Kitabı oku: «Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union», sayfa 17

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III. Sozialstaatlichkeit

[232] Den Anspruch auf Sozialstaatlichkeit der EU erheben die EU-Verträge in ihren Präambeln, in denen als Ziele der EU auch die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Unionsbürger sowie die Stärkung des sozialen Zusammenhalts innerhalb der EU festgeschrieben sind.

Die ursprünglichen Möglichkeiten zur Verwirklichung des Sozialstaatsgedankens waren jedoch eher beschränkt, da man davon ausging, dass das Funktionieren des angestrebten „Gemeinsamen Marktes“ gleichsam automatisch zu einer Angleichung[S. 157] der verschiedenen nationalen Sozialordnungen führen würde, aus der zugleich die sozialstaatliche Identität der EU hervorgehen sollte.

[233] Die Erfahrung zeigte jedoch schon bald, dass die wirtschaftlichen Mechanismen des Gemeinsamen Marktes nicht automatisch sozialen Fortschritt und Vollbeschäftigung in den Mitgliedstaaten zur Folge haben. Diese Einsicht führte dann schließlich zu einer Korrektur dieses Politikansatzes, die ihren konkreten Ausdruck im sozialpolitischen Aktionsprogramm des Rates von 21. Januar 1974 fand292. Hierin erkennt der Rat ausdrücklich an, dass zur Verwirklichung der drei sozialpolitischen Hauptziele (Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen und weitgehende Beteiligung der Sozialpartner) eigenständige Aktionen auf EU-Ebene erforderlich sind, die unter Ausschöpfung des gesamten gemeinschaftlichen Handlungsspielraums einzuleiten sind. Auf dieser Grundlage wurde mit der Verabschiedung von rund 40 sozialpolitischen Gemeinschaftsmaßnahmen eine zweite Etappe auf dem Weg zur Verwirklichung des Anspruchs auf Sozialstaatlichkeit eingeleitet. Realisiert wurden unter anderem europäische Richtlinien über die Gleichbehandlung am Arbeitsplatz293, über den Schutz vor Massenentlassungen294, über die Rechte von Arbeitnehmern bei Unternehmensübertragungen295 oder die Erweiterung des Schutzes im Bereich der sozialen Sicherheit296.

[234] Eine Neuausrichtung hat das sozialpolitische Konzept der EU im Zuge der Verwirklichung des Binnenmarktes erfahren. Der Binnenmarkt muss auch in seiner sozialen Dimension verwirklicht werden, da es nicht allein darum gehen kann, das wirtschaftliche Wachstum zu stärken und die außenwirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen zu erhöhen, sondern auch zu einer gerechteren Verteilung der daraus erwachsenden Gewinne zu gelangen297. Dieser Einsicht verschloss sich zunächst allerdings noch das Vereinigte Königreich, so dass die ersten Maßnahmen zur Verwirklichung der sozialen Dimension des Binnenmarktes von den anderen Mitgliedstaaten allein getroffen werden mussten. Dabei handelte es sich zunächst um die im Dezember 1989 beschlossene Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte, welche die europäische Auffassung von der Gesellschaft, vom sozialen Dialog und von den Rechten eines jeden Unionsbürgers zum Ausdruck bringt298. Diese Charta beinhaltete allerdings nur unverbindliche Zielvorgaben und Programmsätze, die erst noch durch ein Aktionsprogramm der Kommission299 in[S. 158] konkrete Vorschläge umgesetzt werden mussten. Auf der Grundlage dieser Vorschläge gelang es dem Rat immerhin, wichtige Richtlinien zur Verbesserung des Gesundheitsschutzes und der Sicherheit am Arbeitsplatz zu verabschieden und damit ein Mindestschutzniveau für alle Mitgliedstaaten festzulegen. Weitere Initiativen galten der Verbesserung des sozialen Schutzes für Wanderarbeitnehmer, der gegenseitigen Anerkennung von Befähigungsnachweisen und schließlich der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Arbeitsleben. Daneben wurde im Rahmen der Schaffung der Europäischen Union durch den Vertrag von Maastricht (1993) – mit Zustimmung des Vereinigten Königreichs – ein Protokoll zur Sozialpolitik verabschiedet, auf dessen Grundlage die Mitgliedstaaten (mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs) das Abkommen über die Sozialpolitik300 vereinbart haben. Inhaltlich betraf das Abkommen so sensible Bereiche wie die Gewährleistung eines einheitlichen Mindestniveaus an sozialem Schutz der Arbeitnehmer durch Sozialleistungen, die Wiedereingliederung von Arbeitslosen in das aktive Berufsleben, das Koalitions- und Mitbestimmungsrecht sowie das Arbeitszeitrecht.

[235] Mit dem Vertrag von Amsterdam (1999) ist es gelungen, zu einer einheitlichen, alle Mitgliedstaaten umfassenden europäischen Sozialpolitik zurückzukehren. Die Regelungen über die Sozialvorschriften wurden im damaligen EG-Vertrag völlig neu gestaltet (ex-Art. 136–145 EGV). Dabei wurden vor allem die bisher im Abkommen über die Sozialpolitik enthaltenen Bestimmungen in den damaligen EG-Vertrag integriert und fortentwickelt. Der bis dahin auf der Grundlage des Abkommens erreichte sozialpolitische Besitzstand wurde durch spezifische Richtlinien (insbesondere zum Europäischen Betriebsrat, dem Erziehungsurlaub, der Teilzeitarbeit und der Beweislast) auf das Vereinigte Königreich ausgedehnt. Darüber hinaus wurde ein eigenständiger Titel zur Beschäftigung in den damaligen EG-Vertrag aufgenommen (ex-Titel VIII – ex-Art. 125–129 EGV). Danach wird die Förderung der Beschäftigung als Angelegenheit von gemeinsamem Interesse verstanden. Die EU und die Mitgliedstaaten sind aufgefordert, eine Beschäftigungsstrategie zu entwickeln und vor allem die Qualifizierung, Ausbildung und Mobilität der Arbeitnehmer zu fördern. Die Arbeitsmärkte sind an den wirtschaftlichen Wandel anzupassen.

[236] Im Vertrag von Lissabon (2009) werden der Sozialstaatsgedanke und die Sozialpolitik in ihrer bisherigen Form bestätigt, und es wird nunmehr ausdrücklich anerkannt, dass die Sozialpolitik in geteilter Zuständigkeit von EU und Mitgliedstaaten gemeinsam wahrgenommen wird (Art. 4 AEUV). Unter den gemeinsamen Werten und Prinzipien werden die Gleichheit, die Solidarität und die Geschlechtergleichbehandlung ausdrücklich erwähnt (Art. 2 EUV). Als eine der grundlegenden Zielvorgaben wird die EU darauf verpflichtet, auf „eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt“, hinzuwirken (Art. 3 Abs. 2 EUV). Sozialpolitische Bedeutung hat auch die Grundrechtecharta, die nunmehr in Art. 6 EUV in Bezug genommen und damit für rechtlich verbindlich[S. 159] erklärt wird. In der Charta sind eine ganze Reihe sozialer Grundrechte verbürgt, wie z.B. Berufsfreiheit (Art. 15 GRCh), Gleichheit von Frauen und Männern (Art. 23 GRCh), Rechte der Kinder (Art. 24 GRCh), Rechte der älteren Menschen (Art. 25 GRCh), Integration von Menschen mit Behinderung (Art. 26 GRCh), Arbeitnehmerrechte (Art. 27–32 GRCh) oder soziale Sicherheit und soziale Unterstützung (Art. 34 GRCh). Hinzuweisen ist auch auf die neuen Querschnittsklauseln, die die EU-Organe verpflichten, bei allen Maßnahmen der EU der Beschäftigung, dem sozialen Schutz und dem Kampf gegen soziale Ausgrenzung (soziale Querschnittsklausel, Art. 9 AEUV) sowie dem Kampf gegen jedwede Diskriminierung (Diskriminierungsklausel, Art. 10 AEUV) Rechnung zu tragen. Eingeführt wurde nunmehr auch im Sozialbereich die Methode der offenen Koordinierung, wonach die Kommission in enger Verbindung mit den Mitgliedstaaten in Bezug auf national oder international zu behandelnde soziale Fragen in Gestalt von Untersuchungen, Stellungnahmen und die Durchführung von Konsultationen die Initiative ergreift, um Leitlinien und Indikatoren festzulegen und den Austausch bewährter Verfahren durchzuführen (Art. 156 Abs. 2 AEUV). Das frühere Kapitel über die Sozialpolitik im engeren Sinne (ex-Art. 136–148 EGV) wurde aber fast unverändert in den Vertrag von Lissabon übernommen (Art. 151–161 AEUV).

[237] Die europäische Sozialpolitik verfügt nunmehr über eine tragfähige Grundlage. Wie ausdrücklich im Bereich der Beschäftigung festgelegt, stellt die Sozialpolitik insgesamt eine Angelegenheit von gemeinsamem Interesse dar. Dies spiegelt auch die Kompetenzverteilung zwischen EU und Mitgliedstaaten im Bereich der Sozialpolitik wider: Sie hat sich von einer beinahe ausschließlichen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten zu einer geteilten Zuständigkeit entwickelt. Dies ermöglicht es der Union, auch sozialpolitische Akzente zu setzen und zusammen mit den Mitgliedstaaten die Sozialstaatlichkeit der EU zu gewährleisten und im Interesse der Unionsbürger weiterzuentwickeln.

D. Die Unionsbürgerschaft

[238] Die Unionsbürgerschaft sollte ursprünglich nur Ausdruck von mehr Bürgernähe sein; sie hat sich danach aber zum „grundlegenden Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten“ entwickelt301. Die Unionsbürgerschaft zählt nach den EU-Verträgen heute zum Kernstück der EU. Sie ist im Zweiten Teil des Vertrags über die Arbeitsweise der EU zusammen mit dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung in den Art. 20 bis 25 AEUV niedergelegt. Außerdem werden auch die Bestimmungen über die demokratischen Grundsätze der EU durch eine neu geschaffene Regelung betreffend die Unionsbürgerschaft und die Gleichheit aller Unionsbürger eingeleitet (Art. 9 EUV).

[S. 160]

I. Erwerb und Verlust der Unionsbürgerschaft

[239] Erwerb und Verlust der Unionsbürgerschaft richten sich nach nationalem Recht. Der Hinweis auf die „Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates“ in Art. 20 Abs. 1 Satz 2 AEUV stellt keinen autonomen Begriff des Unionsrechts dar, wie dies etwa für andere in den EU-Verträgen verwendeten Begriffe gilt302, sondern verweist auf das Staatsangehörigkeitsrecht der Mitgliedstaaten303. Die Unionsbürgerschaft ersetzt nicht die nationale Staatsbürgerschaft, sondern leitet sich von dieser ab und ergänzt sie304. Deutschland hatte bereits beim Abschluss des EWG-Vertrages 1957 erklärt, dass als „Staatsangehörige der Bundesrepublik Deutschland alle Deutschen im Sinne des Grundgesetzes“ gelten (vgl. Art. 116 GG)305. Die Unionsbürgerschaft steht nur natürlichen Personen zu.

II. Rechtscharakter der Unionsbürgerschaft

[240] Die Regelungen betreffend die Unionsbürgerschaft wurden zunächst als beinahe selbstverständliche Wiederholung der ohnehin an anderer Stelle der Verträge und des abgeleiteten Unionsrechts verbürgten Rechte aufgefasst, quasi als eine Art Bündelung des individualrechtlich geprägten „aquis communautaire“ ohne eigenständigen Regelungsgehalt306. Diese Auffassung ist seit dem für die rechtliche Bewertung der Unionsbürgerschaft grundlegenden Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache „Martínez Sala“307 überholt:

In dem vom Bayerischen Landessozialgericht eingeleiteten Vorabentscheidungsverfahren ging es u.a. um die Frage, ob die Gewährung von deutschem Erziehungsgeld an Unionsbürger aus anderen Mitgliedstaaten aus unionsrechtlicher Sicht an den Besitz einer förmlichen Aufenthaltsbescheinigung geknüpft werden darf. Die Brisanz in diesem Fall lag darin, dass unbestritten war, dass die Forderung nach der[S. 161] Vorlage einer förmlichen Aufenthaltsbescheinigung eine unmittelbar an die Staatsangehörigkeit anknüpfende Diskriminierung darstellt, es jedoch aufgrund der konkreten Lebensumstände der Frau Martínez Sala auf den ersten Blick keine unionsrechtliche Grundlage für ein Verbot dieser unmittelbaren Diskriminierung gab. Zwar fiel die begehrte Leistung in den Anwendungsbereich der Verordnung 1408/71308 und der Verordnung Nr. 1612/68309, jedoch gehörte Frau Martínez Sala nicht zum persönlichen Anwendungsbereich dieser Regelungen, der ihr die Tür zum Diskriminierungsverbot geöffnet hätte, weil es ihr an der dafür erforderlichen Eigenschaft als Arbeitnehmerin im Sinne der Freizügigkeitsregelungen bzw. der Regelungen der sozialen Sicherheit fehlte. Damit bestand die Gefahr, dass das damals geltende Unionsrecht einer Unionsbürgerin jedweden Schutz vor unmittelbaren Diskriminierungen zu versagen drohte. Dieser Gefahr begegnete der EuGH damit, dass er anerkannt hat, dass sich jeder Unionsbürger in allen vom sachlichen Anwendungsbereich des damaligen EG-Vertrages erfassten Fällen über die Regelung des ex-Art. 17 Abs. 2 EGV [jetzt Art. 20 AEUV] auf das allgemeine Diskriminierungsverbot des ex-Art. 12 EGV [jetzt Art. 18 AEUV] berufen kann, und zwar unabhängig davon, ob er eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt oder nicht.

[241] Dieser Wandel in der rechtlichen Qualifizierung vom Programmsatz hin zu einem eigenständigen Rechtsinstitut hat auch in den EU-Verträgen ihren Niederschlag gefunden. Der allgemeine Gleichbehandlungsanspruch aller Unionsbürger ist nunmehr ausdrücklich in Art. 9 EUV niedergelegt, während die sonstigen aus der Unionsbürgerschaft ableitbaren Rechte im Katalog des Art. 20 Abs. 2 AEUV zusammengefasst sind.

III. Die durch die Unionsbürgerschaft vermittelten Rechte
1. Zuweisung allgemeiner Rechte und Pflichten

[242] Nach Art. 20 Abs. 2 AEUV haben die Unionsbürger alle in den EU-Verträgen vorgesehenen Rechte und Pflichten. Der Unionsbürgerstatus fasst folglich die subjektive Rechtsstellung der Unionsbürger im primären Unionsrecht zusammen, ohne allerdings ihren Regelungsbereich zu erweitern. Darüber hinaus bestimmt Art. 9 EUV die Gleichheit aller Unionsbürger ausdrücklich als ein von der EU in ihrem gesamten Handeln zu beachtenden Grundsatz.

[S. 162]

[243] Die Mehrzahl der aus der Unionsbürgerschaft abgeleiteten Rechte und Pflichten sind politischer Natur. Zu nennen sind etwa

• das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen und den Wahlen zum EP (Art. 22 AEUV)

• die Inanspruchnahme diplomatischen und konsularischen Schutzes in Drittstaaten (Art. 23 AEUV)

• das Petitionsrecht beim EP, das Beschwerderecht beim europäischen Bürgerbeauftragten oder das allgemeine Informationsrecht (Art. 24 Abs. 2–4 AEUV)

• Recht der Bürgerinitiative (Art. 24 Abs. 1 AEUV i.V.m. Art. 11 EUV)

[244] Daneben werden jedem Unionsbürger aber auch klassische Freiheits- und Gleichheitsrechte gewährt, die subjektiv-rechtlicher Natur sind und folglich die Rechtsstellung der Unionsbürger unmittelbar stärken. Es handelt sich dabei

• zum einen um die Gewährleistung der Gleichheit aller Unionsbürger unabhängig davon, ob sie eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben oder nicht (Art. 9 EUV i.V.m. Art. 18, 20 AEUV), und

• zum anderen um das Recht der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der im Vertrag und in den Durchführungsbestimmungen vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten (Art. 21 AEUV).

[245] Der Katalog der aus der Unionsbürgerschaft ableitbaren Rechte und Pflichten kann durch den Rat nach Zustimmung des EP einstimmig erweitert werden; diese Rechte und Pflichten können allerdings erst nach Zustimmung durch die Mitgliedstaaten entsprechend ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften in Kraft treten.

2. Umfassender Anspruch auf Gleichbehandlung

[246] Eine der wesentlichen rechtlichen Wirkungen der Unionsbürgerschaft besteht darin, denjenigen Unionsbürgern, „die sich in der gleichen Situation befinden, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und unbeschadet der insoweit ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen Anspruch auf die gleiche rechtliche Behandlung“ zu geben310. Damit garantiert die Unionsbürgerschaft i.V.m. Art. 9 EUV einen Anspruch auf Gleichbehandlung in dem Sinne, dass gleiche Sachverhalte nicht ungleich und ungleiche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden dürfen, und dies allein über den Unionsbürgerstatus, d.h. unabhängig davon, ob eine wirtschaftliche Tätigkeit in dem betreffenden Mitgliedstaat ausgeübt wird oder nicht311.

[247] Der EuGH hat in seiner inzwischen ständigen Rechtsprechung den Zusammenhang zwischen Unionsbürgerschaft und Diskriminierungsverbot immer wieder hervorgehoben. So hat der EuGH nationale Regelungen und Praktiken, selbst wenn diese[S. 163] unzweifelhaft der nationalen Gesetzgebungs- und Regelungskompetenz unterlagen, gleichwohl wegen Verletzung des aus der Unionsbürgerschaft ableitbaren Gleichbehandlungsanspruchs verworfen und mit EU-Recht für unvereinbar erklärt312. Damit wird der Handlungsrahmen für den nationalen Gesetzgeber und die nationale Verwaltung erheblich eingeschränkt, wie folgende Beispiele aus der Rechtsprechung nachdrücklich belegen:

• Die Bindung der Altersvorsorgezulage in Deutschland im Rahmen der „Riesterrente“ zur Verwendung im Wohnungsbau in Deutschland und die Rückzahlungspflicht bei Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht durch Wegzug in einen anderen Mitgliedstaat verstößt nicht nur bei Wanderarbeitern aus anderen Mitgliedstaaten und Grenzgängern, sondern auch bei nicht wirtschaftlich tätigen Personen gegen das Recht der Freizügigkeit nach Art. 21 AEUV313.

• Die Speicherung personenbezogener Daten von Unionsbürgern zur Bekämpfung der Kriminalität in einem Mitgliedstaat, ohne für die eigenen Staatsangehörigen zu gelten, widerspricht dem Diskriminierungsverbot314.

• Leistungen aus der deutschen Pflegeversicherung, im konkreten Fall die Zahlung von Rentenversicherungsbeiträgen für einen Pfleger, dürfen nicht mit der Begründung verweigert werden, dass der Pfleger oder die gepflegte Person nicht seinen/ihren Wohnsitz in Deutschland hat315.

[248] Wenn das BverfG in seinem Urteil zum Lissabon-Vertrag ausführt, dass Differenzierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit auch weiterhin möglich sein müssen316, so steht diese Aussage nur dann im Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH, wenn andere Gründe als die Staatsangehörigkeit eine Ungleichbehandlung von Unionsbürgern sachlich rechtfertigen. So ist es etwa mit dem Gleichbehandlungsgebot vereinbar, wenn eine nationale Regelung Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten von der Gewährung von Sozialhilfe ausschließt, die Angehörigen von Drittstaaten – im Rahmen einer Aufenthaltsgestattung für Asylanten – gewährt wird317. Auch kann es gerechtfertigt sein, die Freistellung von Behinderten von einer Straßennutzungsgebühr (Vignette in Österreich) auf Unionsbürger mit enger Verbindung zum Wohnsitzland zu beschränken und behinderten Touristen aus anderen Mitgliedstaaten zu versagen318.

[S. 164]

[249] Voraussetzung für die Geltendmachung des Anspruchs auf Gleichbehandlung ist allerdings, dass ein sachlicher Bezug zum Unionsrecht besteht. Ein solcher sachlicher Bezug liegt nach Auffassung des EuGH nicht vor, wenn der fragliche Sachverhalt ausschließlich nationale Bezüge aufweist319. Allerdings ist der EuGH recht großzügig bei der Beurteilung des Vorliegens unionsrechtlicher Bezüge; es ist dafür nicht notwendig, dass ein Unionsbürger in irgendeiner Form verschiedenen nationalen Rechtsordnungen unterliegt, sondern es genügt etwa auch, dass ein Unionsbürger, der sich nie außerhalb seines Mitgliedstaates begeben hat, aufgrund einer nationalen Maßnahme seinen durch die Unionsbürgerschaft verliehenen Status und der damit verbundenen Rechte verlustig geht320. Liegt aber ein rein innerstaatlicher Sachverhalt vor, kann nach Ansicht des EuGH auch der aus der Unionsbürgerschaft ableitbare Anspruch auf Gleichbehandlung den eigenen Staatsangehörigen vorenthalten werden, während er in vergleichbaren Situationen den Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten gewährt werden muss321. Diese Rechtsprechung überzeugt jedoch nicht322. Die Unionsbürgerschaft verbindet die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten in einer Weise, dass sie ihnen die in den EU-Verträgen und im davon abgeleiteten Recht eröffneten Ansprüche und Rechte gleichermaßen garantiert. Damit ist den Mitgliedstaaten die früher bestehende Möglichkeit genommen, die eigenen Staatsangehörigen gegenüber den anderen Unionsbürgern schlechter zu behandeln323.

3. Freizügigkeit und Aufenthaltsrecht

[250] Jeder Unionsbürger hat gemäß Art. 21 Abs. 1 AEUV das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der im primären und sekundären Unionsrecht vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten.

[251] Eine eigenständige Bedeutung hat dieses Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht allerdings nur insoweit, als

• die Freizügigkeit nicht bereits durch andere Regelungen des AEUV, insbesondere der Grundfreiheiten, gewährleistet ist und Art. 21 AEUV folglich durch speziellere Regelungen verdrängt wird324 oder

[S. 165]

• die Freizügigkeitsrechte nur im Sekundärrecht geregelt sind und durch Art. 21 AEUV in den Rang des Primärrechts erhoben werden, ohne sie allerdings inhaltlich zu ändern.

[252] Seine praktische Bedeutung hat Art. 21 AEUV deshalb vor allem in Fällen, in denen ein Unionsbürger ein Aufenthaltsrecht in einem Mitgliedstaat geltend macht, ohne dort eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne der Art. 45, 49 oder 56 AEUV ausüben zu wollen. In diesen Fällen folgt das Aufenthaltsrecht unmittelbar und ausschließlich aus Art. 21 AEUV325. Praktische Bedeutung könnte in Zukunft auch die in Art. 21 Abs. 3 AEUV neu geschaffene Ermächtigung an den Rat erlangen, nach Anhörung des EP durch einstimmigen Beschluss auch Maßnahmen zugunsten der Unionsbürger zu treffen, die den sozialen Schutz und die soziale Sicherheit zum Gegenstand haben.

[253] Aber auch das aus Art. 21 AUEV ableitbare Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht gilt nicht schrankenlos. Art. 21 Abs. 1 AEUV stellt die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht unter den Vorbehalt der Beschränkungen und Bedingungen, die in den EU-Verträgen und im Sekundärrecht festgelegt sind. Ein primärrechtliche Beschränkung stellt vor allem der „ordre-public-Vorbehalt“ in den Art. 45 Abs. 3, Art. 52 und Art. 62 AEUV dar326. Die wesentlichen sekundärrechtlichen Beschränkungen und Bedingungen sind neben dem auch hier niedergelegten „ordre-public-Vorbehalt“ vor allem, dass der Unionsbürger für sich und seine Familienangehörigen über eine alle Risiken abdeckende Krankenversicherung sowie über ausreichende Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts verfügen muss.

[254] Diese Vorbehalte und Bedingungen beziehen sich allerdings nicht auf die Entstehung des Aufenthaltsrechts, sondern begrenzen lediglich dessen Ausübung. Das bedeutet, dass die Entstehung des Aufenthaltsrechts nicht von der Erfüllung der Bedingungen des Krankenversicherungsschutzes und der ausreichenden Existenzmittel abhängig ist; vielmehr besteht bei Nichterfüllung der Bedingungen lediglich die Möglichkeit, die Ausübung des Aufenthaltsrechts bereits bei der Einreise zu verhindern oder nach erfolgter Einreise bei späterer Nichterfüllung der Bedingungen zu beenden327. Allerdings darf im letzteren Fall die Beendigung des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts nicht die automatische Folge der Tatsache sein, dass der Aufenthaltsberechtigte zu einem bestimmten Zeitpunkt Sozialhilfe in Anspruch nehmen muss328. Jeder Unionsbürger verfügt folglich beim Überschreiten einer Binnengrenze innerhalb der EU über ein vertraglich garantiertes Aufenthaltsrecht, das von dem Aufenthaltsstaat im Einzelfall beendet werden kann, wenn die in den EU-Verträgen oder sekundären Unionsrecht[S. 166] aufgestellten Aufenthaltsbedingungen nicht erfüllt sind329. Die Aufenthaltsberechtigten dürfen die öffentlichen Finanzen des Aufenthaltsstaates „nicht über Gebühr“ belasten; das bedeutet, dass eine bestimmte finanzielle Solidarität auch im Hinblick auf Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten durchaus anerkannt und gefordert wird330.

[255] Den aus Drittländern stammenden Familienangehörigen eines Unionsbürgers werden Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechte grundsätzlich nur über das Sekundärrecht gewährt. Nur in Ausnahmefällen hat der EuGH drittstaatsangehörigen Familienmitgliedern eine reflexartige Begünstigung durch die unionsbürgerlichen Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechte zuerkannt331.