Kitabı oku: «Zukunft möglich machen», sayfa 3
Die Hauptteile des Waisenhauses mit Platz für 550 bis 600 Kinder waren der Mädchen- und der Knabenflügel. Im ersteren war auch die Säuglingsstation mit 90 Betten für die kranken und besonders pflegebedürftigen Kinder unter zwei Jahren untergebracht. In der sog. „Warteschule“ befanden sich Mädchen und Jungen im Alter von 3 bis 6 Jahren, also im heutigen Kindergartenalter. Die schulpflichtigen Mädchen und Jungen wurden in insgesamt 4 Gruppen im ersten Schuljahr noch zusammen betreut, dann getrennt in Gruppen zu 20 bis 30 Kindern, in höherem Alter sogar zu 30 bis 40 Kindern. Die etwa 50 bis 60 schulentlassenen, konfirmierten Mädchen verblieben nach der Schule noch etwa ein Jahr in der Anstalt, um in hauswirtschaftlichen Tätigkeiten unterwiesen zu werden. Ziel war es, sie später in Dienststellungen zu vermitteln.
Im sog. „Knabenflügel“ des Gebäudes waren sechs Gruppen von Kindern untergebracht, die in der Zusammensetzung den Volksschulklassen 1 bis 6 entsprachen. Diejenigen, die vor dem Ende der Schulzeit standen, aber einen Abschluss nicht würden erreichen können, wurden einer besonderen Gruppe zugewiesen.

Die schulpflichtigen und nicht mehr schulpflichtigen Jungen, für die nach der Begutachtung eine „strengere Anstaltserziehung notwendig“{52} erschien, wurden an die Erziehungsanstalt für Knaben in Ohlsdorf überwiesen. Auch hier war ein autarkes Dorf entstanden mit zwei größeren Gebäuden und kleineren Nebengebäuden, den „Pavillons“, in denen vor allem Werkstätten untergebracht waren. Die Zuordnung der Jungen zu den Gruppen erfolgte anhand des Alters und des „sittlichen Zustandes“. „Für die schwer erziehbaren, geistig minderwertigen Zöglinge ist eine besondere Abteilung gebildet, welche der regelmäßigen täglichen Aufsicht eines psychiatrisch erfahrenen Arztes untersteht“{53}. Die schulpflichtigen Jungen arbeiteten nach dem Unterricht in der Anstaltsschule vier Stunden in den Werkstätten und anderen Arbeitsplätzen, die schulentlassenen 8 Sunden. Das Angebot an berufsqualifizierenden Arbeitsplätzen war breit gefächert, und sollte den Neigungen der jungen Menschen entgegen kommen: Es gab eine Schneiderei, eine Schuhmacherei, eine Tischler- und Glaserei, eine Schlosserei, Klempnerei, eine Mechanikerwerkstatt, Buchbinderei, Sattler- und Tapeziererei und schließlich die Bürstenbinderei, die vor allem für die in höherem Alter aufgenommenen Jugendlichen eine in kurzer Zeit zu erreichende, geringere Qualifizierung ermöglichte. Zur Anstalt gehörte ein 25 Hektar großer landwirtschaftlicher Betrieb mit Pferden, Kühen, Schweinen und Hühnern. Die Erzieher waren vor allem selbst Handwerker mit abgeschlossener Meisterprüfung und damit zur beruflichen Ausbildung befähigt. Ziel war es, die Jugendlichen später in Ausbildungsstellen zu vermitteln, wobei ihre Beschäftigung in den Werkstätten auf die Dauer der Lehrzeit angerechnet wurde.
Die Anstalt für Knaben verfügte auch über eine Krankenabteilung und eine ärztliche Versorgung durch einen täglich erscheinenden Arzt. Wie in den anderen Anstalten wurden auch in Ohlsdorf Andachten und Gottesdienste unter der Regie des Geistlichen des Waisenhauses abgehalten. Petersen betont, dass auch in der „Besserungsanstalt“ den „Zöglingen ein möglichst großes Maß an Lebensfreude zuteil wird“{54}, insbesondere durch Unterhaltungsabende mit Gesang, Musizieren und Theaterspiel sowie bei Ausflügen und Spaziergängen. Bei Petersens Schilderungen bleibt unausgesprochen, dass auch hier, wie in allen Anstalten, die jungen Menschen auf dem Gelände eingeschlossen und von der Außenwelt abgeschottet waren. Das Empfangen von Besuch, auch dem von Angehörigen, galt als Vergünstigung und musste verdient werden. Beurlaubungen aus der Anstalt waren eine Ausnahme. Der Direktor hatte das Recht, Entlassungen aus der Anstalt vorzuschlagen. Viermal im Jahr fanden diese dann auch statt, wobei sie in aller Regel nicht das Ende der Zwangserziehung bedeutete: Die jungen Menschen wurden zur Bewährung in eine Dienst- oder Lehrstelle mit weiterer behördlicher Aufsicht überführt.
In der auf 230 junge Menschen ausgelegten Einrichtung in Ohlsdorf waren 1911 nur 141 Plätze belegt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass in dieser Einrichtung Jungen und Mädchen gemeinsam untergebracht waren. Erst im Jahr 1911 war die Erziehungsanstalt für Mädchen fertiggestellt, so dass eine Geschlechtertrennung vorgenommen werden konnte.
Die Ohlsdorfer Anstalt war in den 1880er Jahren erbaut worden. Zwischenzeitlich hatte man Erfahrungen mit dem Anstaltsbetrieb gesammelt und ließ diese neben dem architektonischen Zeitgeist in die Planung der neuen Einrichtung für Mädchen einfließen. Petersen schwärmte, dass der Neubau der Mädchenanstalt „durch die Eigenart seiner Anlage die Vorzüge des Pavillonsystems, das in der scharfen Trennung der Erziehungsgruppen von einander besteht, mit den Vorteilen des Kasernensystems, die in der größeren Wohlfeilheit der Anlage, der leichteren Bewirtschaftung und der wirksameren Beaufsichtigung durch die Leitung liegen, zu verbinden“{55} versucht. In den Stockwerken des Haupthauses wurden Zimmergruppen mit Wohnsaal, Schlafsaal, Abort und Wohnung für die Aufsicht gebildet, „etwa so, wie die Etagen eines Etagenhauses.“{56} Die insgesamt sieben Gruppen boten Platz für jeweils 16 bis 22 Mädchen, die zum Teil bei Ausfall des Personals verbunden werden konnten. Auch war damit die Möglichkeit eröffnet, eine Aufnahmegruppe zu bilden und „außerdem die Mädchen nach Alter, Grad der Verdorbenheit und Ursache der Verwahrlosung zu sondern.“{57} Ein diesem Geist folgendes Novum war die Gestaltung des Dachgeschosses. Für 60 Mädchen waren kleine Einzelschlafzimmer geschaffen worden, die im Gebäudeplan als „Zellen“ bezeichnet sind. Diese hatten den Zweck, „die Mädchen des Nachts wirksam voneinander zu sondern, ohne ihr Schamgefühl zu verletzen.“{58} Hier spielt Petersen darauf an, dass ein Hauptgrund für die Einweisung in die Einrichtung die sexuelle Verwahrlosung, wie man sie damals sah, war und man mit der Trennung offenbar sexuelle Begegnungen vermeiden wollte.
In den beiden Nebengebäuden waren die Krankenabteilung und die Wäscherei untergebracht. Und auch in dieser Anstalt war es ein hochrangiges Ziel, die Mädchen auf ihr voraussichtliches Leben in einem gewerblichen Beruf, in einer Anstellung in einem Haus und als Hausfrau vorzubereiten.
Die Mädcheneinrichtung mit ihren insgesamt 144 Plätzen in den Betreuungsgruppen und der Krankenabteilung wurde durch eine „Oberin“ geleitet, für die in dem Hautgebäude eine Wohnung vorgesehen war. Das übrige Personal war bis auf den „verheirateten“ Oberaufseher weiblich. Er wohnte in einem Seitentrakt des Hauptgebäudes und war für die technischen und administrativen Angelegenheiten zuständig. Schule, Arbeitstätigkeit, ärztliche Versorgung und das Alltagsleben in der Einrichtung waren nach dem gleichen Prinzip geregelt wie in ihrem Ohlsdorfer Pendant für Jungen.
Über Erfahrungen aus dem Betrieb der Anstalt für Mädchen konnte Petersen noch nichts berichten. Sie war 1911 gerade fertiggestellt worden, aber ein wesentlicher Baustein in der Architektur der öffentlichen Fürsorgeerziehung, die ihm unterstand.
Petersens Beschreibung der Anstaltslandschaft wirkt fast wie ein Idyll, in dem Kinder und Jugendliche individuell gesehen werden und sich dort mit erzieherischer Begleitung entwickeln können. Dass es neben einer guten Organisation vor allem auf das Verhältnis der jungen Menschen zu den ihnen zugewiesenen Erziehungspersonen ankommt, spricht Petersen einzig im Vorwort an: Die Arbeit von Mensch zu Mensch sei entscheidend für den Erziehungserfolg. Denn „die wahre Hilfe [werde] dem hilfsbedürftigen Jugendlichen hauptsächlich durch die unmittelbare Einwirkung des Erziehers, des Lehrers, des Vertrauensmannes, des Waisenpflegers und der anderen zur Hilfeleistung berufenen Organe“{59} zuteil. Das war ein idealistischer Anspruch, dem die Praxis in den Anstalten bedingt gerecht wurden.

Bei allen guten Absichten steckte ein schmerzender Stachel im Fleisch der Erziehung und insbesondere der Anstaltserziehung: Körperliche und psychische Gewalt, die als Strafe für Ungehorsam und unerwünschtes Verhalten ausgeübt wurden, aber als übliche Erziehungsmittel galten. Bereits zur Zeit Petersens wurde die Behandlung der jungen Menschen in den Anstalten kritisch gesehen. Mit dem Titel „Erziehungsanstalt oder Zuchthaus“ veröffentlichte der Schriftsteller und Kriminalpsychologe Heinz-Otto Fock im August 1914 einen Beitrag in der Zeitschrift „Das neue Blatt“{60} und griff damit das Thema wie andere vor und nach ihm auf. Er verfasste den Artikel anlässlich eines Gerichtsprozesses in Hamburg, in dem sich eine Frau wegen Beamtenbeleidigung zu verantworten hatte. Sie hatte immer wieder und vehement Beschwerden über die Misshandlung ihrer Tochter in der Erziehungsanstalt für Mädchen vorgebracht, die jedoch von der Behörde als unhaltbar eingestuft wurden. Der Fall veranlasste Fock, zur Alltagspraxis in Erziehungsanstalten zu recherchieren: „Hierbei sind mir ebenfalls Sachen zu Ohren gekommen, die jeder Beschreibung spotten“, fasste er seine Ergebnisse zusammen. In den Zuchthäusern sei die Prügelstrafe schon seit Jahren abgeschafft, sie sei aber in den Erziehungsanstalten weiterhin statthaft. Er schloss seinen Aufsatz mit den Worten ab: „Junge Männer, die nichts weiter verbrochen haben, als daß sie in puncto Erziehung verwahrlost sind, werden schlimmer behandelt als wie die gemeinsten Verbrecher.“{61}
Die hier implizit angesprochenen Strafordnungen der Erziehungsanstalten waren zu jener Zeit immer wieder Gegenstand von Erörterungen in der Behörde. Dabei wurde die Züchtigung als erzieherisches Mittel, auch die körperliche durch Schläge, gar nicht in Frage gestellt, war sie doch selbstverständlich und auch in der väterlichen Erziehung erlaubt{62}.
Mit der Eröffnung der „Besserungsanstalt für schulentlassene Mädchen in Alsterdorf“ wurde die Anwendung von Zuchtmitteln in einer „Strafordnung“ geregelt. Die „Strafen“ reichten von der Entziehung der Freizeit, der Besuchserlaubnis und einer Mahlzeit für einen Tag über das Aussetzen der warmen Kost für mehrere Tage, den einfachen Arrest bis zu vier Wochen bis hin zu strengem Arrest bis zu 12 Tagen, erschwert durch Entzug der warmen Kost und des Bettlagers. Bei besonders harten Strafen mit körperlichen Auswirkungen war der Anstaltsarzt hinzuziehen, in Einzelfällen sogar die Leitung der Behörde. Dagegen sticht ein Passus ins Auge: „Körperliche Züchtigungen jeder Art sind verboten.“{63} Der Strafordnung ist ein Auszug aus einem Protokoll der Behörde angefügt, in dem es heißt: „Kein Dunkelarrest, keine körperliche Züchtigung, Verhängung der Arreststrafen jeder Art für Schwangere nur nach ärztlicher Begutachtung. Hierzu bemerkt der Herr Präses, dass, wenn auch in dem Entwurf die körperliche Züchtigung als Strafmittel verboten sei, eine solche in dringenden Notfällen natürlich vorgenommen werden könne, ohne dass sich etwa der betreffende Angestellte strafbar mache.“{64}
Die verhängten Strafen waren zu dokumentieren und dem Direktor der Behörde, damals Johannes Petersen, zu übersenden. Es dauerte zwei Jahre, bis die Strafordnung geändert wurde und das Verbot der körperlichen Züchtigung aufgehoben wurde. In der diesbezüglichen Anordnung des Direktors Petersen hieß es: „Es kann körperliche Züchtigung mit bis zu 12 Hieben vollzogen werden. (…) Der Vollzug erfolgt durch Anwendung eines leichten Rohrstocks. (…) Schläge auf den Kopf sind unbedingt verboten.“{65} Diese Strafe durfte nur durch die Oberin angeordnet werden und war in ihrer Gegenwart zu vollziehen.
Die verschärfte Praxis war eine Reaktion auf die Erfolglosigkeit im Umgang mit den Mädchen, die sich in die strenge Anstaltsordnung nicht einfügten und wohl auch nicht einfügen konnten. Auf Anregung des Präses der Behörde kamen die verantwortlichen Beamten am 6. April 1915in einer Besprechung zusammen um die Praxiserfahrungen der Züchtigung und Alternativen zu besprechen. Oberin Rothe aus der Mädchenanstalt äußerte, dass sie für das Vorgehen gegen „dauernden Widerstand, Tätlichkeiten gegen Vorgesetzte, unanständige Schamlosigkeiten, Brutalität gegen schwächere Mitzöglinge keinen vollwertigen Ersatz für körperliche Züchtigung kenne.“{66} Wenn als härteste Züchtigung nur die Arreststrafe bliebe, würden die „passiveren Naturen“ im Arrest völlig teilnahmslos werden. Die „aktiveren Elemente“ würden auf alte Verhaltensweisen zurückfallen und ohnehin gegenüber der Arreststrafe unter Einschränkung der Kost mit wenig Furcht oder Respekt reagieren. Die körperliche Züchtigung habe dagegen den Vorteil, dass sie auf den Fuß zu der Verfehlung mit einer Ermahnung folge. Danach würde der Alltag fortgeführt. Bei der Arreststrafe sei der Zusammenhang zwischen Verfehlung und dem Vollzug der Strafe nicht mehr gegeben. Der Direktor der Knabenanstalt war überzeugt, dass verschärfte Arbeitsauflagen im Arrest bewirkten, dass die Zöglinge davon abgehalten würden, „Unfug zu treiben“. Der Direktor des Waisenhauses favorisierte ebenso wie die Oberin Rothe die Züchtigung als unmittelbaren erzieherischen Einfluss, während er beim Arrest Selbstverletzung und Selbsttötungsversuche in geradezu „epidemisch zu bezeichnendem Umfang“ wahrgenommen habe. Hier schaltete sich Oberin Rothe in die Diskussion ein: „Derartige Epidemien“ seien „durch die Wirkung der Züchtigung eines Zöglings auf die anderen Zöglinge mit einem Schlage zu beseitigen.“ Der Arzt Dr. Leistikow hielt eine Züchtigung für vertretbar, wenn sie „in einer der elterlichen Züchtigungsbefugnis entsprechenden humanen Weise vorgenommen würde.“ Es wurde vorgetragen, dass die Züchtigung und auch der Arrest individuell sehr unterschiedlich wirkten. Hier waren sich die Gesprächsteilnehmer jedoch nicht einig. Der Vorschlag des Direktors Heskel, „die den Anstaltsleitern zustehende elterliche Gewalt nicht in Form von Züchtigungen, sondern in Gestalt eines dem elterlichen ähnlichen moralischen Einflusses den Zöglingen gegenüber in Erscheinung treten zu lassen“, wurde in der Diskussion inhaltlich nicht weiter aufgegriffen. Er war den Anwesenden aus der Praxis vermutlich zu abstrakt. Heskel erwirkte jedoch gleich den Beschluss, dass die erwachsenen weiblichen Zöglinge für zunächst sechs Monate nicht mehr gezüchtigt werden sollten. Der Direktor der Knabenanstalt erklärte, nicht ohne Züchtigung auskommen zu können. Sie habe eine erzieherische Wirkung, da sie von dem Zögling „nach eindringlicher Ermahnung mit dem Bewusstsein hingenommen [werde], dass er sie verdient habe.“{67} Im Folgenden wurden noch die Praxis der Züchtigung von schulpflichtigen Jungen und Mädchen und solchen in Dienst- und Lehrstellen erörtert, jedoch ohne konkrete Beschlüsse zu fassen. Die Wortwahl der Teilnehmenden lässt wenig Empathie für die ihnen anvertrauten jungen Menschen erkennen, die in den Anstalten nicht erwartungsgemäß funktionierten. Vor allem Oberarzt Dr. Manchot sprach über die Jungen und Mädchen von „schwierigen Elementen“, „minderwertigem Schulmaterial“ und „eigenartigem Material“.
Die Behörde beschloss am 10. April 1915, für ein Jahr in der Mädchenanstalt auf Züchtigungen bis auf begründbare Ausnahmen zu verzichten. Doch wurde dieser Beschluss praktisch nicht umgesetzt. Die Oberin begründete dies in den folgenden Berichten damit, dass sich in den betreffenden Fällen alle anderen Strafmittel als wirkungslos erwiesen hätten. Die Angelegenheit wurde im Herbst 1916 wieder aufgegriffen. Die Behörde beschloss, dass Arreststrafen und körperliche Züchtigungen nur nach Anhörung eines Arztes vollstreckt werden durften. Züchtigungen sollten nur nach schwersten Verfehlungen und nur bei solchen Zöglingen angewandt werden, bei denen sich andere Strafmittel als unwirksam erwiesen hätten. Zuvor hatte die Oberin Rothe in einem ausführlichen Bericht anhand einer Schilderung der Falllagen dargestellt, dass auf eine Züchtigung nicht verzichtet werden könne. Vor allem bei den „Tobsüchtigen“ könne man mit der Züchtigung deren „gefährlichen, zum Verbrechen neigenden Eigenwillen“ brechen. Der Bericht hob hervor: „Nicht nur wir Erzieherinnen auch der Arzt ist der Überzeugung, dass körperliche Züchtigung, die in hartnäckigen Fällen wiederholt werden muss, diese Mädchen vor der Irrenanstalt bewahrt hätte.“{68} Es hatte sich ein System eingestellt, dass Erziehung für sich in Anspruch nahm, aber mit Strafgewalt vorging. Die verhaltenen Versuche, die Strafpraxis zu entschärfen, waren gescheitert und vorerst beendet.

Bis 1911 hatte sich in Hamburg die staatliche Organisation für Jugendangelegenheiten konzeptionell und organisatorisch einen Stand erreicht, der als Basis für die Fortentwicklung zur modernen Jugendhilfe angesehen werden kann, die bis in die 1980er Jahre hinein erkennbar blieb. In Hamburg im Besonderen hatte sich eine behördliche Struktur gebildet, die nicht nur administrierte, sondern die erzieherische und fürsorgerische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen weitgehend selbst übernommen hatte. Dass der Staat auch Heime betreibt, blieb als Grundprinzip – wenn auch mit fachlichen Veränderungen – bis heute erhalten.
Aber auch andernorts hatte es eine Entwicklung bezüglich der Sicht auf die Aufgaben der Gesellschaft und des Staates gegenüber jungen Menschen gegeben. Bis zur Jahrhundertwende war es üblich, unter dem Begriff des Jugendlichen vor allem den aus armen Verhältnissen stammenden und kriminellen oder sonst „verdorbenen“ jungen Menschen zu verstehen, den man dem wachsenden Proletariat zuordnete. Für diese hatte man die Jugendfürsorge mit dem Instrument der Zwangserziehung geschaffen. Staatlichen Stellen wurde aber auch bewusst, dass man sich jungen Menschen und allem voran jungen Männern bereits im Kindes- und Jugendalter widmen musste, um sie von sozialistischen Organisationen fern zu halten und als fügsame Arbeiter und Soldaten zu gewinnen. Hierfür wurde 1908 das Reichsvereinsgesetz novelliert, das Personen unter 18 Jahren fortan die Mitgliedschaft in politischen Vereinen verbot.{69} Gleichzeitig förderte der Staat die von ihm gewünschten Jugendorganisationen unter dem programmatischen Begriff der Jugendpflege. Der diesbezügliche preußische Erlass wurde in einer Publikation des zu Preußen gehörenden Altona, einer Nachbarstadt Hamburgs, wie folgt beschrieben:
„Die Jugendpflege will die Erziehungstätigkeit der Eltern, der Schule und Kirche, der Arbeitgeber und Lehrherren unterstützen, ergänzen und weiterführen zur Heranbildung einer frohen, körperlich leistungsfähigen, sittlich tüchtigen, von Gemeinsinn und Gottesfurcht, Heimat- und Vaterlandsliebe erfüllten Jugend.“{70}
Damit entwickelte sich neben der Jugendfürsorge die zweite Wurzel der modernen Jugendhilfe, auch wenn ihre Absichten aus heutiger Sicht alles andere als modern bezeichnet werden konnten. In der nur kurzen Zeit bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges hatte der zuvor negativ konnotierte Begriff des Jugendlichen eine „Umwertung“, eine „Image-Korrektur“ erfahren. „Nur wenn man die Proletarierjugend“ aus der Pauschalverdächtigung, ‚Jugendlicher‘ zu sein, entließ, konnte man erwarten, daß sie sich für die Interessen der privilegierten Stände einsetzte.“{71} Und das gelang für weite Teile der Jugend, die in den ersten Weltkrieg ziehen sollte.

Nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Belgien herrschte im Deutschen Reich, ein „Hurra-Patriotismus“{72} in allen Schichten der Bevölkerung, der kritische Stimmen verstummen ließ. Die Straßen waren auch in Hamburg gesäumt von jubelnden Massen, die die zur Front marschierenden Truppen verabschiedeten. Auch die Sozialdemokraten im Reich wie in Hamburg schlossen sich dem Burgfrieden mit dem Regime für die Zeit des Krieges an, und brachten innerparteiliche Kritiker, darunter auch Vereinigungen der Arbeiterjugend, zum Verstummen.
Bevor die Hoffnungen auf einen schnellen Sieg nach den ersten Kriegsmonaten im Reich zu schwinden begannen, hatte die Hamburger Bevölkerung die Kriegsfolgen bereits zu spüren bekommen. Schon im August 1914 wirkte sich die britische Seeblockade verheerend aus: die Hafenwirtschaft brach in kurzer Zeit zusammen, die Arbeitslosigkeit stieg an. Arbeiteten 1913 noch rund 17 Tausend Personen täglich im Hafen, so sank die Zahl während des ersten Weltkrieges auf etwa drei Tausend ab. Ende August hatte sich die Zahl der Obdachlosen gegenüber dem Vormonat von sieben Tausend auf 16 Tausend mehr als verdoppelt. Am 21. August berichtete das SPD-Organ „Hamburger Echo“, dass in einzelnen Stadtteilen bereits gehungert werde. Die Situation verschlechterte sich zusehends, so dass im März 1915 in Hamburg die Lebensmittelversorgung rationiert und die „Brotkarte“ eingeführt wurde. Wie so oft in einer Notlage vor und auch nach dieser Zeit, stieg das Ausmaß der öffentlichen und freiwilligen Fürsorge für Arme und Schwache, zu denen auch die Kinder und Jugendlichen zählten, an. Im Juni versorgten bereits 58 öffentliche Kriegsküchen notleidende Menschen. Ein Jahr später waren es 70, zu denen täglich einhundert Tausend Menschen, darunter auch Kinder und Jugendliche, kamen. Viele Männer, also auch Väter, wurden zum Kriegsdienst eingezogen, Frauen nahmen im Verlauf des Krieges mehr und mehr ihre Stellung in der Produktion und im öffentlichen Leben ein. Kinder waren dadurch noch mehr sich selbst überlassen. Und einige verloren ihre Väter oder auch beide Elternteile.
Seit dem Kriegsbeginn stieg die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die der Behörde zugewiesen wurden. Ende 1914 waren es 6617, fast 300 mehr als Ende 1913 mit 6334, wobei das Gros in Familienpflege untergebracht war oder unter Erziehungsaufsicht stand. Die Erziehungsanstalt für Mädchen in Alsterdorf hatte seit ihrer Betriebsaufnahme 1911 eine Ausweitung der Zahl der Betreuten auf 160 zu verzeichnen, während die Anstalt für Knaben einen leichten Rückgang auf 136 erfuhr. Das Waisenhaus mit der Aufnahmestation war mit einem deutlichen Zuwachs konfrontiert und musste daher Ausweichquartiere beziehen.{73} Für die Erziehungsanstalt für Mädchen war bereits nach ihrer Eröffnung schnell klar, dass sie einen Erweiterungsbau benötigte, der in Auftrag gegeben und dann 1915 eingeweiht wurde. Die Zahl der Kinder und Jugendlichen in öffentlicher Erziehung in Anstalten stieg von 1913 mit 1400 bis zum Kriegende 1918 auf 2400 an. In einer Schrift zur wirtschaftlichen Lage Hamburgs aus dem Jahr 1921 heißt es dazu: „Die Zunahme der Zahl der Anstaltszöglinge ist eine bedauerliche Folge der wirtschaftlichen Verhältnisse, die die Bereitwilligkeit der Familien, Kinder in Pflege zu nehmen, immer mehr schwinden läßt.“{74} Auf Antrag der Eltern wurden im Jahr 1913 225 Minderjährige in Fürsorgeerziehung genommen und 1918 510.
Für die Erziehungsanstalten war es bereits ab 1913 und besonders im Krieg schwierig geworden, geeignetes Personal zu gewinnen. Männliche Aufseher wurden nach und nach zum Kriegsdienst eingezogen, so dass der Anteil der Frauen im Personalkörper der Anstalten stieg. Die Zahl der Betreuten war hoch, so dass immer wieder die Überfüllung der Anstalten beklagt wurde. Im Krieg kamen die Lebensmittelknappheit und Rationierung als Erschwernis hinzu. So bat die Oberin der Erziehungsanstalt für Mädchen im März 1917 ihre Behörde, „dass wir hin und wieder, vielleicht 1 oder 2 mal wöchentlich, für unsere 170 Zöglinge Magermilch bekommen. (…) Die uns von der Knabenanstalt gelieferte Menge Milch ist zu gering, seit 14 Tagen täglich durchschnittlich 7 Liter, früher weniger oder gar nichts, wovon für die Angestellten täglich 3 Liter abgehen.“{75}
Am 1. Dezember 1916 berichtete die Oberin in einer Besprechung der Behörde für öffentliche Jugendfürsorge, dass es in den Kriegsjahren zu vermehrten, kritischen Situationen gekommen sei, die in erhöhtem Maß Disziplinarstrafen erforderlich gemacht hätten. Als Ursache beschrieb sie den in den letzten Jahren „tieferen geistigen und sittlichen Standpunkt“ der überwiesenen Zöglinge, aber auch die gestiegene Zahl an „Fluchtversuchen“. Auch sei eine gewisse „Kriegsnervosität“ festzustellen, „die die Zöglinge anstaltsmüde mache und die durch die in die Anstalt eindringenden Gerüchte, dass draussen in Fabriken für Mädchen Arbeit in Hülle und Fülle vorhanden sei, noch verstärkt werde.“{76} Der hier beschriebene Widerstand und das Entweichen der jungen Menschen war eine Bedrohung für die Ordnung in den beiden Anstalten. Und sie war ein Thema in den damals geführten Debatten zur Ausgestaltung von Strafen und der Züchtigung als Erziehungsmittel. Die Verantwortlichen haben auf diese Herausforderung in den Kriegsjahren keine befriedigende Antwort gefunden. Dafür brauchte es einen freiheitlichen Geist, der in jener Zeit in der Anstaltserziehung nicht zu finden war.
Der Zusammenbruch der alten staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung war aber nur eine Frage der Zeit. Im August 1916 jährte sich der Kriegsbeginn zum zweiten Mal, an dem erstmals Proteste gegen den Krieg und das Elend öffentlich zum Ausdruck gebracht wurden. Zum Jahresbeginn 1917 hatte sich die Versorgungslage weiter verschlechtert. Kartoffeln gab es kaum noch, stattdessen Steckrüben. Andere Lebensmittel wie Butter und Milch waren ohnehin selten geworden. Die Situation eskalierte. Geschäfte wurden geplündert, Unruhe beherrschten die Straßen in den Arbeitervierteln, die nur mit bewaffnetem Militär im Zaum zu halten war. Anfang 1918 streikten die Werftarbeiter und die Arbeiter der Zulieferbetriebe. Der Streik brachte das Fass der unhaltbaren Zustände aber noch nicht zum Überlaufen. Hierfür bedurfte es des Kieler Matrosenaufstandes, der am 3. November nach ersten Meutereien auf Kriegsschiffen begann. Wenige Stunden nach dessen Bekanntwerden, beschlossen Werftarbeiter einen Streik, der sich schnell zu größeren Versammlungen ausweitete und politisierte. In der darauffolgenden Nacht entwaffneten revolutionäre Matrosen die in Hamburg liegenden Torpedoboote und die vereinigten Arbeiter und Soldaten übernahmen wichtige Schaltstellen des öffentlichen Lebens. Am 6. November verkündete der provisorische Arbeiter- und Soldatenrat vor 40 Tausend Hamburgern, dass er die politische Macht in Teilen übernommen habe. Am 12. November war sie vollends in seiner Hand. Der Weg zu einem demokratischen Hamburg war geebnet. Im Februar 1919 verkündete der Arbeiter- und Soldatenrat im Amtsblatt der Freien und Hansestadt Hamburg die Neuwahl der Bürgerschaft. Am 16. März1919 fand die erste allgemeine, gleiche, unmittelbare und geheime Bürgerschaftswahl für Männer und Frauen statt. Wahlsieger war die SPD mit 50,4 Prozent der abgegebenen Stimmen. In dieser ersten, demokratisch gewählten Bürgerschaft mit 160 Abgeordneten hatten auch 17 Frauen Mandate inne. Das neue Parlament war das erste in Deutschland, das von einer Frau, der Alterspräsidentin Helene Lange, eröffnet wurde. Die gewählte Volksvertretung arbeitete eine neue Verfassung aus, die 1921 in Kraft trat. Die Bürgerschaft war nun alleiniger Gesetzgeber, der neben dem Budgetrecht die Wahl des Ersten Bürgermeisters und die Kontrolle des Senats oblag.
