Kitabı oku: «Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union», sayfa 13

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VI. Schema zur Prüfung der Vereinbarkeit von nationalem Recht und Unionsrecht

I. Fall beginnt im nationalen Recht/EU-Bezug

1. Umsetzung von EU-Richtlinien

2. Eröffnung eigener Ansprüche durch das Unionsrecht

3. Unionsrechtskonformität des nationalen Rechts

II. Anwendung des Unionsrechts

1. Klärung des Inhalts der Unionsrechtsnorm

a) Identifizierung der Tatbestandsmerkmale der Unionsrechtsnorm

b) Bestimmung des Inhalts der Tatbestandsmerkmale (Definition/ Auslegung)

c) Subsumtion

2. Feststellung der Vereinbarkeit bzw. Unvereinbarkeit des nationalen Rechts mit Unionsrecht

III. Lösung eines Konflikts

1. Unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts

2. Unmittelbare Anwendung des Unionsrechts i.V.m. Vorrang des Unionsrechts

IV. Rechtsschutz

1. Vorabentscheidungsverfahren (Auslegungsfragen) nach Art. 267 AEUV

2. Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 i.V.m. Art. 260 AEUV

3. Schadenersatzklage gegen den betreffenden Mitgliedstaat wegen Verletzung des Unionsrechts

Weiterführende Literatur: Beljin, Die Bedeutung vom Vorrang und Durchführung des EG-Rechts für die nationale Rechtsetzung und Rechtsanwendung, NVwZ 2004, S. 1; Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, 1994; Büdenbender, Das Verhältnis des Europäischen Gerichtshofs zum Bundesverfassungsgericht, 2005; Ehricke, Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts vor Ende der Umsetzungsfrist einer Richtlinie, EuZW 1999, S. 553; Everling, Das Verhältnis des Europarechts zum nationalen Recht, DVBl. 1985, 1201 ff.; Grabitz, Gemeinschaftsrecht bricht nationales Recht, 1966; ders., Das Verhältnis des Europarechts zum nationalen Recht in: Kruse (Hrsg.) Zölle, Verbrauchssteuern, europäisches Marktordnungsrecht, 1988, 33, 40 ff.; Huber, Europäisches und nationales Verfassungsrecht,[S. 118] VVDStRL 60 (2001), S. 194; Hirsch, Europäischer Gerichtshof und Bundesverfassungsgericht NJW 1996, S. 2457; Kirchhof, Die Gewaltenbalance zwischen staatlichen und europäischen Organen, JZ 1998, S. 965; Jarass, Konflikte zwischen EG-Recht und nationalem Recht vor den Gerichten der Mitgliedstaaten, DVBl. 1995, 954; ders., Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, 1994; Nicolaysen, Der Streit zwischen dem deutschen Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof, EuR 2000, S. 197; Niedobitek, Kollisionen zwischen EG-Recht und nationalem Recht, VerwArch 2001, S. 58; Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 148; Streinz, Gemeinschaftsrecht bricht nationales Recht, FS für Söllner, 2000, S. 1139; ders., Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH. Eine kritische Betrachtung, ZEuZ 2004, S. 387; Schroeder, Die Auslegung des EG-Rechts, JuS 2004, S. 180; Weber, Zur Kontrolle grundrechts- bzw. kompetenzwidriger Rechtsakte der EG durch nationale Verfassungsgerichte, FS für Everling, Band II 1995, S. 1625; Zuleeg, Das Recht der europäischen Gemeinschaften im innerstaatlichen Bereich, KSE Bd. 9, 1969; ders., Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung und Fortbildung mitgliedstaatlichen Rechts, in Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, 1999, S. 163.

C. Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Sozialstaatlichkeit

[154] In der EU haben sich Staaten zusammengeschlossen, die im Wesentlichen gleiche Verfassungsstrukturen aufweisen. Die Mitgliedstaaten gewährleisten in ihren Verfassungen die Achtung gemeinsamer rechtlicher, politischer und moralischer Werte und schützen die Prinzipien der parlamentarischen Demokratie, des Rechts, der sozialen Gerechtigkeit und der Wahrung der Menschenrechte. Die Achtung und Aufrechterhaltung der parlamentarischen Demokratie sowie der Rechts- und Sozialstaatlichkeit bilden die Grundlage ihrer Zugehörigkeit zur EU.

[155] Dies hat notwendigerweise Auswirkungen auf die Verfassungsstruktur der EU. Diese wird insoweit inhaltlich definiert, als auch die EU den Grundforderungen nach Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Sozialstaatlichkeit gerecht werden muss. Eine „strukturelle Kongruenz“ zwischen der Unionsverfassung und den Verfassungen der Mitgliedstaaten kann daraus freilich nicht abgeleitet werden. Die EU unterscheidet sich in Umfang, Stärke und Zielsetzung ihrer hoheitlichen Befugnisse zu sehr von einem staatlichen Gebilde, als dass ihre Verfassung an die Verfassungsstrukturen eines oder aller Mitgliedstaaten gebunden werden könnte; vielmehr beschränkt sich die Homogenität zwischen den mitgliedstaatlichen Verfassungen und der EU-Verfassungsstruktur im Hinblick auf die Achtung und Gewährleistung der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratie und der Sozialstaatlichkeit auf ein Mindestmaß. Die Ausgestaltung dieser Verfassungsgrundsätze in der Unionsrechtsordnung wird geprägt durch die Funktion und Wirkungsweise der EU selbst, wobei die Ausprägungen dieser Grundforderungen in den Verfassungen der Mitgliedstaaten zur Orientierung herangezogen und Anpassungen vorgenommen werden können.

[156] Ein allgemeines Bekenntnis zu diesen grundlegenden Verfassungsprinzipien wurde in Art. 2 EUV niedergelegt, wo es ausdrücklich heißt:

„Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte, einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.“

Diese Verfassungsprinzipien gelten nicht nur gegenüber der EU und ihren Institutionen, sondern auch gegenüber den Mitgliedstaaten. Verletzungen der Verfassungsgrundsätze[S. 119] können nach Art. 7 EUV sanktioniert werden. Gegenwärtig sind 2 Verfahren anhängig, eines gegen Polen wegen der Herabsetzung des Ruhestandsalters für Richter des Obersten Gerichts und eines gegen Ungarn wegen Einschränkungen der Meinungs-, Forschungs- und Versammlungsfreiheit sowie der Schwächung des Verfassungs- und Justizsystems und des Vorgehens der Regierung gegen Nichtregierungsorganisationen. Im Verfahren gegen Polen hat der EuGH sein Urteil gesprochen, in dem er feststellt, dass die polnischen Regelungen gegen die Grundsätze der Unabsetzbarkeit der Richter und der richterlichen Unabhängigkeit verstoßen159.

I. Rechtsstaatlichkeit

[157] Obwohl die EU keinen Staat im völkerrechtlichen Sinne bildet, zählt die Rechtsstaatlichkeit zu den Grundsätzen ihrer Verfassungsstruktur160. Der Begriff der Rechtsstaatlichkeit wird durch die jeweiligen politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse geprägt. Das Grundanliegen des bürgerlichen Rechtsstaates besteht in dem Schutz des Individuums und seiner Freiheit gegen hoheitliche Machtausübung161. In diesem Sinne ist auch die EU auf den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit verpflichtet, da sie als Träger von Hoheitsgewalt durchaus in der Lage ist, in die Sphäre der Bürger und Unternehmen einzudringen und deren Freiheit und Eigentum zu beeinträchtigen.

[158] Die Verwirklichung des Rechtsstaatsgedankens verlangt im Wesentlichen die Gewährleistungen folgender Prinzipien, die in ihrer Gesamtheit die Rechtsstaatlichkeit ausmachen:

• Teilung der Gewalten

• Achtung der Grundrechte

• Rechtmäßigkeit der Gewaltausübung

• Rechtsschutz durch unabhängige Gerichte.

1. Gewaltenteilung

[159] Eine klassische Gewaltenteilung, wie sie etwa im Grundgesetz verwirklicht ist, lässt sich den Unionsverträgen nicht entnehmen; vor allem die herkömmliche Trennung der öffentlichen Gewalt in Legislative, Exekutive und Judikative ist in den Unionsverträgen nur zum Teil vollzogen worden. Eine klare Trennung besteht lediglich hinsichtlich der Judikative, während Legislative und Exekutive im Institutionengefüge der EU vielfältig verzahnt und vermischt sind.

[S. 120]

[160] Wenn damit auch das klassische Gewaltenteilungssystem in der EU nicht verwirklicht ist, so besagt dies keineswegs, dass diesem rechtsstaatlichen Postulat nicht Rechnung getragen worden ist. Dem Gewaltenteilungsprinzip, so wie es in den Unionsverträgen angelegt ist, liegt ein System gegenseitiger Kontrolle („checks and balances“) zugrunde, das der EuGH als „institutionelles Gleichgewicht“ bezeichnet. Dieses institutionelle Gleichgewicht verhindert einseitigen Machtmissbrauch durch Unionsorgane162. Es wird durch folgende Elemente geprägt:

a) Prinzip der begrenzten Zuständigkeit

[161] Die Unionsorgane verfügen – anders als die nationalen Parlamente – nicht über eine Allzuständigkeit, sondern jede ihrer Handlungen bedarf einer Grundlage in den Unionsverträgen selbst oder in einem Rechtsakt, der seinerseits in Ausübung einer durch die Verträge eingeräumten Kompetenz erlassen worden ist (sog. Prinzip der begrenzten Ermächtigung)163.

b) Formen der Zusammenarbeit und institutionelle Abhängigkeiten

[162] Beim Erlass von Unionsrechtsakten wird in den Kompetenznormen das Zusammenwirken mehrerer Unionsorgane oder Institutionen verlangt. Dadurch wird zwar keine umfassende Kontrolle im Sinne klassischer Gewaltenteilung gewährleistet, die uneingeschränkte Ausübung von Hoheitsrechten durch einzelne Unionsorgane jedoch verhindert. Als Formen des Zusammenwirkens von Unionsorganen kennen die Unionsverträge die Zustimmung eines anderen als des rechtsetzenden Organs, die Anhörung bzw. Einholung von Stellungnahmen, bevor die ermächtigten Organe in eigener Verantwortung einen Rechtsakt erlassen, den Erlass eines Rechtsaktes nur aufgrund eines entsprechenden Vorschlags eines anderen Organs164 und schließlich die gemeinsame Verantwortung von zwei Organen für Verabschiedung und In-Kraft-Setzung eines Rechtsaktes ggf. nach Durchführung eines Vermittlungsverfahrens165.

c) Politisch-parlamentarische Kontrolle

[163] Eine politisch-parlamentarische Kontrolle findet vor allem durch das EP gegenüber der Europäischen Kommission statt. Die schärfste Waffe des EP besteht darin, dass es der Kommission das Misstrauen aussprechen kann (Art. 234 AEUV). Daneben kann das EP Untersuchungsausschüsse einsetzen, um Verletzungen des Unionsrechts[S. 121] durch andere Organe oder Institutionen oder Missstände bei dessen Anwendung überprüfen zu lassen (Art. 226 AEUV)166.

d) Gerichtliche Kontrolle

[164] Das gesamte Handeln der EU steht unter gerichtlicher Kontrolle. Zu diesem Zweck wurde auf EU-Ebene mit dem Gerichtshof der EU eine zentrale und unabhängige Gerichtsinstanz geschaffen, die für die Wahrung des Rechts bei der Anwendung und Auslegung des Unionsrechts zu sorgen hat167.

Für die Befassung des Gerichtshofs stellt die Unionsrechtsordnung ein ausgebautes Rechtsschutzsystem zur Verfügung168.

Weiterführende Literatur: Petzold, Die Gewaltenteilung in den Europäischen Gemeinschaften, 1966; Hummer, Das „institutionelle Gleichgewicht“ als Strukturdeterminante der Europäischen Gemeinschaften, in: Ius Humanitatis, FS für Verdross 1980, S. 459 ff.

2. Grundrechte
a) Ableitung und Anerkennung der Grundrechte in der Unionsrechtsordnung

[165] Die Geschichte Europas ist seit mehr als zwei Jahrhunderten durch fortwährende Bemühungen um eine Verstärkung des Grundrechtsschutzes gekennzeichnet. Von den Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte des 18. Jahrhunderts ausgehend, zählen die Grund- und Freiheitsrechte zum festen Bestandteil der Verfassungsordnungen der meisten zivilisierten Staaten. Dies gilt in besonderem Maße für die Mitgliedstaaten der EU, deren Rechtsordnungen auf der Wahrung des Rechts sowie auf der Achtung der Würde, Freiheit und Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen aufgebaut sind. Darüber hinaus gibt es zahlreiche internationale Abkommen über den Schutz der Menschenrechte, von denen der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention „EMRK“) eine herausragende Bedeutung zukommt.

[166] Eine Grundrechtsordnung hat sich erst auf Grundlage einer ständigen Rechtsprechung des EuGH herausgebildet, die allerdings relativ spät, nämlich im Jahre 1969, einsetzte, da der EuGH zunächst alle grundrechtlichen Einwendungen mit dem Hinweis verworfen hatte, er habe sich nicht mit Problemen zu befassen, die dem nationalen Verfassungsrecht angehören. Diese Vorstellung musste der EuGH nicht zuletzt im Hinblick auf den von ihm begründeten Anspruch des Vorrangs des EU-Rechts vor nationalem Recht revidieren, da dieser Vorrang nur durchgesetzt werden kann, wenn das EU-Recht in der Lage ist, aus eigener Kraft einen Grundrechtsschutz[S. 122] zu gewährleisten, der dem durch die nationalen Verfassungen gewährten Schutz gleichwertig ist.

[167] Ausgangspunkt dieser Rechtsprechung war das Urteil in der Rechtssache Stauder169, in dem es darum ging, dass ein Empfänger von Kriegsopferfürsorge es als Verletzung seiner Menschenwürde und des Gleichheitsgrundsatzes ansah, dass er bei der Registrierung zum Kauf von „Weihnachtsbutter“ seinen Namen angeben musste. Obwohl der EuGH bereits durch eine Auslegung der einschlägigen Vorschrift zu dem Ergebnis kam, dass die Angabe des Namens nicht erforderlich sei, und sich damit die Prüfung einer Grundrechtsverletzung eigentlich erübrigt hatte, stellte er abschließend fest, dass auch die Beachtung der Grundrechte zu den allgemeinen Grundsätzen der Unionsrechtsordnung gehöre, deren Wahrung der EuGH zu sichern habe. Damit hatte der EuGH erstmalig die Existenz einer eigenen Grundrechtsordnung in der EU anerkannt.

[168] Die einzelnen Grundrechtsgewährleistungen entwickelte der EuGH zunächst aus einigen Vertragsbestimmungen selbst. Dies gilt vor allem für die zahlreichen Diskriminierungsverbote, die jeweils besondere Aspekte des allgemeinen Gleichheitssatzes zum Ausdruck bringen. Zu nennen sind etwa das Verbot jeglicher Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit (Art. 18 AEUV), die Bekämpfung unterschiedlicher Behandlungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung (Art. 10 AEUV), die Gleichstellung von Waren und Personen im Bereich der vier Grundfreiheiten (Warenverkehr, Art. 34 AEUV; Freizügigkeit, Art. 45 AEUV; freie Niederlassung, Art. 49 AEUV; freier Dienstleistungsverkehr, Art. 57 AEUV), die Freiheiten des Wettbewerbs (Art. 101 ff. AEUV) sowie die Lohngleichheit für Männer und Frauen (Art. 157 AEUV). Die vier Grundfreiheiten der EU, die grundlegende Freiheiten des Berufslebens garantieren, können zugleich auch als gemeinschaftliches Grundrecht der Bewegungs- und Berufsfreiheit angesehen werden. Garantiert werden daneben ausdrücklich noch die Vereinigungsfreiheit (Art. 153 AEUV), das Petitionsrecht (Art. 24 AEUV) und der Schutz des Geschäfts- und Berufsgeheimnisses (Art. 339 AEUV).

[169] Diese Ansätze eines unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes sind vom EuGH stetig weiterentwickelt und um weitere Grundrechte ergänzt worden. Dies geschieht über die Anerkennung allgemeiner Rechtsgrundsätze, zu deren Konkretisierung sich der EuGH zum einen der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und zum anderen auch der internationalen Verträge über den Schutz der Menschenrechte, an deren Abschluss die Mitgliedstaaten beteiligt sind, bedient. Letzteres gilt in erster Linie für die EMRK, die bei der inhaltlichen Ausformung der Unionsgrundrechte wesentliche Orientierungen bezüglich der Schutzanforderungen vorgibt. Auf dieser Grundlage hat der EuGH etwa das Gebot der Gleichbehandlung, das Eigentumsrecht, die Berufsfreiheit, die Unverletzlichkeit der Wohnung, die Meinungsfreiheit, das allgemeine[S. 123] Persönlichkeitsrecht, den Schutz der Familie (etwa im Bereich des Nachzugsrechts für Familienangehörige von Wanderarbeitnehmern), die Wirtschaftsfreiheit, die Religions- und Bekenntnisfreiheit sowie eine Reihe von Verfahrensgrundrechten wie den Grundsatz des rechtlichen Gehörs, den aus dem „common law“ bekannten Grundsatz der Wahrung der Vertraulichkeit des Schriftverkehrs mit dem Anwalt (sog. „legal privilege“), das Verbot der Doppelbestrafung oder die Begründungspflicht für EU-Rechtsakte als durch die EU-Rechtsordnung gewährleistete Grundrechte anerkannt. Anerkannt hat der EuGH darüber hinaus einige grundrechtsverwandte rechtsstaatliche Prinzipien, wie insbesondere den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und den Grundsatz des Vertrauensschutzes.

[170] Bei aller Anerkennung für die Leistung des EuGH bei der Herausbildung ungeschriebener Grundrechte hatte dieses Verfahren zur Gewinnung „Europäischer Grundrechte“ einen gravierenden Nachteil: Der EuGH blieb auf den jeweiligen Einzelfall beschränkt. Deshalb konnte er auch nicht für alle Bereiche, in denen es notwendig oder wünschenswert ist, aus den allgemeinen Rechtsgrundsätzen Grundrechte entwickeln. Es war ihm auch nicht möglich, Umfang und Grenzen des Grundrechtsschutzes in der nötigen Allgemeinheit und Differenziertheit herauszuarbeiten. Infolgedessen konnten die EU-Organe nicht hinreichend genau abschätzen, ob sie Gefahr liefen, ein Grundrecht zu verletzen, oder nicht. Auch ein betroffener Unionsbürger konnte nicht ohne weiteres in jedem Fall beurteilen, ob eine Verletzung eines seiner Grundrechte vorlag.

[171] Als Ausweg aus dieser Situation wurde lange Zeit der Beitritt der EU zur EMRK angesehen. In seinem Gutachten 2/94170 hat der EuGH hierzu allerdings festgestellt, dass die EU beim damaligen Stand des EU-Rechts nicht über die Kompetenz verfügte, der Konvention beizutreten. Der EuGH führt in diesem Zusammenhang aus, dass die Wahrung der Menschenrechte zwar eine Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der Handlungen der EU sei, der Beitritt zur EMRK jedoch eine wesentliche Änderung des damaligen Unionssystems zur Folge hätte, da er die Einbindung der EU in ein völkerrechtliches, andersartiges institutionelles System und die Übernahme sämtlicher Bestimmungen der EMRK in die EU-Rechtsordnung mit sich brächte. Eine solche Änderung des Systems des Schutzes der Menschenrechte in der EU, die grundlegende institutionelle Auswirkungen sowohl auf die EU als auch auf die Mitgliedstaaten hätte, ist nach Ansicht des Gerichtshofs von verfassungsrechtlicher Dimension und geht daher ihrem Wesen nach selbst über die Grenzen der Vertragsabrundungskompetenz des Art. 352 AEUV hinaus. Der Beitritt der EU zur EMRK wurde gerade auch im Hinblick auf dieses Gutachten des EuGH mit dem Vertrag von Lissabon in Art. 6 Abs. 2 EUV ausdrücklich vorgesehen.

Die Kommission hat dann am 4. Juni 2010 vom Rat ein entsprechendes Verhandlungsmandat für den Beitritt der EU zur EMRK erhalten. Am 5. April 2013 wurde[S. 124] eine Einigung über den Entwurf der Beitrittsübereinkunft171 erzielt. Die Kommission hat diesen Übereinkunftsentwurf dem Gerichtshof der EU übersandt und gem. Art. 218 Abs. 11 AEUV ein Gutachten über dessen Vereinbarkeit mit EU-Recht angefordert. In seinem Gutachten 2/13172 kommt der EuGH zu dem Schluss, dass der Entwurf der Übereinkunft über den Beitritt der EU zur EMRK nicht mit dem EU-Recht vereinbar ist, da er in mehreren Punkten die Gefahr einer Beeinträchtigung der besonderen Merkmale und der Autonomie des EU-Rechts beinhaltet:

• So moniert der EuGH, dass der Entwurf keine Bestimmung enthalte, die gewährleiste, dass Art. 53 EMRK und Art. 53 GRCh, die das jeweilige Schutzniveau festlegen, aufeinander abgestimmt werden. Eine solche Abstimmung sei erforderlich, da die EMRK den Vertragsparteien die Befugnis einräumt, höhere als die durch die EMRK gewährleisteten Schutzstandards für die Grundrechte vorzusehen. Die Ausübung dieser Befugnis durch die Mitgliedstaaten könne nämlich zu einer Beeinträchtigung des in der GRCh vorgesehenen Schutzniveaus sowie des Vorrangs, der Einheit und der Wirksamkeit des Unionsrechts führen.

• Auch enthalte der Entwurf keine Vorkehrungen, um eine Beeinträchtigung des unionsrechtlichen Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten zu verhindern. Eine solche Gefahr bestehe, da die EMRK von einem Mitgliedstaat verlange, die Beachtung der Grundrechte durch die anderen Mitgliedstaaten zu prüfen, obwohl das EU-Recht die Mitgliedstaaten zu gegenseitigem Vertrauen verpflichte.

• Ähnliches gelte für eine mögliche Beeinträchtigung des Vorabentscheidungsverfahrens durch das Protokoll Nr. 16 zur EMRK, das einen Mechanismus vorsieht, wonach die höchsten Gerichte der Mitgliedstaaten den EGMR um Gutachten über Grundsatzfragen zur Auslegung und Anwendung der durch die EMRK oder ihre Protokolle gewährleisteten Rechte und Freiheiten ersuchen können. Insbesondere bei Rechten, die durch die GRCh gewährleistet würden und den durch die EMRK anerkannten Rechten entsprächen, sei nicht ausgeschlossen, dass ein Ersuchen eines nationalen Gerichts um ein Gutachten gemäß dem Protokoll Nr. 16 das Verfahren der «Vorabbefassung» des EuGH auslösen könnte, wodurch die Gefahr einer Umgehung des Vorabentscheidungsverfahrens entstünde.

• Weiter beanstandet der EuGH einen Verstoß gegen Art. 344 AEUV, wonach die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, Streitigkeiten über die Auslegung oder Anwendung der Verträge nicht anders als in den Verträgen vorgesehen zu regeln. Der Verstoß liege darin, dass die Mitgliedstaaten oder die EU den EGMR mit Rechtsstreitigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten oder zwischen ihnen und der EU befassen könnten, die die Anwendung der EMRK im materiellen Anwendungsbereich des EU-Rechts betreffen. Nur ein ausdrücklicher Ausschluss der Zuständigkeit des EGMR nach Art. 33 EMRK für solche Rechtsstreitigkeiten wäre laut EuGH mit Art. 344 AEUV vereinbar.

[S. 125]

• Ferner sieht der EuGH die Gefahr, dass die Zuständigkeitsverteilung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten durch die Modalitäten des Mitbeschwerdegegner-Mechanismus beeinträchtigt werden, soweit es um den Antrag einer Vertragspartei auf Zulassung als Mitbeschwerdegegner geht. Der Mitbeschwerdegegner-Mechanismus soll sicherstellen, dass Beschwerden von Nichtmitgliedstaaten und Individualbeschwerden, die beim EGMR erhoben werden, den Mitgliedstaaten und/oder gegebenenfalls der EU ordnungsgemäß übermittelt werden. Beantragen die EU oder die Mitgliedstaaten die Zulassung als Mitbeschwerdegegner in einer Rechtssache vor dem EGMR, müssten sie belegen, dass die Voraussetzungen für ihre Beteiligung am Verfahren erfüllt sind. Der EGMR entscheide über diesen Antrag anhand der Plausibilität der vorgebrachten Argumente. Mittels dieser Prüfung würde der EGMR die Regeln des EU-Rechts für die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten sowie die Kriterien für die Zurechnung ihrer Handlungen oder Unterlassungen beurteilen. Insoweit könnte er eine endgültige Entscheidung treffen, die sowohl die Mitgliedstaaten als auch die EU binden würde.

• Kritik übt der EuGH auch am Verfahren seiner Vorabbefassung. Er unterstreicht, dass nur das zuständige EU-Organ, dessen Entscheidung für den EGMR bindend sein sollte, darüber befinden dürfe, ob der EuGH bereits über die Rechtsfrage entschieden hat, die Gegenstand des Verfahrens vor dem EGMR ist. Denn würde dem EGMR gestattet, über eine solche Frage zu befinden, liefe dies darauf hinaus, ihm die Zuständigkeit für die Auslegung der Rechtsprechung des EuGH zu übertragen. Folglich müsste das Verfahren der Vorabbefassung so ausgestaltet werden, dass in jeder beim EGMR anhängigen Rechtssache die EU vollständig und systematisch unterrichtet wird, damit ihr zuständiges Organ in die Lage versetzt wird, zu beurteilen, ob der EuGH über die betreffende Frage bereits entschieden hat, und andernfalls dieses Verfahren in die Wege zu leiten. Außerdem schließe der Entwurf die Möglichkeit aus, den EuGH anzurufen, damit er im Verfahren der Vorabbefassung über eine Frage der Auslegung des abgeleiteten Rechts entscheidet. Die Beschränkung des Verfahrens der Vorabbefassung allein auf Fragen der Gültigkeit beeinträchtige die Zuständigkeiten der EU und die Befugnisse des EuGH.

• Schließlich verstößt die geplante Übereinkunft laut EuGH gegen die besonderen Merkmale des EU-Rechts in Bezug auf die gerichtliche Kontrolle der Handlungen, Aktionen oder Unterlassungen der EU im Bereich der GASP. Im Fall des Beitritts wäre der EGMR ermächtigt, über die Vereinbarkeit bestimmter Handlungen, Aktionen oder Unterlassungen im Rahmen der GASP mit der EMRK zu entscheiden, zu denen auch solche gehören würden, für deren Rechtmäßigkeitskontrolle anhand der Grundrechte dem EuGH die Zuständigkeit fehle. Dies liefe darauf hinaus, die gerichtliche Kontrolle dieser Handlungen, Aktionen oder Unterlassungen der EU in Bezug auf die Beachtung der durch die EMRK gewährleisteten Rechte ausschließlich einem unionsexternen Organ anzuvertrauen.

Aufgrund dieses Gutachtens hat die EU von einem Beitritt zur EMRK Abstand genommen.

[S. 126]

[172] Vor diesem Hintergrund ist es umso wichtiger, dass der Vertrag von Lissabon einen weiteren, ganz entscheidenden Schritt zur Herausbildung einer Grundrechtsordnung für die EU getan und den Grundrechtsschutz in der EU auf eine neue Grundlage gestellt hat. Durch den neuen Grundrechtsartikel im EU-Vertrag (Art. 6 EUV) erhält die EU mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zum ersten Mal einen geschriebenen Grundrechtskatalog173.

[173] Die Grundrechtecharta entfaltet Rechtsverbindlichkeit und ist „den Verträgen rechtlich gleichrangig“, d.h. sie ist Bestandteil des Primärrechts. Dies gilt allerdings nicht für Polen, das sich dem Grundrechtsregime der Charta nicht unterwerfen wollte, weil es befürchtete, über die Geltung der in der Charta niedergelegten Grundrechte bestimmte nationale Positionen, etwa in Religions- und Glaubensfragen, aufgeben oder zumindest ändern zu müssen. Für Polen ergibt sich die Bindung an die Grundrechte nicht aus der Grundrechtecharta, sondern wie bisher aus der Grundrechte-Rechtsprechung des EuGH174. Der ursprüngliche Grundrechtsschutz der EU, den der EuGH entwickelt hat, wird also nicht bedeutungslos, sondern gehört auch weiterhin zu den allgemeinen Grundsätzen des EU-Rechts.

[174] Die Grundrechtecharta legt zugleich den Geltungsbereich der Grundrechte im EU-Recht fest, ohne allerdings neue Kompetenzen für die EU zu begründen. Deshalb ist die Grundrechtecharta auch unter Berücksichtigung der allgemeinen Unionsrechtsbestimmungen zu interpretieren und anzuwenden (Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 EUV).

[175] Eine stärkere institutionelle Verankerung hat der Grundrechtsschutz auf EU-Ebene durch die Einrichtung einer Agentur der EU für Grundrechte175 im Jahre 2007 erfahren, die ihren Sitz in Wien hat und aus der 1998 ebenfalls in Wien eingerichteten[S. 127] Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (EUMC) hervorgegangen ist.

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