Kitabı oku: «Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union», sayfa 16

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h) Vorbehalte des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

[210] Grundrechtsprüfvorbehalte bestehen auch im Verhältnis zu den Grundrechtsverbürgungen der EMRK. Zwar sind die Handlungen der EU-Organe nicht unmittelbar auf Übereinstimmung mit den Grundrechten der EMRK überprüfbar, da die EMRK mangels Mitgliedschaft der EU nicht Bestandteil des EU-Rechts ist, jedoch können diese Handlungen mittelbar überprüft werden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte „EGMR“ überprüft alle Maßnahmen der Mitgliedstaaten der EU, die dem Vollzug und der Durchführung von EU-Recht dienen, auf ihre Vereinbarkeit mit der EMRK. Die Tatsache, dass die Mitgliedstaaten lediglich ihre Verpflichtungen aus den EU-Verträgen erfüllen, ändert nichts an ihrer Bindung an die EMRK272.

[211] Allerdings wird die Erfüllung von Verpflichtungen aus der EU-Mitgliedschaft vom EGMR zugunsten des betreffenden Mitgliedstaates als „legitimes Interesse von einigem Gewicht“ in die Grundrechtsprüfung einbezogen und insbesondere gegenüber dem Individualinteresse, das aus der konkreten EMRK-Gewährleistung folgt, abgewogen. Dabei kommt dem Prinzip des „gleichwertigen Grundrechtsschutzes“ besondere Bedeutung zu. Soweit die EU, deren Verpflichtungen vom betreffenden Mitgliedstaat einzuhalten sind, über einen der EMRK gleichwertigen Grundrechtsschutz verfügt, besteht die Vermutung, dass der betreffende Mitgliedstaat bei der schlichten Umsetzung der von der EU aufgestellten Verpflichtungen nicht von den Grundrechtsverbürgungen der EMRK abgewichen ist. Allerdings ist diese Vermutung widerlegbar, wenn im konkreten Fall nachgewiesen wird, dass der Schutz der EMRK-Verbürgungen eindeutig unzureichend war273.

[S. 148]

[212] Damit ist der Kontrollvorbehalt von Seiten des EGMR, wenngleich beschränkt auf nationale Umsetzungsmaßnahmen, sogar etwas strenger als der des BVerfG. Während der EGMR die Widerlegbarkeit der Vermutung im Einzelfall prüft, verlangt das BVerfG den Nachweis eines generellen Grundrechtsdefizits im EU-Recht.

3. Rechtsstaatliche Grundsätze

[213] Zu den speziellen rechtsstaatlichen Grundsätzen gehören nach der Rechtsprechung des EuGH der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit274 sowie der Grundsatz des Vertrauensschutzes. Als allgemeine rechtsstaatliche Grundsätze sind die Rechtssicherheit und die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zu erwähnen, die häufig ergänzend und regulierend bei der Anwendung der bereits genannten speziellen rechtsstaatlichen Grundsätze des Unionsrechts herangezogen werden.

a) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

[214] Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist nunmehr in Art. 5 Abs. 4 EUV ausdrücklich niedergelegt worden und hat im Protokoll Nr. 2 eine erste konkrete Ausgestaltung im Hinblick auf seine Anwendung im Rahmen der Gesetzgebungsentwürfe erfahren. Darüber hinaus gelten für den Grundsatz auch weiterhin die Konkretisierungen, wie sie der EuGH in seinem Urteil „Schräder“ vorgenommen hat. Danach sind „Maßnahmen, durch die den Wirtschaftsteilnehmern finanzielle Belastungen auferlegt werden, nur rechtmäßig, wenn sie zur Erreichung der zulässigerweise mit der fraglichen Regelung verfolgten Ziele geeignet und erforderlich sind. Dabei ist, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen; ferner müssen die auferlegten Belastungen in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen275. Die Prüfung einer Maßnahme anhand dieses Grundsatzes hat in folgenden drei Prüfungsschritten zu erfolgen:

(1) Geeignetheit der Maßnahme: Als ungeeignet sind nur solche Maßnahmen anzusehen, mit denen das angestrebte Ziel unter keinen oder jedenfalls nur beim Zusammentreffen außergewöhnlicher und unwahrscheinlicher Umstände erreicht werden kann.

(2) Erforderlichkeit der Maßnahme: In diesem Zusammenhang ist nach alternativen, den Betroffenen weniger belastenden Maßnahmen zu suchen, die ebenfalls zur Erreichung des mit der fraglichen Maßnahme angestrebten Ziels geeignet sind.

[S. 149]

(3) Übermaßverbot: Es müssen das Unionsinteresse an der Verwirklichung der Maßnahme und das Individualinteresse auf Schutz vor der auferlegten Belastung gegeneinander abgewogen werden.

b) Grundsatz des Vertrauensschutzes

[215] Der Grundsatz des Vertrauensschutzes276 schützt die Wirtschaftsteilnehmer vor einer nachträglichen Umbewertung ihrer im Vertrauen auf die bestehende Rechtslage erworbenen Rechtspositionen oder getroffenen Dispositionen. Die Gewährung des Vertrauensschutzes ist an drei Voraussetzungen geknüpft277:

(1) Bestehen einer Vertrauenslage, d.h. insbesondere das Vorliegen eines Verhaltens eines EU-Organs, das unmittelbar gesicherte Rechtspositionen einräumt oder an das Erwartungen geknüpft werden, die sich in Dispositionen wirtschaftlicher oder tatsächlicher Art konkretisiert haben.

(2) Schutzwürdigkeit des Vertrauens, die bei gesicherten Rechtspositionen stets, bei spekulativen Geschäften niemals vorliegt. Im Hinblick auf die sonstigen Erwartungen hat der EuGH ein engmaschiges Netz vertrauensvernichtender Kriterien geknüpft, das nur in außergewöhnlichen Situationen schutzwürdige Erwartungen zulässt. Dem Wirtschaftsteilnehmer werden ganz erhebliche Anstrengungen im Hinblick auf Informationseinholung, ständige und aufmerksamste Beobachtung der Marktentwicklung und flexible Anpassungen an sich abzeichnende oder bereits vollzogene Rechtsänderungen aufgebürdet sowie die Fähigkeit abverlangt, die einem Regelungskomplex systemimmanenten Änderungsautomatismen in ihrer vollen Tragweite zu erkennen.

(3) Interessenabwägung zwischen dem Vertrauensinteresse des Wirtschaftsteilnehmers einerseits und den die Rechtsänderung fordernden Unionsinteressen andererseits.

[216] Eng verbunden mit dem Grundsatz des Vertrauensschutzes sind das Rückwirkungsverbot sowie die Grundsätze des Widerrufs eines rechtmäßigen und der Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes278.

[S. 150]

c) Rechtssicherheit und Gesetzmäßigkeit der Verwaltung

[217] Die allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätze der Rechtssicherheit und der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung werden häufig ergänzend und regulierend bei der Anwendung der speziellen rechtsstaatlichen Grundsätze des EU-Rechts herangezogen279.

4. Die Rechtmäßigkeit der Gewaltausübung

[218] Dieser fundamentale rechtsstaatliche Grundsatz findet in den EU-Verträgen seinen Ausdruck in dem unionsrechtlichen Verfassungsprinzip, wonach das Handeln der Organe den Bestimmungen der EU-Verträge entsprechen muss. Dies ist in zahlreichen Vertragsvorschriften verankert; so etwa, wenn im Zusammenhang mit den Aufgaben der EU und ihren Organen die Wendungen „gemäß den Bestimmungen der Verträge“, „unter den in diesem Vertrag vorgesehenen Bedingungen“ und „nach Maßgabe dieses Vertrages“ gebraucht werden.

Diese Bindung der Unionsgewalt an den Grundsatz der Rechtmäßigkeit des Handelns gilt aber nicht nur im Hinblick auf das Vertragsrecht, sondern verdient gleichermaßen Beachtung hinsichtlich der Einhaltung des sekundären Unionsrechts beim Erlass von Durchführungsvorschriften und bei der Regelung von Einzelfällen durch Beschlüsse280. Die umfassenden und teilweise detaillierten Regelungen des sekundären Unionsrechts können nur dann ihre volle Geltungskraft erlangen, wenn die EU-Organe verpflichtet sind, auch diese Normierungen zu beachten.

5. Die Haftung für rechtswidrige Hoheitsakte

[219] Die Haftung der EU für rechtswidrige Hoheitsakte ihrer Organe ist dem Grunde nach in Art. 340 Abs. 2 AEUV geregelt. Diese Haftung ist denkbar weit angelegt und erfasst etwa auch die Haftung für legislatives und jurisdiktionelles Unrecht. Die einzelnen Haftungsvoraussetzungen sind dagegen im AEU-Vertrag nur lückenhaft geregelt; sie bestimmen sich im Übrigen nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind281.

[S. 151]

6. Der Rechtsschutz durch unabhängige Gerichte

[220] Die EU-Rechtsordnung stellt für die Auseinandersetzungen über das EU-Recht und für seine Durchsetzung ein geschlossenes Rechtsschutzsystem zur Verfügung. Im Mittelpunkt dieses Rechtsschutzsystems stehen der Gerichtshof (EuGH), das Gericht (EuG) sowie die ihm beigeordneten Fachgerichte. Der Gerichtshof der EU besitzt die höchste richterliche Gewalt in allen Fragen des Unionsrechts. Seine generelle Aufgabe besteht darin, „die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung“ der Verträge zu sichern (vgl. Art. 19 EUV)282. Damit korrespondiert ein Recht des Einzelnen auf einen effektiven gerichtlichen Schutz derjenigen Rechte, die sie aus der EU-Rechtsordnung herleiten, wobei das Recht auf einen solchen Schutz zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehört, die sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten sowie den Art. 6 und 13 der EMRK ergeben283. Dieser aus dem EU-Recht ableitbare Anspruch auf effektiven Rechtsschutz ist auch bei der Gestaltung des nationalen Rechtsschutzes zu beachten. Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV stellt nunmehr ausdrücklich klar, dass die Mitgliedstaaten die „erforderlichen Rechtsbehelfe [schaffen müssen], damit ein wirksamer Rechtsschutz in der vom Unionsrecht erfassten Bereiche gewährleistet ist“. Dies beinhaltet vor allem, dass die Mitgliedstaaten Rechtswege und Verfahrensmodalitäten, wie insbesondere die Klagebefugnis und das Rechtsschutzinteresse, so zu regeln haben, dass der Schutz der den Unionsbürgern aus der unmittelbaren Wirkung des EU-Rechts erwachsenden Rechte vollumfänglich gewährleistet ist284.

7. Schema zur Prüfung der Rechtmäßigkeit von Unionsrechtsakten

I. Formelle Gültigkeit

1. Zuständigkeit: „Prinzip der begrenzten Ermächtigung“ und „Subsidiaritätsprinzip“ (Art. 5 Abs. 3 EUV)

2. Verfahren: Gesetzgebungsverfahren (Art. 294 AEUV)

3. Form: Beteiligungs- und Anhörungsrechte; Begründungspflicht (Art. 296 AEUV); Veröffentlichung

II. Materielle Gültigkeit

1. Bestehen einer Rechtsgrundlage

2. Voraussetzungen der Rechtsgrundlage müssen erfüllt sein:

a) Inhaltliche Bestimmung der Voraussetzungen (Definition/Auslegung)

b) Subsumtion[S. 152]

3. Kein Verstoß gegen höherrangiges Recht durch fraglichen Unionsrechtsakt

a) EU-Verträge und im Rang höher stehendes Sekundärrecht

b) Grundrechte

c) Allgemeine Rechtsgrundsätze (Verhältnismäßigkeit, Vertrauensschutz)

d) Internationales Recht (z.B. WTO-GATT 1984)? (str.)

III. Rechtsschutz

1. Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV: Fragen zur Gültigkeit von EU-Recht

2. Nichtigkeits- oder Untätigkeitsklage nach Art. 263 bzw. 265 AEUV

3. Schadensersatzklage nach Art. 268 i.V.m. Art. 340 Abs. 2 AEUV

a) Haftung für rechtswidriges Handeln

b) Haftung für rechtmäßiges Handeln

Weiterführende Literatur: Rechtsstaatlichkeit: Buchwald, Zur Rechtsstaatlichkeit der Europäischen Union, Der Staat 37 (1998), S. 189; Zuleeg, Die Europäische Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft, NJW 1994, S. 545; Grundrechte: Broß, Grundrechte und Grundwerte in Europa, JZ 2003, S. 429; Calliess, Kooperativer Grundrechtsschutz in der Europäischen Union – Überlegungen im Lichte der aktuellen Rechtsprechung von EuGH und deutschem Bundesverfassungsgericht (BVerfG), JRP 2015, S. 17; von Danwitz, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Gemeinschaftsrecht, EWS 2003, S. 393; Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2. Aufl. 2005; Fries, Die Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten nach dem Gemeinschaftsrecht, 2002; Jarass, EU-Grundrechte, 2005; Kerth, Die Geltendmachung der Gemeinschaftsgrundrechte im Wege des Individualrechtsschutzes, JA 2004, S. 340; Kingreen, Die Gemeinschaftsgrundrechte, JuS 2000, S. 857; ders., Theorie und Dogmatik der Grundrechte im europäischen Verfassungsrecht, EuGRZ 2004, S. 570; Kischel, Die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit durch den Europäischen Gerichtshof, EuR 2000, S. 380; ders., Zur Dogmatik des Gleichheitssatzes in der Europäischen Union, EuGRZ 1997, S. 1; Koch, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 2003; Mayer, Der Vertrag von Lissabon und die Grundrechte, EuR 2009, Beiheft 1, S. 87; Penski/Elsner, Eigentumsgewährleistung und Berufsfreiheit als Gemeinschaftsgrundrechte in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, DÖV 2001, S. 265; Rau/Schorkopf, Der EuGH und die Menschenwürde, NJW 2002, S. 2448; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, 2004; Ritgen, Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, ZRP 2000, S. 371; Ruffert, Die künftige Rolle des EuGH im europäischen Grundrechtsschutzsystem, EuGRZ 2004, S. 466; Schilling, Bestand und allgemeine Lehren der bürgerschützenden allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts, EuGRZ 2000, S. 3; Skouris, Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten im europäischen Gemeinschaftsrecht, DÖV 2006, S. 89; ders., Aspekte des Beitritts der Europäischen Union zur Europäischen Konvention für Menschenrechte, in: FS für Scheuing, 2011, S. 208; Thiel, Grundrechtlicher Eigentumsschutz im EG-Recht, JuS 2001, S. 274; Uerpmann-Wittzack, Doppelter Grundrechtsschutz für die zukünftige Europäische Union, DÖV 2005, S. 152; Wallrab, Die Verpflichteten der Gemeinschaftsgrundrechte, 2004. Grundrechtscharta: Barriga, Die Entstehung der[S. 153] Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2003; Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005; Calliess, Die Charta der Grundrechte der europäischen Union – Fragen der Konzeption, Kompetenz und Verbindlichkeit, EuZW 2001, S. 261; Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl., 2009; Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2010; Meyer/Bernsdorff, Kommentar zur Charta der der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl. 2011; Rengeling, Die wirtschaftsbezogenen Grundrechte in der Europäischen Grundrechtecharta, DVBl. 2004, S. 453; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union – Charta der Grundrechte und Allgemeine Rechtsgrundsätze, 2004; Schmitz, Die EU-Grundrechtscharta aus grundrechtsdogmatischer und grundrechtstheoretischer Sicht, JZ 2001, S. 833; Schröder, Wirkungen der Grundrechtscharta in der europäischen Rechtsordnung, JZ 2002, S. 849; Tettinhger/Stern, Europäische Grundrechtscharta, 2006; Weber, Die Europäische Grundrechtscharta – auf dem Weg zu einer europäischen Verfassung, NJW 2000, S. 537.

II. Demokratie

[221] Eine Verfassungsordnung, die auf dem Demokratieprinzip beruht, setzt voraus, dass die rechtsetzenden Institutionen einer freiheitlichen Union über demokratische Legitimation verfügen285. Eine solche demokratische Legitimierung der Machtausübung vollzieht sich vor allem dadurch, dass grundsätzlich alle Betroffenen die Möglichkeit haben, die Politik, die durch Machtausübung realisiert werden soll, mitzubestimmen.

[222] Diese Grundsätze kommen nunmehr auch in dem neuen Art. 10 EUV zum Ausdruck, der die EU auf die repräsentative Demokratie festlegt. Diese Festlegung hat allerdings nur programmatischen Charakter und besagt, dass jegliches hoheitliches Handeln der EU von der Zustimmung der Bevölkerung getragen sein muss. Diese Zustimmung wird in Wahlen zu repräsentativen Körperschaften, d.h. zum EP und zu den jeweiligen nationalen Parlamenten, erklärt. Gleichwohl ist die EU nicht frei von Elementen direkter, partizipatorischer Demokratie. Beispiele hierfür sind das Bürgerrecht auf Teilnahme am demokratischen Leben der EU als Individualrecht (Art. 10 Abs. 3 EUV) und das Recht zur Bürgerinitiative (Art. 11 Abs. 4 EUV) in der Ausformung als subjektives öffentliches Recht einer Gruppe von Unionsbürgern.

[223] Die demokratische Legitimation der EU ist zweifacher, sich ergänzender Natur: einmal unmittelbar durch das EP und zum anderen mittelbar durch die einzelstaatlichen Parlamente in den Mitgliedstaaten. Diese zweifache parlamentarische Abstützung unterscheidet die EU von den herkömmlichen zwischenstaatlichen Kooperationsformen, indem sie den Bürger dem unmittelbaren Zugriff der EU-Organe aussetzt und ihn zugleich zum mitgestaltenden Subjekt mit unmittelbaren Rechten und Pflichten gegenüber den EU-Organen macht.

[S. 154]

[224] Die unmittelbare, durch das Wirken des EP vermittelte demokratische Legitimation findet ihren Niederschlag in den in der EU bestehenden parlamentarischen Strukturen, wie sie sich aus verschiedenen Bestimmungen in den Verträgen, namentlich aus den Bestimmungen über das EP (Art. 14 EUV), das aktive und passive Wahlrecht (Art. 22 AEUV), das Wahlverfahrensrecht (Art. 223 AEUV) und den Bestimmungen über die Organe und ihr Zusammenwirken im Rahmen der europäischen Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung ergeben. Obwohl Einigkeit darüber besteht, dass das Demokratieprinzip nicht fordert, dass die demokratischen Grundsätze in der EU in gleicher Weise wie in einem verfassten Nationalstaat verwirklicht werden müssen, ist trotz aller Fortschritte der Vorwurf eines Demokratiedefizits in der EU immer noch weit verbreitet. Zuletzt hat ihn das BVerfG im Urteil zum Vertrag von Lissabon wiederholt286. Das BVerfG billigt dem EP nur eine ergänzende Rolle zu und sieht nach wie vor in den nationalen Parlamenten die entscheidende und vorrangige Legitimationsgrundlage der EU. Die indirekte parlamentarische Verantwortung der Mitglieder des Rates gegenüber den nationalen Parlamenten wird nicht als eine hinreichende Ergänzung der Legitimation im EP betrachtet. Solange keine Wahlgleichheit besteht, kann die EU das in einer staatlich verfassten Demokratie bestehende Legitimationsniveau nach Ansicht des BVerfG nicht erreichen. Das EP ist für das BverfG trotz des Anspruchs, den Art. 10 EUV erhebt, kein Repräsentationsorgan eines souveränen europäischen Volkes, sondern in der Sache aufgrund der nationalen Abgeordnetenkontingente nach wie vor eine Vertretung der Völker. Eine solche Betrachtungsweise wird den Integrationsfortschritten, die gerade auch zur Stärkung und Erweiterung der Rechte des EP geführt haben, nicht gerecht. Wer das Demokratiedefizit beschwört, sollte nicht verkennen, dass schrittweise die Rechte des EP bei der Rechtsetzung, im Haushalt, bei der Bestellung der Kommission und der politischen Kontrolle der EU-Organe erheblich ausgebaut wurden, auch wenn weitere Verbesserungen denkbar sein mögen.

[225] Die mittelbare, durch die einzelstaatlichen Parlamente der Mitgliedstaaten vermittelte Legitimation ist durch den Vertrag von Lissabon ganz erheblich verstärkt worden. So werden durch Art. 12 EUV die nationalen Parlamente erstmalig unmittelbar in den europäischen Gesetzgebungsprozess einbezogen, und zwar vor allem in Bezug auf die Wahrung des Subsidiaritätsprinzips. Die Einbeziehung der nationalen Parlamente in das institutionelle Gefüge der EU ist nicht als Ausdruck einer Renationalisierung der EU zu verstehen, sondern bedeutet vielmehr eine Verbreiterung der demokratischen Legitimationsgrundlage der EU. Die stärkere Rolle der Parlamente in der EU geht einher mit einer weiter fortschreitenden Durchdringung nationaler Kompetenzen durch das EU-Recht. Die Einbeziehung intergouvernementaler Bereiche in die Gemeinschaftsmethode und die immer stärkere Überlagerung der nationalen Gesetzgebung durch das EU-Recht haben die Mitgliedstaaten veranlasst, eine stärkere Beteiligung der nationalen Parlamente an den Willensbildungsprozess für die EU-Politiken vorzusehen. Dies erfordert die Verlagerung der Mitwirkung der nationalen[S. 155] Parlamente ins Vorfeld der Rechtsetzung durch frühzeitige Unterrichtung und Einbeziehung (Frühwarnsystem), und genau diesem Erfordernis wird nunmehr durch Art. 12 EUV Rechnung getragen. Insgesamt gibt es nun sechs verschiedene Fallgruppen der Mitwirkung der nationalen Parlamente an der Ausübung hoheitlicher Gewalt durch die EU:

[226] (1) Unterrichtung der nationalen Parlamente (Art. 12 Buchst. (a) EUV): Die Unterrichtung der nationalen Parlamente über anstehende Gesetzentwürfe erfolgt unmittelbar durch die EU-Organe287. Der unmittelbaren Einbeziehung der Parlamente auf der Empfängerseite steht jedoch grundsätzlich kein Recht gegenüber, Stellungnahmen der Parlamente direkt an die EU-Organe zu richten288. Die Bundesregierung ist innerstaatlich nach Art. 23 GG weitergehende, nämlich umfassende Informationspflichten gegenüber dem Deutschen Bundestag eingegangen289. In Deutschland liegt die Prüfung europarechtlicher Vorlagen beim Europaausschuss des Deutschen Bundestags, dem eine im GG hervorgehobene Stellung zukommt (Art. 45 GG), und beim Europaausschuss des Bundesrates.

[227] (2) Rolle der nationalen Parlamente für die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips (Art. 12 Buchst. (b) EUV): Im Rahmen der Prüfung der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips sind die nationalen Parlamente unmittelbar in den EU-Rechtsetzungsprozess einbezogen. Sie erhalten den Entwurf für ein Gesetzgebungsvorhaben unmittelbar von den EU-Organen i.S. eines Frühwarnsystems290.

[228] (3) Beteiligung der nationalen Parlamenten an der Bewertung der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (Art. 12 Buchst. (c) EUV): Die nationalen Parlamente werden auch in die Bewertung bestimmter Mechanismen in der PJZS (insbesondere Eurojust, Art. 85 AEUV, und Europol, Art. 88 AEUV) eingebunden. Hier geht es nicht um Rechtsetzung, sondern um einen Meinungs- und Informationsaustausch über das Funktionieren der internationalen Zusammenarbeit im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.

[229] (4) Beteiligung der nationalen Parlamente an Vertragsänderungen (Art. 12 Buchst. (d) EUV): Die nationalen Parlamente sind, wie bisher schon, an allen Verfahren der Vertragsänderung zu beteiligen. Die Befassung mit einem ausgehandelten Text einer Vertragsänderung hat so frühzeitig zu erfolgen, dass die[S. 156] nationalen Parlamente nicht nur ihre Zustimmung oder Ablehnung des Ergebnisses zum Ausdruck bringen können.

[230] (5) Beteiligung der nationalen Parlamente an Beitritten (Art. 12 Buchst. (e) EUV): Die nationalen Parlamente sind über die Anträge auf einen EU-Beitritt (Art. 49 EUV) frühzeitig zu unterrichten. Innerstaatlich ist die Beteiligung des Bundestags in § 10 EUZBBG geregelt. Gegenüber den Ländern setzt die Verpflichtung zur Unterrichtung des Bundesrats erst ein, wenn der Rat die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen beabsichtigt291.

[231] (6) Interparlamentarische Zusammenarbeit (Art. 12 Bucht. (f) EUV): Die nationalen Parlamente sind schließlich auch aufgerufen, zur guten Arbeitsweise der EU mittels interparlamentarischer Zusammenarbeit unter Einschluss des EP beizutragen. Einzelheiten sind im Protokoll über die nationalen Parlamente (Art. 9 und 10) geregelt. Die Zusammenarbeit ist vor allem in der „Konferenz der Europaausschüsse aus den nationalen Parlamenten“ organisiert, kurz „COSAC“ genannt. Die COSAC-Beiträge haben jedoch keine rechtliche Bindungswirkung, weder sind die EU-Organe zur Berücksichtigung solcher Beiträge verpflichtet, noch sind die nationalen Parlamente an solche Beiträge gebunden.

Weiterführende Literatur: Bleckmann, Das europäische Demokratieprinzip, JZ 2001, 53; Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 24; von Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, 2003; Drexl/Kreuzer/Scheuing/Sieber (Hrsg.), Europäische Demokratie [Erster Themenbereich: Demokratiefähigkeit mit Beiträgen von Zuleeg, S. 11–27; Huber, S. 27–59; Grewe, S. 59–71], 1999; Kurth, Die demokratische Legitimation der Europäischen Union, 1995; Heitsch, Transparenz und demokratische Legitimation, EuR 2001, S. 809; Huber, Die Rolle der nationalen Parlamente bei der Rechtssetzung der Europäischen Union: zur Sicherung und zum Ausbau der Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundestages, 2001; Maurer, Parlamentarische Demokratie in der Europäischen Union, 2002; Mellein, Subsidiaritätskontrolle durch nationale Parlamente, 2007; Peters, Europäische Öffentlichkeit im europäischen Verfassungsprozeß, EuR 2004, S. 275; Schroeder, Die Parlamente im europäischen Entscheidungsgefüge, EuR 2002, S. 301; Zuleeg, Demokratie in der Europäischen Gemeinschaft, JZ 1993, S. 1060.