Kitabı oku: «Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union», sayfa 15

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cc) Allgemeiner Gleichheitssatz, Diskriminierungsverbote

[196] (Titel III, Art. 20–26 GRCh): Der allgemeine Gleichheitssatz wird vom EuGH als Grundprinzip des Unionsrechts bezeichnet230. Danach dürfen „vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich behandelt werden, es sei denn, dass eine Differenzierung objektiv gerechtfertigt wäre“. Neben dieser objektiv-rechtlichen Funktion enthält der allgemeine Gleichheitssatz aber auch ein subjektives, einklagbares Recht231. Dabei kann das Recht auf Gleichbehandlung nicht nur gegenüber Diskriminierungen, die sich aus staatlichen Regelungen ergeben, geltend gemacht werden, sondern dieses Recht entfaltet darüber hinaus eine unmittelbare Drittwirkung in dem Sinne, dass es auch im Verhältnis unter Privatpersonen zur Anwendung kommt232. Die Prüfung des Gleichheitssatzes vollzieht sich in drei Schritten:

(1) Die Feststellung „vergleichbarer Sachverhalte“: Auszugehen ist dabei von der jeweils anzuwendenden rechtlichen Regelung, die gewisse Rückschlüsse darüber zulässt, welche Merkmale als wesentlich und damit die Vergleichbarkeit bestimmend angesehen werden können233. Ein derartiges Merkmal kann z.B. im Fall der Begünstigung eines bestimmten Produkts die Austauschbarkeit dieses Produkts durch andere, nicht begünstigte Produkte sein (Beihilfe für Zucker, aber nicht für Isoglucose). Eine Ungleichbehandlung kann danach festgestellt werden, wenn vergleichbare Sachverhalte ungleich behandelt werden.

[S. 137]

(2) Die Suche nach objektiven Umständen zur Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung: Der EuGH räumt den EU-Organen bei der Bestimmung der objektiven Umstände einen weiten Beurteilungsspielraum ein, insbesondere wenn es um politische, wirtschaftliche und soziale Entscheidungen geht oder komplexe Beurteilungen und Prüfungen vorzunehmen sind.234.

(3) Verhältnismäßigkeit des Eingriffs: Es ist jeweils zu prüfen, ob die unterschiedliche Behandlung zu den zur Rechtfertigung herangezogenen objektiven Umständen in einem angemessenen Verhältnis stehen235.

[197] Die im AEUV verstreuten besonderen Diskriminierungsverbote (vgl. Art. 18, 40, 45, 153, 157 AEUV) stellen nach der Rechtsprechung des EuGH eine spezifische Ausformung des allgemeinen Gleichheitssatzes dar236. Nach der Rechtsprechung des EuGH besteht auch bei den spezifischen Diskriminierungsverboten die Möglichkeit einer objektiven Rechtfertigung237, wobei die jeweiligen Anforderungen an die Rechtfertigung allerdings unterschiedlich streng ausfallen können, je nachdem, ob es um die Rechtfertigung diskriminierender oder unterschiedslos anwendbarer Maßnahmen geht238.

[198] Nach Auffassung des EuGH steht das EU-Recht einer sog. „umgekehrten Diskriminierung“ nicht entgegen239. Diese besteht darin, dass inländische Personen und Produkte aus unionsrechtlicher Sicht strengeren Anforderungen unterworfen werden können als Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten oder Einfuhrprodukte. Dieses Ergebnis wird als Folge der beschränkten Unionskompetenz angesehen, die sich grundsätzlich nur auf Vorgänge mit grenzüberschreitendem Bezug erstreckt. Regelungen in Bezug auf die Rechtsstellung der eigenen Staatsangehörigen im Inland[S. 138] oder inländischer Produkte fallen nur insoweit in den unionsrechtlichen Regelungsbereich, als bereits eine Harmonisierung auf EU-Ebene erfolgt ist (z.B. im Bereich der Mehrwertsteuer). Ob diese vom EuGH in ständiger Rechtsprechung vertretene Auffassung auch noch unter der Geltung der Unionsbürgerschaft Gültigkeit beanspruchen kann, erscheint zumindest zweifelhaft. Der EuGH hat selbst anerkannt, dass die Unionsbürgerschaft im sachlichen Anwendungsbereich der EU-Verträge den Unionsbürgern einen umfassenden Anspruch auf Nichtdiskriminierung gewährt240. Mit der Anerkennung eines aus der Unionsbürgerschaft ableitbaren Diskriminierungsverbots bleibt jedoch kein Raum mehr für eine Möglichkeit der Diskriminierung der eigenen Staatsangehörigen gegenüber den Unionsbürgern aus anderen Mitgliedstaaten. Die Unionsbürgerschaft verbindet die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten in einer Weise, dass sie ihnen die in den EU-Verträgen und im davon abgeleiteten Recht eröffneten Ansprüche und Rechte gleichermaßen garantiert. Bildlich gesprochen sind auf dem die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten verbindenden Band der Unionsbürgerschaft die „Unionsrechte“ eingeschrieben; das Recht verbindet nicht mehr nur die Mitgliedstaaten der EU, sondern auch deren Staatsangehörige. Damit ist den Mitgliedstaaten die früher bestehende Möglichkeit genommen, die eigenen Staatsangehörigen gegenüber den anderen Unionsbürgern schlechter zu behandeln241.

[199] Die Rechtsfolgen einer Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes oder der speziellen Diskriminierungsverbote sind zweifacher Natur: Im Falle der Auferlegung einer Belastung wird die diese Belastung anordnende Regelung für nichtig erklärt. Besteht die Ungleichbehandlung hingegen in der Verweigerung einer Begünstigung, so lässt der EuGH die Wirkungen der für nichtig oder ungültig erklärten Regelung fortbestehen, bis der Unionsgesetzgeber sie durch eine diskriminierungsfreie Maßnahme ersetzt. Bis zum Erlass dieser Neuregelung ist die benachteiligte Personengruppe auf der Grundlage der fortgeltenden Regelungen der bevorzugten Personengruppe gleichzustellen, so dass auch ihr die umstrittene Begünstigung gewährt werden muss242.

dd) Solidarität

[200] (Titel IV, Art. 27–38 GRCh): Unter Titel IV, der mit „Solidarität“ überschrieben ist, werden soziale Grundrechte, wie z.B. die Koalitionsfreiheit (Art. 28 GRCh) oder das Recht auf gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen (Art. 31 GRCh), aber auch sonstige Grundsätze, wie z.B. Gesundheitsschutz (Art. 35 GRCh), Umweltschutz (Art. 37 GRCh) oder Verbraucherschutz (Art. 38 GRCh), aufgeführt. Der[S. 139] Unterschied zwischen sozialen Grundrechten und Grundsätzen besteht in der Bindungswirkung. Während die sozialen Grundrechte als subjektive Rechte ausgestattet sind, auf die sich der Einzelne berufen kann, bilden die Grundsätze Orientierungen für die Mitgliedstaaten, an die diese sich im Rahmen ihrer Zuständigkeiten halten sollen. Die sozialen Grundrechte sind in den Art. 27–34 GRCh geregelt, während die Grundsätze in den Art. 35–38 GRCh enthalten sind.

ee) Bürgerrechte

[201] (Titel V, Art. 39–46 GRCh): Als Bürgerrechte werden zunächst eine Reihe von Rechten postuliert, die bereits im AEU-Vertrag enthalten sind und die weitestgehend auf Unionsbürger (mit Ausnahme des 45 Abs. 2 GRCh „Freizügigkeit für Drittstaatsangehörige“) beschränkt sind. Dies gilt vor allem für das aktive und passive Wahlrecht bei Wahlen zum EP und Kommunalwahlen (Art. 39, 40 GRCh), den Europäischen Bürgerbeauftragten (Art. 43 GRCh), das Petitionsrecht (Art. 44 GRCh), die Freizügigkeit und die Aufenthaltsfreiheit (Art. 45) sowie den diplomatischen und konsularischen Schutz (Art. 46 GRCh). Daneben gehören zu den Bürgerrechten aber auch administrative Grundrechte in Gestalt des universell geltenden Rechts auf eine gute Verwaltung (Art. 41 GRCh) sowie des nur den Unionsbürgern gewährten Rechts auf Zugang zu Dokumenten (Art. 42 GRCh). Die Beachtung dieser administrativen Grundrechte ist ein elementarer Grundsatz des EU-Rechts, der in allen Verfahren gilt, die zu einer den Betroffenen beschwerenden Maßnahme führen können, und auch dann beachtet werden muss, wenn es keine ausdrücklichen Regelungen für das betreffende Verfahren gibt243.

[202] Das Recht auf eine gute Verwaltung hat verschiedene Ausprägungen: Es beinhaltet zunächst (1) den Anspruch auf ein unparteiisches und gerechtes Verfahren bei den Organen und Einrichtungen der EU (Art. 41 Abs. 1 GRCh), was dem Grundgedanken des „fair trial“ entspricht. Daneben umfasst es (2) den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör (Art. 41 Abs. 2 GRCh), der gleichzeitig auch als justizielles Grundrecht gewährleistet ist (Art. 47 Abs. 2 GRCh). Zur Wahrung dieses Anspruchs muss jeder, der durch eine Entscheidung beschwert werden kann, zumindest zu den Gesichtspunkten Stellung nehmen können, auf die das Unionsorgan seine beschwerende Entscheidung stützt244. Dies gilt nicht nur in Verfahren, die zu Sanktionen führen, sondern in allen Verwaltungs- und Untersuchungsverfahren, die mit einer den Betroffenen belastenden Entscheidung abgeschlossen werden[S. 140]245. Im Urteil „Hoffmann-La Roche“ hat der EuGH den Grundsatz des rechtlichen Gehörs dahingehend umschrieben, dass „den betroffenen Unternehmen im Laufe des Verwaltungsverfahrens Gelegenheit zu geben [ist], zum Vorliegen und zur Erheblichkeit der behaupteten Tatsachen und Umstände sowie zu den ... herangezogenen Unterlagen Stellung zu nehmen“246. Im Urteil „Timex“ hat der EuGH weiter präzisiert, dass für den Fall, dass bestimmte Tatsachen und Umstände z.B. aus Gründen der Wahrung des Geschäftsgeheimnisses nicht weitergegeben werden können, diese auch nicht berücksichtigt werden dürfen, wenn dadurch die Möglichkeit des Unternehmens beeinträchtigt wird, zum Vorliegen oder zur Tragweite dieser Umstände und Unterlagen oder zu den daraus gezogenen Schlussfolgerungen Stellung zu nehmen247. Zum Recht auf eine gute Verwaltung gehört weiterhin (3) das Recht auf Akteneinsicht (Art. 42 Abs. 2 Buchst. b) GRCh). Dieses Recht ist mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör eng verknüpft und garantiert dem Betroffenen die Möglichkeit, sich nicht nur zur Relevanz der Sachumstände zu äußern, sondern auch zu den Unterlagen Stellung zu nehmen, auf die sich das EU-Organ stützt248. Bei der Gewährung des Rechts auf Akteneinsicht muss das EU-Organ im Einzelfall dem Bedürfnis nach vertraulicher Behandlung von Auskünften, insbesondere über Unternehmen, Rechnung tragen. Das Organ muss dabei darum bemüht sein, einen Ausgleich zwischen Geheimhaltungsinteresse und dem Informationsanspruch des Betroffenen herbeizuführen.

[203] Das „Recht auf Zugang zu Dokumenten“ des EP, des Rates und der Kommission ist gleichlautend in Art. 15 AEUV und Art. 42 GRCh geregelt. In der Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 des EP und des Rates vom 30. Mai 2001 wurde das Recht auf Zugang zu Dokumenten und dessen Grenzen näher ausgestaltet249. Als Grundsatz wird dort festgeschrieben, dass die Öffentlichkeit möglichst umfassenden Zugang zu den Dokumenten des EP, der Kommission und des Rates erhält. Dokumente sind unabhängig vom Datenträger sämtliche im Besitz des EP, der Kommission oder des Rates befindlichen Schriftstücke mit bereits vorhandenen Informationen. Der Zugang zu den Dokumenten kann verweigert werden, wenn sich durch deren Verbreitung[S. 141] eine Beeinträchtigung ergeben könnte in Bezug auf den Schutz des öffentlichen Interesses (öffentliche Sicherheit, internationale Beziehungen, Währungsstabilität, Rechtspflege)250, den Schutz des Einzelnen und der Privatsphäre, den Schutz des Geschäfts- und Industriegeheimnisses251, den Schutz der finanziellen Interessen der EU, den Schutz des Beratungsgeheimnisses der Organe und die Wahrung der Vertraulichkeit auf Antrag derjenigen Person, die die Information zur Verfügung gestellt hat252.

[204] Schließlich wird in der Rechtsprechung des EuGH noch der Grundsatz der Wahrung der „Vertraulichkeit“ des Schriftwechsels zwischen Anwalt und Mandanten anerkannt. In seinem Urteil „AM & S“253 hat der EuGH diesen Grundsatz als administratives Grundrecht anerkannt. Die Anwendung dieses auch unter dem Begriff „legal privilege“ bekannten Grundsatzes führt dazu, dass Unternehmen, bei denen etwa im Rahmen eines Kartellverfahrens eine Nachprüfung durchgeführt wird, die Einsicht in den mit ihren Anwälten geführten Schriftverkehr verweigern dürfen, wenn sie glaubhaft darlegen, dass die fraglichen Unterlagen die Voraussetzungen für einen solchen rechtlichen Schutz erfüllen.

ff) Justizielle Rechte (Titel VI, Art. 47–50 GRCh):

[205] (1) Anspruch auf effektiven Rechtsschutz und auf ein faires Verfahren. Dieser bereits als allgemeiner Rechtsgrundsatz anerkannte Anspruch254 ist nunmehr in Art. 47 GRCh ausdrücklich niedergelegt. Er entfaltet Wirkung sowohl auf Unionsebene als auch auf nationaler Ebene. Auf Unionsebene kommt der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz als Auslegungsmaxime der Bestimmungen über den Rechtsschutz zur Anwendung255. Die Mitgliedstaaten werden durch diesen Grundsatz verpflichtet, den aus dem Unionsrecht Begünstigten mindestens gleichwertigen Rechtsschutz zu gewähren wie bei Klagen aus innerstaatlichem Recht; dabei ist sicherzustellen, dass den Begünstigten die Durchsetzung ihrer Rechte praktisch nicht[S. 142] unmöglich gemacht wird256. In der Praxis bewirkt dieser Grundsatz, dass sowohl der Zugang zu den Gerichten an sich (Art. 47 Abs. 1, 3 GRCh) als auch ein faires Verfahren nunmehr ausdrücklich innerhalb angemessener Frist (Art. 47 Abs. 2 GRCh) garantiert sein müssen. (2) Das Verbot der Doppelbestrafung („ne bis in idem“) ist jetzt in Art. 50 GRCh ausdrücklich verankert. Es fand zunächst nur im Bereich des Disziplinarrechts Anwendung257, wurde später dann aber als allgemeiner Rechtsgrundsatz des EU-Rechts anerkannt258. Das Verbot der Doppelbestrafung gilt bei allen Sanktionsentscheidungen259. Gleiches gilt für den Grundsatz der Anrechnung260. Danach ist nicht nur die Verhängung mehrerer Sanktionen für ein und dieselbe Verfehlung verboten, sondern auch die Einleitung mehrerer Verfahren aufgrund desselben Tatsachenkomplexes. Allerdings hat der EuGH eine Kumulierung strafrechtlicher Sanktionen und verwaltungsrechtlicher Sanktionen mit Strafcharakter zugelassen, wenn die fragliche nationale Regelung folgende vier Voraussetzungen erfüllt: (a) Sie muss eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung haben, wobei die jeweiligen Sanktionen komplementäre Zwecke verfolgen müssen (b) Sie muss klare und präzise Regeln aufstellen, die es den Bürgern ermöglichen, vorherzusehen, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine solche Kumulierung in Frage kommt (c) Sie muss sicherstellen, dass die Verfahren untereinander koordiniert werden, damit die mit einer Kumulierung von Verfahren verbundene zusätzliche Belastung für die Betroffenen auf das zwingend Erforderliche beschränkt wird, (d) Sie muss gewährleisten, dass die Schwere aller verhängten Sanktionen auf das im Verhältnis zur Schwere der betreffenden Straftat zwingend Erforderliche beschränkt wird261 In jüngerer Zeit hat zudem das EuG entschieden, dass sich der unionsrechtliche Ne-bis-in-idem-Grundsatz (unter ausdrücklichem Verweis auf Art. 50 GRCh) nur auf das[S. 143] Gebiet der EU erstreckt, so dass die Verhängung von Bußgeldern durch Drittstaaten für ein und dieselbe Verfehlung nicht zu berücksichtigen ist262. (3) Auskunftsverweigerungsrecht: Zur Vermeidung der Selbstbelastung kann ein von der Kommission veranlasstes Auskunftsverlangen zurückgewiesen werden. Dieses Auskunftsverweigerungsrecht gilt jedoch nicht absolut, sondern nur insoweit, als Antworten verlangt werden, durch die das Vorliegen einer Zuwiderhandlung eingestanden würde, für die die Kommission den Nachweis zu erbringen hat263.

g) Vorbehalte des BVerfG

[206] In seinem „Solange-I-Beschluss“ vom 29. Mai 1974 hat das sich BVerfG angesichts der damals noch herrschenden Rechtsunsicherheit über einen wirksamen Grundrechtsschutz auf Unionsebene noch die Kompetenz vorbehalten, die Vereinbarkeit von abgeleitetem Unionsrecht mit den Grundrechten des Grundgesetzes zu überprüfen, und dies solange, bis die EU-Rechtsordnung über einen vom Parlament beschlossenen Grundrechtskatalog verfügt, der dem des deutschen Grundgesetzes adäquat ist264.

[207] Diesen Vorbehalt hat das BVerfG mit seinem „Solange-II-Beschluss“ vom 22. Oktober 1986 erheblich relativiert. Es hat anerkannt, dass die EU-Rechtsordnung „inzwischen“ über einen dem Grundgesetz gleichwertigen Grundrechtsschutz verfügt, und demgemäß die im Beschluss aus dem Jahre 1974 vorbehaltene Prüfungskompetenz gegenüber Unionsrechtsakten am Maßstab deutscher Grundrechte insoweit zurückgestellt, als ein wirksamer Grundrechtsschutz auf Unionsebene gewährleistet ist. Infolgedessen hat das BVerfG erklärt, dass es eine Normenkontrolle gegenüber Unionsrecht, das als Rechtsgrundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte oder Behörden dient, nicht mehr ausüben werde, solange der EuGH einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der EU gewährleistet. Vorlagen nach Art. 100 GG mit diesem Prüfungsgegenstand seien unzulässig265.

Diese Zurücknahme der Gerichtsbarkeit des BVerfG gilt allerdings nur insoweit, als sich die unionsrechtlichen Maßnahmen im Rahmen des durch das Zustimmungsgesetz zu den EU-Verträgen abgesteckten Integrationsprogramms hält, welches seinerseits die rechtsstaatlichen Grenzen wahren muss, die einer Übertragung von Hoheitsrechten nach Art. 23 Abs. 1 GG von Verfassungs wegen gesetzt sind266. Diesen Allgemeinvorbehalt hat das BVerfG in seinem Urteil vom 12. Oktober 1993 zum Vertrag über die Europäische Union bestätigt und seine Haltung dahingehend[S. 144] präzisiert, dass es seine Prüfungskompetenz in einem „Kooperationsverhältnis“ zum EuGH ausübt, in welchem der EuGH den Grundrechtsschutz in jedem Einzelfall für das gesamte Gebiet der EU garantiert, während sich das BVerfG auf die Prüfung beschränkt, ob der jeweils als unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz generell nicht mehr gewährleistet ist267.

[208] In seinem Beschluss zur Bananenmarktordnung268 hat das BVerfG im Jahr 2000 den Grundrechtsschutz durch das BVerfG in EU-Angelegenheiten wieder auf die Formel aus Solange-II zurückgeführt. Damit hat das BVerfG praktisch seine Rechtsprechung zum Vertrag von Maastricht wieder im Sinne eines allgemeinen Prüfvorbehalts korrigiert. Insbesondere der Begriff des Kooperationsverhältnisses wurde nicht wieder aufgegriffen. In der Praxis werden aber sehr strenge Begründungsanforderungen an Richtervorlagen und Verfassungsbeschwerden gestellt. Schon die Zulässigkeit erfordert eine Gegenüberstellung des nationalen und europäischen Grundrechtsschutzes. Es muss dargelegt werden, dass der Grundrechtsschutz in der EU nicht mehr gewährleistet ist. In seiner Entscheidung zum Europäischen Haftbefehl, den Deutschland aufgrund eines Rahmenbeschlusses gem. ex-Art. 34 Abs. 2 lit. b EUV [jetzt aufgehoben] umzusetzen verpflichtet war, übertrug das BVerfG seine „Solange-Rechtsprechung“, die bisher nur für abgeleitetes EU-Recht galt, auch auf EU-Rechtsakte im Rahmen der inzwischen integrierten „dritten Säule“ der EU269.

[209] In seinem Urteil vom 30. Juni 2009 hat sich das BVerfG im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde gegen das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon erneut mit dem „Grundrechtsvorbehalt“ auseinandergesetzt270. Die Beschwerdeführer haben ihre Klage unter anderem auf die Behauptung gestützt, die Rechtsverbindlichkeit der Grundrechtecharta führe dazu, dass die Menschenwürde zu einem abwägbaren Rechtsgut werde. Das BVerfG verweist diesbezüglich auf die Unterscheidung der deutschen und der europäischen Grundrechtsebene. Die allgemeine Schrankenregelung des Art. 52 Abs. 1 GRCh kann daher höchstens die in Art. 1 GRCh garantierte Menschenwürdegarantie einschränken, nicht jedoch Art. 1 Abs. 1 GG. Als weiterer Beschwerdegrund wird angeführt, die deutschen Staatsorgane würden durch die Grundrechtecharta von ihrer Verpflichtung zur Beachtung der Grundrechte des GG entbunden. Auch diese Rüge wird vom BVerfG als nicht ausreichend begründet zurückgewiesen. Die Grundrechte des GG gehören zu den[S. 145] Verfassungskerngedanken, die die Übertragbarkeit von Hoheitsrechten nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG auf die EU begrenzen. Wie im Solange-II-Beschluss festgelegt, übt das BVerfG seine Gerichtsbarkeit nur so lange nicht aus, wie die EU einen dem GG im Wesentlichen gleichkommenden Grundrechtsschutz bietet. Dies ist mehr denn je seit der Einführung der Grundrechtecharta in die EU-Rechtsordnung als gegeben anzusehen.

[209a] Das BVerfG271 hat diese Rechtsprechung jüngst sehr anschaulich wie folgt zusammengefasst: „Das BVerfG prüft innerstaatliches Recht und dessen Anwendung grundsätzlich auch dann am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes, wenn es im Anwendungsbereich des Unionsrechts liegt, dabei aber durch dieses nicht vollständig determiniert ist. Das gilt auch, soweit im Einzelfall nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh daneben auch die Grundrechtecharta der Europäischen Union Geltung beansprucht. Die Prüfung von Akten der deutschen öffentlichen Gewalt anhand des Grundgesetzes enspricht der allgemeinen Funktion des BVerfG, dessen Aufgabe gerade die Wahrung des Grundgesetzes ist und zugleich Art. 23 Abs. 1 GG, der eine Mitwirkung an der EU vorsieht, die auf föderative Grundsätze und das Prinzip der Subsidiarität verpflichtet ist. Dem entsprechen die europäischen Verträge und die Rechtsprechung des EuGH. Die Präambeln des Unionsvertrages und der Grundrechtecharta anerkennen die Vielfalt der Kulturen und Traditionen, und ebenso findet der Respekt vor der Vielgestaltigkeit des Grundrechtsschutzes in den Bestimmungen der Charta seinen Ausdruck. Entsprechend erklärt Art. 5 Abs. 3 EUV den Grundsatz der Subsidiarität zu den Grundprinzipien der Europäischen Union, was in Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh für den Grundrechtsschutz ausdrücklich aufgenommen wird.

Die primäre Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes stützt sich darauf, dass das Unionsrecht dort, wo es den Mitgliedstaaten Gestaltungsspielräume einräumt, regelmäßig nicht auf eine Einheitlichkeit des Grundrechtsschutzes zielt, und auf die Vermutung, dass dort ein auf Vielfalt gerichtetes grundrechtliches Schutzniveau des Unionsrechts durch die Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes mitgewährleistet ist. Belässt der Unionsgesetzgeber den Mitgliedstaaten für die Umsetzung des Unionsrechts Gestaltungsspielräume, ist davon auszugehen, dass dies auch für den Grundrechtsschutz gilt. Anknüpfend an die Rechtsprechung des EuGH kann hier regelmäßig angenommen werden, dass das europäische Grundrechtsschutzniveau innerhalb eines äußeren unionsrechtlichen Rahmens Grundrechtsvielfalt zulässt. Der Umfang, in dem Raum für verschiedene Wertungen der Mitgliedstaaten besteht, richtet sich hier maßgeblich nach dem unionsrechtlichen Fachrecht. Dieses kann für die Umsetzung mitgliedstaatlicher Gestaltungsspielräume allerdings auch grundrechtliche Maßnahmen enthalten. Insoweit ist das Verhältnis zwischen Fachrecht und Grundrechten im Unionsrecht weniger statisch als nach der deutschen Fassung. Ist anzunehmen, dass das Fachrecht auf Grundrechtsvielfalt ausgerichtet ist, kann sich das BVerfG auf die Vermutung stützen, dass durch eine Prüfung am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes das Schutzniveau der Charta, wie sie vom EuGH ausgelegt wird, in der Regel mitgewährleistet ist. Getragen ist diese[S. 146] Vermutung von einer übergreifenden Verbundenheit des Grundgesetzes und der Charta in einer gemeinsamen europäischen Grundrechtstradition, die insbesondere ein Fundament in der Europäischen Menschenrechtskonvention hat. Entsprechend werden sowohl die Charta als auch die Grundrechte des Grundgesetzes im Lichte der Menschenrechtskonvention ausgelegt. Die primäre Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes bedeutet nicht, dass dabei die Grundrechtecharta ohne Berücksichtigung bleibt. Vielmehr sind die Grundrechte des Grundgesetzes im Lichte der Charta auszulegen. Damit wird die Eigenständigkeit der Grundrechte des Grundgesetzes ebenso wenig in Frage gestellt wie ihre Auslegung auch aus den Erfahrungen der deutschen Geschichte und unter Berücksichtigung der spezifischen Strukturen der Rechtsordnung und gesellschaftlichen Wirklichkeit der Bundesrepublik. Es ist nicht von vornherein gesichert, dass die Grundrechtsverbürgerungen des Grundgesetzes und der Grundrechtecharta in jeder Hinsicht deckungsgleich sind. Welche Bedeutung anderen Grundrechtsquellen für die Auslegung der grundgesetzlichen Grundrechte zukommt, ist eine Frage des Einzelfalls und hängt insbesondere auch von Rang, Inhalt und Verhältnis der aufeinander einwirkenden Rechtsnormen ab. Insoweit kann sich eine Auslegung im Licht der Charta von einer Auslegung im Licht der Menschenrechtskonvention unterscheiden.

Die alleinige Heranziehung der Grundrechte des Grundgesetzes als Prüfungsmaßstab für innerstaatliches Recht, das der Durchführung gestaltungsoffenen Unionsrechts dient, gilt nicht ausnahmslos. Zum einen kann das Fachrecht, auch soweit es den Mitgliedstaaten Gestaltungsspielräume belässt, ausnahmsweise engere grundrechtliche Maßgaben enthalten. Zum anderen ist, soweit das Fachrecht Raum für grundrechtliche Vielfalt eröffnet, die Vermutung eines hinreichenden Grundrechtsschutzes durch die Grundrechte des Grundgesetzes widerleglich. Unbeschadet des substantiellen Gleichklangs der Grundrechtsverbürgerungen auf der Basis der Menschenrechtskonvention weisen die Mitgliedstaaten in ihren Grundrechtsüberlieferungen hinsichtlich des Ausgleichs und der Verrechtlichung von Grundrechtskonflikten durch ihre Geschichte und Lebenswirklichkeit geprägte Unterschiede auf, die die Charte in Ausgleich bringen, aber nicht vereinheitlichen kann und will. Eine Prüfung im Maßstab allein der deutschen Grundrechte ist nur dann nicht ausreichend, wenn konkrete und hinreichende Anhaltspunkte vorliegen, dass hierdurch das grundrechtliche Schutzniveau des Unionsrechts nicht gewahrt sein könnte. Anhaltspunkte dafür, dass das unionsrechtliche Fachrecht ausnahmsweise spezifische grundrechtliche Maßgaben für die mitgliedstaatlichen Gestaltungsspielräume enthalten soll, müssen sich aus dem Wortlaut und Regelungszusammenhang des Fachrechts selbst ergeben. Einschränkungen begründen sich insoweit nicht schon daraus, dass im unionsrechtlichen Fachrecht auf die uneingeschränkte Achtung der Grundrechtecharta oder einzelner ihrer Bestimmungen verwiesen wird. Einer möglichen Widerlegung der Vermutung, dass die Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes das grundrechtliche Schutzniveau der Union mitgewährleistet, ist ebenfalls nur bei konkreten und hinreichenden Anhaltspunkten nachzugehen. Ist erkennbar, dass der Europäische Gerichtshof spezifische Schutzstandards zugrunde legt, die von den deutschen Grundrechten nicht gewährleistet werden, so ist das in die Prüfung einzubeziehen. Dasselbe gilt, wenn sich das im Einzelfall maßgebliche Schutzniveau aus Rechten der Charta herleitet, die keine Entsprechung im Grundgesetz haben.

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Gewährleisten die deutschen Grundrechte das Schutzniveau der Charta ausnahmsweise nicht mit, sind die entsprechenden Rechte der Charta insoweit in die Prüfung einzubeziehen. Soweit sich hierbei ungeklärte Fragen hinsichtlich der Auslegung der Charta stellen, legt das BVerfG diese dem EuGH nach Art. 267 Abs. 3 AEUV vor. Andernfalls hat das BVerfG die Unionsgrundrechte in seinen Prüfungsmaßstab einzubeziehen und grundsätzlich zur Geltung zu bringen. Die primäre Heranziehung der Grundrechte des Grundgesetzes seitens des BVerfG stellt die unmittelbare Anwendbarkeit der Grundrechtecharta in deren Anwendungsbereich nicht in Frage. Entsprechend können die Fachgerichte dem EuGH sich insoweit stellende Auslegungsfragen zum Unionsrecht nach Art. 267 Abs. 2 AEUV vorlegen. Dies lässt unberührt, dass die Fachgerichte, soweit das Unionsrecht den Mitgliedstaaten Gestaltungsspielräume belässt, immer auch die Grundrechte des Grundgesetzes zur Anwendung zu bringen haben.“