Kitabı oku: «Zukunft möglich machen», sayfa 4
Eine neue Zeit
Der politische Neuanfang war im Deutschen Reich und auch in Hamburg von Unruhen begleitet. Die Stadt steckte 1919 in einer schweren Versorgungskrise. Im Vergleich zur Vorkriegszeit betrugen die Milchlieferungen beispielsweise nur noch 20%. Waren wurden dem normalen Handel für Geschäfte auf dem Schwarzmarkt entzogen. Im Juni 1919 musste sogar die Reichswehr anlässlich der „Sülze-Unruhen“ ordnend eingreifen: Die Bevölkerung protestierte gegen den Verkauf verdorbenen und minderwertigen Fleisches. Die Arbeitslosigkeit war dramatisch angestiegen. Auch ein Arbeitsbeschaffungsprogramm des Senats hatte nur eine geringe Wirkung. Die Kassen der Stadt waren leer, die Verschuldung hoch und damit der politische Handlungsspielraum des Senats gering. Auch wenn es in den Folgejahren einen konjunkturellen Aufschwung gab, blieb es unruhig: 1921 besetzten Kommunisten die Werft Blohm & Voss, um einen republikweiten Aufstand zu unterstützen. Doch dieser fiel in sich zusammen. 1923 verschärfte sich die wirtschaftliche Situation durch eine Hyperinflation. Auf deren Höhepunkt erfolgte ein weiterer Versuch, die Macht zu ergreifen: Kommunistische Kampfgruppen stürmten in den Morgenstunden des 23. Oktober im Osten Hamburgs Polizeireviere. Doch der Aufstand scheiterte an der Übermacht von 5000 Polizisten. Auch Putschversuche von Rechts bewegten Hamburg. Am 13. März 1920 versuchten Rechtsextremisten in Berlin die Reichsregierung zu stürzen. Dieser Umsturzversuch, der „Kapp-Putsch“, wurde jedoch durch einen Generalstreik vereitelt, an dem sich auch Hamburger Arbeiter beteiligten. Zu dieser Zeit bildeten national gesinnte, stellungslose Offiziere und Soldaten den Kern nationalistischer und republikfeindlicher Gruppierungen, die eine Reihe von Anschlägen auf liberale und kommunistische Einrichtungen und Personen verübten. In Hamburg war eine von ihnen die personell noch sehr kleine Ortsgruppe der NSDAP, die aufgrund des 1922 erlassenen Republikschutzgesetzes verboten wurde. Mit der Hyperinflation im Jahr 1923 endete der kurze wirtschaftliche Aufschwung in erneuter Not für weite Bevölkerungskreise. Der Preis für ein Brot lag bei 17 bis 18 Millionen Reichsmark und der für ein Pfund Butter bei 60 Millionen. Die Arbeitslosigkeit war hoch und jene, die Arbeit hatten, bekamen keine Löhne. Streiks, Krawalle und Plünderungen von Lebensmittelgeschäften waren die Folge.{77} Fragen der Jugendhilfe standen in diesen Krisenjahren nicht an erster Stelle auf der politischen Agenda. Sie wurden aber von engagierten Abgeordneten der neu gewählten Bürgerschaft dennoch aufgegriffen.

Oberin Rothe hielt das an sie gerichtete Kärtchen der Behörde für öffentliche Jugendfürsorge in der Hand, als sie sich am 17. März 1921 auf den Weg zur außerordentlichen Sitzung der Behörde im Hamburger Rathaus machte. Das prachtvolle Gebäude war erst 1897 nach 10-jähriger Bauzeit im Stil der Neorenaissance fertiggestellt worden. Das in voller Breite auf den Rathausmarkt ausgerichtete Gebäude mit seinem über hundert Meter hohen Turm prägt das Bild der Innenstadt bis heute. Ort der Sitzung war der Phoenixsaal im Rathaus. Der Name ist dem Mythos vom Vogel Phönix entlehnt, der sich aus der Asche erhebt und neues Leben symbolisiert. Der Saal erinnert an das Trauma des großen Brandes von 1842, der weite Teile der Stadt zerstörte, dem aber der erneute Aufstieg folgte. Konferenzteilnehmer betreten noch heute den Saal durch die zweiflügeligen, schweren Türen, über denen das geschnitzte Stadtwappen prangt. Zwei hohe Fenster sind zum Rathausmarkt ausgerichtet und beleuchten den Raum. Auf dem Bild über dem Kamin entsteigt Hammonia – Hamburgs Schutzpatronin – der Asche. Die dagegen kleinen und beinahe demütig wirkenden Ölgemälde grauhaariger Männer mit Halskrause erinnern an die Honoratioren der Stadt.
In dieser Atmosphäre sollte ein ernstes Thema behandelt werden: Die von den Abgeordneten Stengele und Reiche der Hamburgischen Bürgerschaft aufgedeckten Missstände in den beiden Erziehungsanstalten, der Anstalt für Mädchen in der Feuerbergstraße und der für Jungen in Ohlsdorf. Die SPD-Abgeordnete Ida Stengele war Mitglied der Behörde für öffentliche Jugendfürsorge. Sie hatte die beiden Erziehungsanstalten inspiziert und wollte über ihre Beobachtungen und vor allem die von ihr entdeckten Missstände berichten. Die 1861 in der Schweiz geborene Stengele war bis zu ihrer Heirat mit Gustav Stengele im Jahr 1894 als Erzieherin in Österreich, Frankreich und Italien tätig. Danach lebte sie als politisch interessierte Hausfrau an der Seite ihres Mannes in Hamburg. Gustav Stengele war Redakteur des Hamburger Echos und sozialdemokratischer Abgeordneter der Hamburgischen Bürgerschaft. Er starb 1917. Von politscher Seite erhob sich damit eine in der Pädagogik nicht unerfahrene Stimme. Ihre 1875 in Hamburg geborene Fraktionskollegin, Adele Reiche, war von 1896 bis 1907 Volksschullehrerin und von 1915 bis 1918 als Kriegshilfslehrerin in Hamburg tätig und ebenfalls Mitglied der Behörde für öffentliche Jugendfürsorge. Zu ihr waren Beschwerden über die Behandlung der jungen Menschen in den Erziehungsanstalten vorgedrungen, die ebenfalls angesprochen werden würden.
Um 14:15 Uhr eröffnete Staatsrat Lohse die Sitzung, zu der die genannten Kommissionsmitglieder, Direktor Heskel, zwei Ärzte, einige Beamte, Direktor Schallehn der Knabenanstalt und Oberin Rothe anwesend waren. Stengele erhielt das Wort und berichtete über zwei Besuche in der Knabenanstalt im Februar. Sie war dort auf verschmutzte Bettwäsche und Kleidung, Hygienemängel und unzureichende Kost, insbesondere auch für kranke Zöglinge, gestoßen. Weiterhin hatte sie die Überzeugung gewonnen, „dass in der Anstalt noch in den alten Bahnen fortgearbeitet würde und dass die Anstalt noch nicht von modernem Geiste durchdrungen sei.“{78} Sie schloss ihren Vortrag mit der Forderung zur Erneuerung durch eine familiärer geprägte und freiheitliche Erziehung sowie der gründlichen Berufsausbildung der Zöglinge sowie der Erzieher. Der Behörde waren zudem Beschwerden über Misshandlungen zugetragen worden, und dass „in der Erziehungsanstalt noch die Anwendung der sogenannten Gruppenkeile üblich sei.“{79} Die Vertreter der Anstalten und Beamten der Behörde widersprachen den Vorwürfen weitgehend. Die Behörde beschloss, von einem häufigeren Wäschewechsel abzusehen. Auch die Frage einer besonderen Verpflegung für Kranke ließ man auf sich beruhen. Allerdings wurde das Bestreben beschlossen, das allgemeine Niveau der Ernährung zu verbessern. Dabei sollte auch „die Frage der Herbeiführung des gleichen Essens für Angestellte und Zöglinge“ geprüft werden, denn die Beratung hatte zutage gefördert, dass die Angestellten getrennt von Zöglingen aßen und auch eine bessere Kost erhielten.
Zum Abschluss wurden Beschwerden in Einzelfällen besprochen, darunter der Einschluss von Mädchen in der Feuerbergstraße in Arrestzellen, die nach Aussage der Oberin jedoch auf eigenen Wunsch der Zöglinge erfolgt seien. Insgesamt waren die Beamten wenig offen für die vorgebrachte Kritik. Der zweite Direktor, Riebesell, fühlte sich durch die Kritik verletzt und stellte sein Amt zur Verfügung, wenn die Behörde dies wünsche. Der Leiter der Knabenanstalt gab zu Protokoll, dass „von den von Frau Stengele gegen seine Amtsführung erhobenen Angriffen nichts an ihm hängen geblieben sei.“{80}
Die von Stengele angeschnittene Frage der „Einführung eines freiheitlichen Geistes“, die eng mit der Strafordnung in den Anstalten verbunden ist, wurde auf eine spätere Sitzung verschoben. Und diese sollte auch nicht die letzte zu diesem bedeutsamen Thema sein.
Es wurde eine „Kommission zur Abfassung einer Strafordnung in der Erziehungsanstalt für Mädchen“ einberufen, die sich jedoch grundsätzlich mit den Strafordnungen in allen Anstalten befasste. Zur Vorbereitung der ersten Kommissionssitzung wurden die Anstaltsleitungen von der Behörde im Juli 1921 beauftragt, Vorschläge für die Änderung der jeweiligen Strafordnungen zu unterbreiten. Die Oberin der Erziehungsanstalt für Mädchen bat die Lehrerinnen und Erzieherinnen, Erfahrungen mitzuteilen und Änderungen vorzuschlagen. Es scheint ein Interesse an der Mitgestaltung der Strafordnung bestanden zu haben, denn die Oberin erhielt eine Reihe kurzer Mitteilungen, aber auch lange Ausführungen. Manche Vorschläge hatten eher pädagogischen Charakter wie etwa die Wiedergutmachung, wenn Schaden angerichtet wurde, und dass eine Reaktion auf Fehlverhalten zügig erfolgen solle. Dass die körperliche Züchtigung aber weiterhin als Mittel gewünscht wurde, auch wenn sie angeblich wenig Anwendung fand, wurde offen geäußert: „Für angebracht halte ich bei frechen, ungebührlichen Reden und Gegenreden gleich einen ordentlichen Klaps auf den Mund, (…) bei mutwilligen Beschädigungen (…) Kleider zerreißen usw. sind wohl eine Tracht Prügel angebracht.“ Eine andere Erzieherin schrieb dazu: „Körperliche Züchtigung habe ich, abgesehen von einigen Ohrfeigen in der Anstalt noch nicht erlebt. Doch bin ich der Überzeugung, dass eine Tracht Prügel bei schlimmen Vergehen od. bei sehr großem Trotz ein wirksames Heilmittel sein könnte.“{81}
Die Meinungsäußerungen wurden besprochen und führten zum Entwurf einer neuen Strafordnung, die ein wenig milder erscheint, zumindest semantisch: Das abgestufte Strafregister begann mit dem Entzug von Vergünstigungen und verschiedenen Formen der Absonderung von der Gruppe durch Arbeit in der Freizeit, Vorenthaltung der Briefpost, Zimmerarrest für einzelne Stunden oder auch mehrere Tage. Die drei härtesten Strafen waren die Entziehung der Besuchserlaubnis, „Fasttage mit trockenem Brot und Wasser“ und die Rückversetzung in die Aufnahmegruppe. Eine körperliche Züchtigung war nicht mehr vorgesehen. Der Vorschlag endete mit der Bemerkung, „dass die Reihenfolge der Strafen ihrer, von den Zöglingen empfundenen Schwere nach aufgestellt worden ist.“{82}
Der Entwurf wurde am 6. Dezember 1921 in einer Kommissionsitzung beraten, an der für die Mädchenanstalt nicht nur die Oberin Rothe, sondern auch die Erzieherinnen Petri und Heuer teilnahmen. Nach der Eröffnung der Sitzung durch den Kommissionsvorsitzenden Müller erhielt Direktor Heskel die Gelegenheit, einen Überblick über die Entwicklung der Strafordnung der Erziehungsanstalt für Mädchen zu geben. Sodann entspann sich eine Grundsatzdebatte, bei der im Vergleich zu den in der Vergangenheit geführten Diskussionen Zweifel und ein offenerer Umgang mit Erfahrungen spürbar waren. Oberin Rothe äußerte, dass sie ihre Auffassung bezüglich der Notwendigkeit einer körperlichen Züchtigung nicht geändert habe. Allerdings würde sie der Wiedereinführung widersprechen. Sie persönlich würde sie nicht mehr vollziehen, weil sie nicht wisse, „wie eine solche auf das innere Leben eines Menschen wirke“. Allerdings „seien aber frühere Zöglinge zu ihr gekommen, die ihr die empfangene Züchtigung noch nach acht Jahren gedankt hätten.“{83} Auch Direktor Schallehn von der Knabenanstalt berichtet über einen Fall des Dankes für die Züchtigung. Die Erzieherin Heuer hingegen äußerte, dass die „Züchtigung in den meisten Fällen bei dem Zögling einen Hass entwickle.“ Dem stimmte auch Direktor Schallehn zu. Pastor Gastrow vertrat die Auffassung, dass die körperliche Züchtigung nur Erfolg haben könne, „wenn das Kind die Empfindung habe, dass diese Strafe ein Ausfluss der suchenden Liebe sei.“ Diese Äußerung wurde mit der Bemerkung abgetan, dass „die Gedanken des Herrn Gastrow nur auf das Familienleben anwendbar [seien].“
Die Abgeordnete Stengele, die die Einrichtung der Kommission erwirkt hatte, führte einen neuen Gedanken ein, der die Diskussion aufkochen ließ. Kinder seien nur das Produkt der Verhältnisse, denen sie entstammten. Sie selbst habe während ihrer Tätigkeit als Erzieherin nur einmal ein Kind gezüchtigt, dies aber später bereut. „Die Erzieher dürften nicht das Odium auf sich laden, Tierbändiger zu sein“. Falls die Behörde die Züchtigung beibehalten wolle, so würde sie die Schließung der geschlossenen Anstalten fordern. Zumindest sei die Einsperrung aufzuheben.
Müller und Heskel widersprachen deutlich. Ein Verzicht auf die Arreststrafe sei unmöglich. Ebenso sei eine Schließung der Anstalten nicht zu verantworten. Die Klientel habe sich in den letzten Jahren eher zum Schlechteren entwickelt, so dass die Behörde jedes Erziehungsmittel einsetzen müsse, „ehe sie es aufgebe, sich mit einem Zögling zu befassen“. Die Abgeordnete Stengele habe „wohl zu wenig Einblick in das Zöglingsmaterial der Behörde, um über die Notwendigkeit ernster Zuchtmittel urteilen zu können.“ Damit war in der Generaldebatte alles gesagt und die Fronten waren geklärt. Die Kommission vertagte sich und sollte erst in einem Jahr wieder zusammentreten.
Die Folgesitzung fand am 1. November 1922 im Sitzungssaal der Behörde für öffentliche Jugendfürsorge statt. Der Vorsitzende Müller regte an, nach der Generaldebatte in die Erörterung der Einzelfragen einzusteigen und dabei den Entwurf einer neuen Strafordnung aus dem letzten Jahr zur Grundlage zu nehmen. Dabei fasste er zusammen, dass „auf Straf- und Disziplinarmittel nicht verzichtet werden könne. Bei Abschaffung der körperlichen Züchtigung müsse wenigstens an der Arreststrafe festgehalten werden.“{84} Aber bereits dieser Auftakt war in der Kommission umstritten. Oberin Rothe berichtete über ihre aus Erfahrung gewonnene Erkenntnis, dass die Mädchen selbst eine Einsicht in ihr Fehlverhalten und dessen Verhältnis zur Strafe gewinnen müssten. „Unter Umständen“ könne das Mädchen dann auch selbst seine Strafe bestimmen oder „einen Sühnevorschlag machen. (…). Die Strafe solle ein fühlbarer Eingriff in ihre eigene Lebenssphäre sein, ohne dass das Strafmittel grausam oder nervenaufreibend sein müsse.“ Diese pädagogisch geprägten Überlegungen stellten einen Schwenk dar, der vermutlich darauf beruhte, dass körperliche Züchtigungen in der Mädchenanstalt nicht mehr praktiziert und damit keine nachteiligen Erfahrungen gemacht wurden. Die harten Strafen waren auch sehr umständlich auszuführen. Durch das Erfordernis, dass die Oberin sie auf den Hinweis eines Vergehens durch eine Erzieherin verhängen und ein Arzt zustimmen musste, ging der Zusammenhang von Fehlverhalten und Strafe verloren. Aus ihrer Erfahrung warf sie in die Diskussion ein, dass die Mädchen sehr oft „eine Sühne vorschlügen.“ Dabei würden sie oft schwerere Strafen vorschlagen, als die Erzieherinnen sie selbst erwogen. Sie berichtete weiter, dass der Arrest nicht mehr in völliger Isolierung bestand, sondern die Teilnahme an den Unterrichts- und Arbeitseinheiten beinhaltete. Stengele sprach sich erneut deutlich gegen die Prügel- und Arreststrafe aus. Sie glaubte, „dass die Prügel das Übel nur vergrößern und bei den übrigen Kindern bestenfalls nur Mitleid erregten.“ Sie glaubte, dass „die Mädchen zu den Strafentscheidungen gehört werden könnten“ und die Erzieherin dabei „wie eine Mutter“ das Mädchen belehren könne. Sie führte weiter aus, dass sie auch die Arreststrafe nicht befürworten könne, denn die Arrestzellen in der Anstalt erinnerten sie an ein Gefängnis.
Erneut entspann sich eine Debatte über die Grenzfälle, über jene jungen Menschen, die etwa durch Widerstand oder Verlust der Impulskontrolle gewalttätig in Erscheinung traten. Klar war in der Diskussionsrunde, dass „außer den Geisteskranken auch Minderwertige und Hysterische [in die psychiatrische Anstalt Friedrichsberg] überwiesen würden, die wegen akuter Erregungszustände ausgesondert werden mussten.“ Auch wenn eine ärztliche Begutachtung für die Überweisung erforderlich war, stand die Frage im Raum, ob die Prügel- und Arreststrafe bereits im Vorfeld eine „Heilung“ bewirken könne. Nach längerer Debatte hierüber sortierte sich die Diskussionsrunde klar in die Befürworter und Gegner der körperlichen Strafen. Zu den Gegnerinnen gehörten Stengele, die Oberin Rothe und die Erzieherin Heuer sowie der ebenfalls mitdiskutierende Assessor Adler. Direktor Heskel betonte erneut, dass die Strafen als Abschreckung und letztes Erziehungsmittel erforderlich seien, um die Ordnung in den geschlossenen Anstalten aufrecht zu erhalten. Auch wenn man auf die Prügelstrafe verzichten würde, würde man auf den Arrest nicht verzichten können, denn ohne ihn seien die „Anstalten nicht zu führen.“ Sein Kollege Direktor Riebesell bestätigte Dr. Heskel, dass der Grad der Verwahrlosung in der Mädchenanstalt sehr hoch sei und „darum auch auf das äußerste Zuchtmittel der Züchtigung nicht ohne weiteres verzichtet werden dürfe.“ Dann äußerte er einen Gedanken, der auf das Grundproblem in der Diskussion hinweist: „Das Problem dieser Strafe dürfe nicht verwirrt werden durch die Reformgedanken, die im Strafrecht im allgemeinen und in der Reform des Gefängniswesens vertreten würden.“ Damit waren das Unbehagen und vielleicht sogar die Furcht vor Reformen angesprochen. Die Diskussion erweiterte sich sogar zu dem noch vor kurzem undenkbaren Aspekt, ob man in den Anstalten eine Strafkommission aus den Zöglingen bilden könne oder gar sollte. Oberin Rothe mahnte zur „Vorsicht“, denn „die Mitzöglinge neigten zu allzu harten und rohen Strafen.“ Diesbezügliche Versuche waren nicht erfolgreich: „die Vertrauensmädchen würden bald abgesetzt oder bäten bald selbst um Enthebung von ihrem Amte.“ Im letzten Fall einer körperlichen Züchtigung in der Anstalt hatte ein Mädchen, „das einst selbst für einen Mitzögling Stockschläge befürwortet hatte“, keine Abschreckung, sondern „Mitleid und andererseits Abscheu und Hass“ empfunden. Direktor Schallehn wies auf ein in Berlin propagiertes Modell eines „Jugendgerichts“ hin, das er „für eine gefährliche Spielerei“ halte. Jugendliche, die derart handeln könnten, seien „nicht mehr der Fürsorgeerziehung bedürftig“.
Der Argumentation für die Beibehaltung der körperlichen Züchtigung und des Arrestes schloss sich auch Direktor Schallehn an. Er stellte die Frage in den Raum, was bei einer Abschaffung der Züchtigung mit den „Fällen geschehen solle, in denen ein Zögling ohne Erregung, nur zum Zwecke der Entlassung sich wild gestellt, Sachen und Räume demoliert und durch sein Beispiel erreicht habe, dass nun andere Zöglinge bereits den dritten Raum zerstört hätten.“ Antonie Kähler, ein von der Bürgerschaft gewähltes Behördenmitglied, unterstützte die Beibehaltung der Prügelstrafe: „Wenn hier im äussersten Fall mit der fühlbarsten Strafe nicht mehr ausgerichtet werden könne, dann sei auch mit Liebe nichts mehr zu erreichen.“ ‚Liebe‘ war hier nur als Mittel zum Zweck verstanden, nicht als Empathie als eine Voraussetzung für die Erziehung. Der Assessor Adler versuchte, die unterschiedlichen Positionen vorsichtig auf den Punkt zu bringen: Es sei „wohl eine Frage der Weltanschauung, ob man züchtigen wolle oder trotz aller Gründe, die dafür sprächen, aus gleicher erzieherischer Verantwortung sich zu der Strafe nicht entschließen könne.“
Am Ende der Erörterungen entschied die Behörde, die Beibehaltung der bisherigen Beschlüsse der Behörde über die körperliche Züchtigung der Mädchen zu empfehlen. Ein Unentschieden gab es bei der Abstimmung zur Arreststrafe. Damit sollte auch sie zunächst nicht angetastet werden. Zum Ende der Sitzung war nur der Entwurf der Strafordnung für die Mädchenanstalt zu einem Teil beraten worden. Man vertagte die Diskussion auf eine weitere Sitzung. Müller äußerte die Erwartung, dass es Unterschiede in den Strafordnungen der Anstalten für Mädchen und Knaben nur geben solle, wenn das Geschlecht den Unterschied rechtfertige. Außerdem müssten „die Erziehungsmaßnahmen (…) wohl von den Strafen getrennt werden.“
Die Kommission traf sich vier Wochen später am 29.11.1922 zu ihrer 3. Sitzung{85}. In dieser Besprechung erhielt zunächst Direktor Schallehn von der Knabenanstalt das Wort und erläuterte die von ihm favorisierten Grundsätze für eine Erziehung in den Anstalten für die ‚sittlich verdorbene‘ Jugend. Diese sei anders zu betrachten als die „normale“ Erziehung durch Eltern zu Hause, fuße aber auf dem gleichen Grundsatz: „Lohn und Strafe sollen in der normalen Erziehung nur mässig angewandt werden, seien aber als Heilmittel heranzuziehen wie die Medizin, die der Arzt dem kranken Körper gebe.“ Der Erzieher in der Anstalt verfüge über eine „Stufenfolge von erzieherischen Massnahmen und Strafmitteln“, die er nach eigenem Ermessen einsetzen können müsse. Die „Strafreihe“ beginne mit dem „strafenden Blick oder der Ermahnung“ und die Wirkung der Strafe würde erhöht, wenn sie „aus der unmittelbaren sittlichen Empörung hervorgehend der Tat unmittelbar folge. (…) Die körperliche Züchtigung sei der gewaltsame Eingriff, der scharfe Schnitt, zu dem der Arzt im Notfall greife und zu dem sich auch der Erzieher entschliessen müsse, wo Weichlichkeit nicht angebracht sei: bei den schwierigen Elementen sei zuweilen eine derbe Tracht Prügel notwendig, um sie zur Besinnung zu bringen und andere abzuschrecken.“ Er belegte seine Auffassung mit den Geschehnissen in der Anstalt: In der Zeit der Diskussion über die Strafen sei die Prügelstrafe kaum noch verhängt worden und das Ergebnis sei, dass die Zahl der Entweichungen 1919 bei 99 und 1920 bereits bei 206 lag, um dann 1921 auf 263 zu steigen. „Die Mehrzahl sei wiederholt im Laufe desselben Jahres entwichen.“ Sie würden sich in Kaschemmen herumtreiben. Man könne kaum glauben, dass die Jungen nach ihrer Rückkehr wiederaufgebaut werden könnten. Im Übrigen entstehe dem Staat durch diese Jungen, die das Inventar der Anstalt zerstören und draußen ihr „Anstaltszeug“ verkauften, ein erheblicher Schaden, den er auf 60 Tausend Mark im Jahr bezifferte. „Nur die Furcht vor Strafe könne die Zöglinge vom Entweichen zurückhalten.“ Er musste auf Nachfrage allerdings einräumen, dass sich der ursächliche Zusammenhang zwischen der Zurückhaltung bei der Anwendung der Prügelstrafe und des Ansteigens der Zahl der Entweichungen „natürlich auch nicht beweisen lasse“. Ein weiterer Aspekt seien die Übergriffe auf das Personal. Unlängst sei ein „angegriffener Erzieher von einem längeren Krankenlager zum Dienst zurückgekommen.“ Die Kommission war sich in diesem Punkt einig, dass „ein Schutz der Erzieher dringend notwendig“ erscheine. Direktor Schallehn schloss seine Ausführungen mit dem Hinweis, dass sich das gesamte Personal „einstimmig“ dafür ausgesprochen habe, die körperliche Züchtigung und den Arrest als Strafmittel beizubehalten.
Durch den Vortrag angeregt, diskutierte die Kommission die Bestrafung des Entweichens: Die einen Zöglinge würden im Moment des Entweichens nicht an die Strafe denken, die anderen, die freiwillig zurückkehren wollen, würden durch die Erwartung der Strafe von der Rückkehr abgeschreckt. Direktor Schallehn entgegnete, dass „die Rückkehr aus weichen Stimmungen“ nicht gerade häufig vorkommen würde. Er stellte fest, dass die in die Anstalt überwiesenen Jungen eine Abwehr gegen ein geregeltes Leben überhaupt mitbrächten und sich daher auch gegen die Anstaltsordnung wehren würden. Er lenkte im Weiteren dann insoweit ein, dass die Prügelstrafe nicht auf ein bestimmtes Ereignis unweigerlich folgen müsse, sondern die Möglichkeit ihrer Anwendung gegeben sein müsse, um sie dann je nach Fall auch in milderem Maße oder gar nicht zu verhängen. Während Direktor Heskel dem zustimmte, lehnte die Beigeordnete Kähler jegliche Züchtigung und den Arrest ab. „In die Anstalt müsse etwas wärmeres als die Strafordnung hineingebracht werden, deren Drohungen die Zöglinge nur der Anstalt fernhielten.“ Diese pädagogisch geprägte Sicht rief den zweiten Direktor auf den Plan. Die Anstalten hätten de jure die Pflicht, die Zöglinge in ihrer Gewalt zu halten. Auch wenn Entweichungen durch Strafandrohung im Einzelfall nicht verhindert werden könnten, so werde „aber die Gesamtheit … durch die Strafandrohungen zurückgehalten. Ohne bestrafen der Entweichungen sei die Anstaltserziehung am Ende.“ Und schließlich müsse man Entweichungen auch „zum Schutze der Allgemeinheit vor diebischen, gewalttätigen oder kranken Zöglingen“ verhindern.
Auch wenn es angesichts dieser kontroversen Stellungnahmen zunächst aussichtslos erschien, sich auf eine novellierte Strafordnung zu verständigen, wurde aber genau dies erreicht. Die bereits milderen Entwürfe wurden in der Reihenfolge der Strafen verändert und die geringeren Strafen wie die Entziehung von Vergünstigen und der Freizeit den Erzieherinnen und Erziehern überlassen. Nur die härteren Strafen sollten von den Anstaltsleitungen genehmigt werden. Dabei wurde die körperliche Züchtigung als Maßnahme bei „schwersten Verfehlungen“ und „im äußersten Notfall“ an die letzte Stelle und der auf sechs Tage begrenzte Arrest an die vorletzte gerückt. Die Reihenfolge sollte aber nicht als zu durchlaufende Eskalationskette verstanden werden. Die Strafen sollten bei der Auswahl am Einzelfall ausgerichtet sein.
Der Vorschlag, dass die leichteren Strafen, die durch die Erzieherinnen und Erzieher verhängt werden durften, der Anstaltsleitung zu melden seien, um Angemessenheit und Missbrauch überprüfen zu können, wurde für die Mädchenanstalt angenommen, für die Knabenanstalt jedoch mit dem Hinweis auf „das den Zöglingen gegebene und von ihnen auch recht oft in Anspruch genommene Beschwerderecht“ verworfen.
Es war ein Kompromiss gefunden worden, der aber am Ende noch einer letzten Klarstellung bedurfte. Sollten die Anstaltsleitungen angehalten sein, die Strafen „auf Verlangen der Behörde“ auch zu verhängen, also auch die Prügelstrafe und einen verschärften Arrest? Oberin Rothe wollte das sicherlich nicht, Direktor Schallehn wollte dagegen über das komplette Repertoire an Strafmaßnahmen verfügen. „Die Meinungen sind geteilt“, wurde im Protokoll notiert. Man verständigte sich auf die Antwort, „dass schliesslich in jedem Einzelfall die besonderen erzieherischen Erwägungen ausschlaggebend bleiben müssten.“ Die Kommission beendete damit ihre Arbeit. Das glaubte sie zumindest.
Am 14. Dezember wurde das Ergebnis der Kommission in der Plenarsitzung der Behörde für öffentliche Jugendfürsorge beraten. Sie verwies die Frage der körperlichen Züchtigung an die Kommission zurück, die am 21. März 1923{86} erneut zusammentreten musste. Neu dabei war der Vorsitzende Biedermann und neben ihm nahmen die Beigeordnete Kähler, die Abgeordnete Stengele, Pastor Manhardt und die Beamten Creutzburg und Adler teil. Oberin Rothe und Direktor Schallehn, die beiden Anstaltsleitungen, waren ebenfalls geladen. Direktor Heskel war nicht mehr im Amt. Seine Rolle vertrat Direktor Hellmann.
Der Vorsitzende eröffnete die Sitzung mit einem Paukenschlag. Er teilte mit, dass seine Meinung zur körperlichen Züchtigung von der Mehrheit der Behörde geteilt werde: sie solle aus den Strafordnungen entfallen. In Fällen von Übergriffen auf Personal oder Sachen und tätlichem Widerstand gegen eine Erziehungsmaßnahme könne aber unmittelbarer Zwang ausgeübt werden, und zwar auf Grundlage der gesetzlichen Vorschriften zur Notwehr und Selbsthilfe und Verhütung von Sachbeschädigung. Direktor Schallehn verteidigte erneut seine Position, dass es Fälle gebe, „wo die Anwendung der körperlichen Züchtigung unbedingt nötig sei.“ Auch Oberin Rothe wollte auf das letzte Mittel für besondere Fälle nicht verzichten. Sie hielt Fälle für möglich, „wo durch einen solchen scharfen Eingriff der Ausbruch einer Geisteskrankheit geradezu verhütet werden könne.“ Sie sei „jedoch nicht bereit, eine körperliche Züchtigung selbst vorzunehmen.“ Für Befremden sorgte in der Sitzung die Äußerung des Direktors Schallehn, dass in den Strafordnungen nur die schweren Züchtigungen aufgenommen seien, nicht die leichten. Dies war ein deutlicher Hinweis darauf, dass es zwar keine Stockschläge mehr gab oder geben sollte, aber der Klaps oder die Ohrfeige weiterhin als legitim betrachtet wurden.
Direktor Hellmann plädierte ebenfalls für die Abschaffung der körperlichen Züchtigung. Er vertrat die Auffassung, dass der Zögling „die Züchtigung als Akt der überlegenen Gewalt [empfinde], der er sich fügen müsse. Es bleibe bei ihm die Abneigung bestehen und die Unerziehbarkeit werde verstärkt.“ Er ging auch auf die Ausführungen der Oberin ein: „Niemals könne eine Züchtigung eine Vorbeugung sein gegen Störungen des Nervensystems.“ Ein leitender Arzt der psychiatrischen Anstalt Friedrichsberg habe vielmehr „die Frage gestellt, ob nicht durch eine verkehrte Behandlung in der Erziehungsanstalt geistige Erkrankungen geradezu gefördert seien.“ Diesem Standpunkt schloss sich auch die Abgeordnete Stengele an. Dann entließ man die beiden Anstaltsleitungen und beschloss im engeren Kreis der Kommission, der Behörde vorzuschlagen, „die körperliche Züchtigung in beiden Strafordnungen zu streichen“ und dem Personal die Vorschriften für unmittelbaren Zwang zur Abwehr von Gefahren mitzuteilen. Das lang diskutierte Thema der Prügelstrafe war vom Tisch gefegt worden. In der darauffolgenden Sitzung der Behörde, an der auch der neue Direktor der Jugendbehörde, Dr. Wilhelm Hertz, teilnahm, wurde das Ergebnis bestätigt. Er machte deutlich, dass es bei den Disziplinarmaßnahmen nicht um Sühne, sondern um Verwaltungszwangsmaßnahmen gehe. Diese juristische Sichtweise mag für die behördliche Betrachtung des Gegenstandes hilfreich gewesen sein, für die erzieherische Praxis war sie es nicht.

Die Weimarer Republik mit dem erstmals in freien, allgemeinen Wahlen gewählten Reichstag war zweifelsohne eine ‚neue Zeit‘, insbesondere was sozialpolitische und speziell jugendpolitische Ambitionen anbelangt. Bereits 1921 lag ein Entwurf für ein „Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt“ vor. Er beginnt mit der Formel: „Jedes deutsche Kind hat ein Recht auf körperliche, geistige und sittliche Erziehung.“{87} Das war ein Paradigmenwechsel, denn Kinder galten bislang als Objekt erzieherischen Handelns, nicht als Träger eigener Rechte. Im ersten Paragrafen heißt es weiter: „Insoweit der Anspruch des Kindes auf Erziehung von der Familie nicht erfüllt wird, (…) tritt öffentliche Jugendhilfe ein“. Auch wenn diese Generalklausel zum Recht des Kindes auf Erziehung ‚nur‘ einen Grundsatz formuliert, so wirkte er dennoch inspirierend für Reformvorhaben in der erzieherischen Praxis.