen nationalen Rechtsnormen, die unmittelbar der Umsetzung von Richtlinien dienen. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass das nationale Gericht das gesamte nationale Recht in Betracht ziehen muss (und nicht etwa nur den konkreten Umsetzungsakt), um zu beurteilen, inwieweit es so angewendet werden kann, dass es nicht zu einem der Richtlinie widersprechenden[S. 115] Ergebnis führt154. Problematisch war lange Zeit, ob die Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung sich nur auf nationales Recht erstrecken kann, das zeitlich nach dem betreffenden Unionsrecht erlassen wurde. Nach dem zu dieser Frage wegweisenden Urteil in der Rechtssache „Marleasing“ ist es unerheblich, ob das nationale Recht vor oder nach In-Kraft-Treten des Unionsrechts (im konkreten Fall eine Richtlinie) erlassen worden ist155. Im Hinblick auf die richtlinienkonforme Auslegung ist zudem die Feststellung wichtig, dass diese Form der Auslegung nicht nur im Hinblick auf Richtlinienvorschriften mit unmittelbarer Wirkung gilt, sondern gerade auch für solche Richtlinienvorschriften, die keine unmittelbare Wirkung entfalten; gerade für Letztere ist die richtlinienkonforme Auslegung wichtig, da mit Ausnahme der inzwischen vom EuGH anerkannten Haftung der Mitgliedstaaten für fehlende oder fehlerhafte Umsetzung von Richtlinien sonst keine Möglichkeit für Gerichte besteht, korrigierend einzugreifen.

[152] Die Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung besteht im Hinblick auf geltendes Unionsrecht. Das bedeutet, dass die Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung zu dem Zeitpunkt einsetzt, zu dem die fragliche Unionsrechtsvorschrift ihre Rechtswirkungen erzeugt. Mit Ausnahme der Richtlinien ist dies der Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens der fraglichen Unionsrechtsvorschrift. Im Falle der Richtlinien sind zwei Fallkonstellationen zu unterscheiden: Erlass der nationalen Umsetzungsakte vor und nach Ablauf der Umsetzungsfrist. Wird eine Richtlinie vor Ablauf der Umsetzungsfrist in nationales Recht umgesetzt, besteht die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Umsetzungsakts mit dessen In-Kraft-Treten. In diesem Fall sind alle Voraussetzungen für ein Wirksamwerden der Richtlinienvorschriften im nationalen Recht erfüllt, so dass von diesem Zeitpunkt an die nationalen Umsetzungsregelungen im Zusammenhang mit der Richtlinie selbst ausgelegt werden müssen, um eine einheitliche Geltung des Unionsrechts zu gewährleisten. Wird eine Richtlinie hingegen erst nach Ablauf der Umsetzungsfrist in nationales Recht umgesetzt, setzt die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung gleichwohl grundsätzlich mit Ablauf der Umsetzungsfrist ein.156 Im Moment des Ablaufs der Umsetzungsfrist liegt eine Verletzung der Art. 288 Abs. 3 AEUV und Art. 4 Abs. 3 EUV vor, wenn bis dahin die nationale Umsetzung der Richtlinie nicht vorgenommen worden ist. Es ist dann die Pflicht der nationalen Gerichte und Rechtsanwendungsorgane, das bestehende nationale Recht im Lichte der nicht umgesetzten Richtlinie auszulegen bzw. anzuwenden. Eine Ausnahme gilt allerdings für Vorschriften mit Strafcharakter; aus Gründen der Rechtssicherheit und des Rückwirkungsverbots ist eine richtlinienkonforme Auslegung nicht bereits mit dem Ablauf der Umsetzungsfrist möglich, sondern erst mit dem Erlass des konkreten Umsetzungsaktes157, und zwar auch dann, wenn[S. 116] dieser Umsetzungsakt erst nach Ablauf der Umsetzungsfrist erlassen wird. Die bloße Existenz einer Richtlinie vor Ablauf der Umsetzungsfrist kann hingegen keine Verhaltenspflichten der staatlichen Organe nach sich ziehen, weil die Herstellung einer richtlinienkonformen Rechtslage zu diesem Zeitpunkt noch nicht geboten ist. Dies gilt auch für eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts. Verwaltung und nationale Gerichte können nicht durch das Unionsrecht verpflichtet werden, bereits im Vorgriff auf die konkrete Umsetzung einer Richtlinie durch den Gesetzgeber bereits bestehendes nationales Recht im Hinblick auf die Vorgaben dieser Richtlinie richtlinienkonform auszulegen. Verwaltung und nationale Gerichte müssen grundsätzlich erst die Umsetzung der Richtlinie in abstrakt-generelle Normen abwarten, um nicht in die Kompetenzen des Gesetzgebers einzugreifen. Es kann daher auch keine Verletzung des Art. 4 Abs. 3 EUV angenommen werden, wenn Verwaltung und nationale Gerichte trotz einer theoretischen Möglichkeit zur richtlinienkonformen Auslegung bestehenden nationalen Rechts und ihrer abstrakten Verpflichtung aus Art. 288 Abs. 3 AEUV weiterhin nationales Recht ohne Rücksicht auf die Richtlinie auslegen. Ob eine theoretische Möglichkeit zur richtlinienkonformen Auslegung vor Ablauf der Umsetzungsfrist besteht, ist letztlich eine Frage des nationalen Rechts158; allerdings dürfte dem nichts entgegenstehen, solange die richtlinienkonforme Auslegung sich im Rahmen der allgemeinen Grenzen für jedwede Auslegung hält, insbesondere nicht zu einem Auslegungsergebnis führt, das eindeutig mit dem Wortlaut der auszulegenden Regelung unvereinbar ist.

[153] Die unionsrechtskonforme Auslegung findet ihre Grenzen im eindeutigen Wortlaut der nationalen Vorschrift, der eine Auslegung nicht zulässt; auch unter der unionsrechtlichen Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung darf das nationale Recht nicht „contra legem“ ausgelegt werden. Dies gilt auch in dem Fall einer ausdrücklichen Weigerung des nationalen Gesetzgebers, eine Richtlinie in nationales Recht umzusetzen. Ein dadurch hervorgerufener Konflikt zwischen Unionsrecht und nationalem Recht kann nur über das Vertragsverletzungsverfahren (Art. 258, 259 AEUV) und/oder über die Haftung der Mitgliedstaaten für Verletzungen des Unionsrechts gelöst werden.

[S. 117]