Kitabı oku: «Die Engel der Madame Chantal», sayfa 6

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Kapitel 9

Am 29. September, es war ein Samstag, landete das Flugzeug in Quebec.

Chantal und Harald hatten sich vorgenommen, den Indian Summer in all seinen Farben zu erleben, in sich aufzunehmen und in ihrer Seele zu verstauen. Sie wollten ihn im Winter wieder hervorholen, wenn sie zuhause vor dem knackenden Kamin sitzen würden.

Doch dunkle Schatten tauchten bereits am ersten Urlaubstag auf.

Harald war bereits vor dem Abflug schweigsam geworden. In den zurückliegenden Wochen hatte Chantal ihn einige Male bekniet, zum Arzt zu gehen. Er kam ihr schlanker vor. Und seine Gesichtsfarbe schien sich auf eine undefinierbare Weise verändert zu haben.

»Ich bin ein bisschen überarbeitet. Gott, was freue ich mich auf diesen Urlaub«, hatte er leicht geseufzt und ihr einen Kuss auf die Stirn gegeben. Immer, wenn er ihr einen Kuss auf die Stirn und nicht auf den Mund gab, war Vorsicht geboten.

»Warum musst du noch mit neunundsechzig jeden Tag an die Front? Du hast doch weiß Gott genug gerackert in deinem Leben«, hatte sie noch vor eine Woche gefaucht.

»Ist ja in Ordnung. Du hast ja recht. Nur noch bis zum Ende dieses Jahres. Dann …«

»Sobald wir aus dem Urlaub zurück sind, übergibst du alles deinem Geschäftsführer. Okay?«

»Hm. Aaach«, hatte er gestöhnt.

»Was heißt das jetzt auf Deutsch?!«

»Ich weiß nicht, ob ich mich noch auf Kunzmann verlassen kann.«

»Dann schmeiß‘ ihn raus. Hol‘ dir einen Neuen. Kosten dürfen im Moment keine Rolle spielen. Du weißt, dass ich mich noch nie eingemischt habe. Nichts liegt mir ferner, als die intelligente Tussi zu spielen. Aber deine Gesundheit … Harald … ich brauch‘ dich!«

»Danke mein Schatz. Das tut gut. Ich liebe dich«, flüsterte er.

Und heute, am ersten Urlaubstag, hatte er sich einige Male übergeben müssen. Danach nahm er Tabletten ein; viele Tabletten.

»Harald. Liebling. Was schluckst du denn da in dich hinein? Sollte ich etwas wissen?«

»Nein. Lass‘ uns den Urlaub genießen. Heute Nachmittag habe ich einen Flug gebucht. Bei den kleinen Flugzeugen wird mir in den letzten Jahren übel. Das ist zur Vorbeugung.«

Der Nachmittag war himmlisch. Sie flogen über die bunten Wälder von Quebec. Dort unten glänzten viele Seelandschaften in der Sonne. Und da war das Gelb der Lärchen, der Zitterpappeln und der Birken, das Braun der Buchen und Eichen, die unterschiedlichen Grüntöne der Nadelbäume und vor allem das unvergleichliche Orange und Rot der kanadischen Eichen.

Haralds Hand krallte sich zunehmend in die von Chantal. Sie hatte sich ausschließlich auf dieses Farbenspektakel konzentriert und gejauchzt wie ein kleines Kind.

»Haaach. Ist das nicht herrlich Harald. So schön habe ich es mir nicht vorgestellt.«

Doch plötzlich hatte sie ein eigenartiges Gefühl. Harald antwortete nicht. Deshalb blickte sie kurz zu ihm hinüber. Sie sah, dass er gedankenverloren nach unten starrte. Dicke Tränen rannen über seine Wangen.

»Harald. Harald«, bettelte sie.

»Geht es dir nicht gut?«

Doch Harald schien sie nicht zu hören.

Er starrte weiter nach unten. Er weinte und lächelte gleichzeitig.

Chantal schüttelte aufgeregt seinen Arm.

»Ist das nicht ein Traum«, sagte er mit verweinter Stimme. »Das ist das Paradies. Ich möchte es mitnehmen. Aaach ist das schön.«

Die Art, wie er es sagte, ließ Chantal aufhorchen. Nein. Nein. Das waren keine Worte der Freude. Hier schwangen andere Töne mit; Töne der Ehrfurcht, des überwältigenden Erstaunens aber auch Laute der Hoffnungslosigkeit und einer unendlichen Traurigkeit. Nein. Nein. Das war nicht ihr Harald, den sie sonst kannte. Hier musste sie sich Sorgen machen; große Sorgen!

Jetzt begann auch Chantal zu weinen. Ihr Instinkt schrie förmlich: »Harald hat dir etwas verschwiegen! Es muss etwas Schlimmes sein. Mit dem Geschäft hat es mit Sicherheit nichts zu tun. Das darfst du nicht auf die leichte Schulter nehmen!«

Sanft streichelte sie die Hand ihres Geliebten. Doch er schwieg. Hastig hatte er sich die Tränen von den Wangen gewischt. Aber er blickte sie nicht an.

Endlich hatten sie wieder festen Boden unter den Füßen. Harald versuchte, krampfhaft zu lächeln. Es war ein angestrengtes Lächeln.

Auf einer Anhöhe mit einem weiten Blick über das bunte Meer aus Bäumen parkte Chantal das große Geländefahrzeug. Harald war in sich zusammengesunken.

Mit müden Schritten, und mit Chantals Hilfe, schleppte er sich zu einer kleinen Bank.

»Gott. Oh Gott. Ist das schön«, seufzte er und lächelte.

Chantal nahm seinen Kopf in ihre beiden Hände. Sie blickte in glänzende und leicht verweinte Augen. Doch jetzt sah sie es. Warum sah sie das erst heute?! Das Weiß der Augäpfel hatte sich in ein Gelb, ja fast in ein helles Braun verwandelt. Was war das?

Sie klammerte sich an diesen Mann, den sie seit fünfzehn Jahren kannte; mit ihm das Bett teilte; den sie inzwischen liebte. Ja. Heute, hier und jetzt, wusste sie, dass sie ihn liebte; wie keinen Mann auf dieser verdammten Erde. Niemals hätte sie es für möglich gehalten, ein solches Gefühl für einen Menschen entwickeln zu können. Doch jetzt hatte sie Angst!

»Mein Schatz. Liebling. Bitte! Sag‘ mir, was mit dir nicht stimmt. Bist du krank?«, krächzte sie heißer.

»Oh mein Gott. Schau dir das an«, sagte Harald fast euphorisch. »Was haben wir zusammen gesehen und erlebt; in Kanada, in der Toskana, in Skandinavien, in Tschechien, im Balkan und was weiß ich noch wo. Es war ein herrliches und wunderwunderschönes Leben mit dir. Ich möchte keinen einzigen Tag missen« Er lachte kurz auf. »Vor allem an diesen verrückten ersten Abend in Würzburg muss ich oft denken. Du bist eine wunderschöne Frau. Du bist eine warme Frau. Das habe ich dir am ersten Abend unseres Kennenlernens gesagt. Glaub‘ mir. Ich bin dir nicht böse, dass du …«

Er stockte kurz.

»Wichtig für mich war und ist, dass du auch mich glücklich gemacht hast; unendlich glücklich. Nicht auszudenken, wie das Leben ohne dich verlaufen wäre. Dafür liebe ich dich. Unendlich. Dafür danke ich dir.«

Chantal riss sich los. Sie trommelte wie wild auf Haralds Brustkorb. Sie schluchzte und schrie:

»Ja. Ja. Ja. Aber das beantwortet nicht meine Frage. Sag‘ mir endlich was los ist!«

»Komm‘«, sagte Harald lächelnd und zog Chantal wieder an seine Brust.

Nachdem er einige Male tief geatmet hatte, sagte er:

»Ich weiß es noch nicht so lange. Diese Krankheit ist extrem tückisch.«

»Was heißt tückisch?«, schluchzte Chantal.

»Du hast es nicht verdient, dass ich dich anlüge. Mit tückisch meine ich tödlich. Bauchspeicheldrüsenkrebs. Ich habe inzwischen alles checken lassen. Ich habe ein CT und ein MRT machen lassen. Das Pankreaskarzinom ist extrem groß. Metastasen haben sich in der Lunge, der Leber und inzwischen auch in den Knochen gebildet. Die Ärzte raten von einer OP ab. Vor zwei Wochen habe ich mit der Chemotherapie begonnen.« Er machte eine Pause, um mit einem Seufzer fortzufahren:

»Diesen Urlaub wollte ich noch mit dir verbringen. Diese herrlichen Bilder will ich mit hinübernehmen; zusammen mit deinen Augen und deinem Lächeln. Mach‘ es mir bitte nicht schwerer als es ist. Bitte!«

Noch während des Kurzurlaubes sagte Chantal alle Termine ab. Alle. Ausnahmslos.

Gemeinsam versuchten sie, diesen Schicksalsschlag zu verdrängen; Haralds letzten Urlaub so unbeschwert wie nur irgend möglich zu gestalten. Sie machten Ausflüge, fuhren mit einem Boot hinaus auf den See, in dem sich die bunten Farben widerspiegelten. An den Abenden saßen sie vor dem Kamin und leerten sogar einige Flaschen Wein.

Sie lagen lange im Bett und streichelten sich gegenseitig. In der Nacht vor dem Rückflug flüsterte Harald:

»Lass‘ es uns versuchen. Ich möchte noch einmal deinen herrlichen Körper spüren.«

Es wurde eine zarte und wunderbare Stunde.

Chantal lag später noch sehr lange wach. Das Laken sog ihre Tränen gierig auf.

Über alle weiteren Schritte wollte sich Harald mit ihr zuhause unterhalten. Chantal nahm sich vor, immer an seiner Seite zu stehen – bis zum Schluss; koste es was es wolle. Fest stand bereits jetzt schon, dass sie Harald in die Firma begleiten musste. Diese Krankheit konnte blitzartig härtere Geschütze auffahren.

Professor Dr. Rolf Kubischek legte seine Hand auf die der Weinenden.

»Wir werden alles unternehmen, dass Herr Lambers zumindest keine Schmerzen hat. Er bekommt Gemcitabin und zusätzlich vielleicht Erlotinib. Selbstverständlich komme ich unverzüglich zu ihnen nach Hause.

Haralds Gesundheitszustand verschlechterte sich von Woche zu Woche. Parallel zu den Medikamenten hatte Chantal Marihuana und später sogar Opium besorgt.

Dank dieser „Hilfsmittel“, wie es Harald ausdrückte, war er schmerzfrei. Sie unterhielten sich vor dem Kamin und hörten Musik. Oder Chantal legte sich zu ihm in Bett, um zu kuscheln und den lächelnden Kranken zu streicheln.

Professor Rolf Kubischek war ein Pragmatiker, der die angebotenen 20 000 Euro nicht verschmähte.

An zwei Tagen in der Woche besuchte er Harald und Chantal in der Villa. Weitere Untersuchungen in der Klinik waren nicht mehr angebracht.

Am späten Nachmittag des 2. April, es war ein Montag, winkte Harald Chantal mit müden Handbewegungen heran.

Er saß auf der Couch im riesigen Salon. Seit einigen Tagen wollte er nur noch die Nacht im Bett zubringen. Sie hatten zusammen Kaffee getrunken. Essen war für Harald schwierig geworden. Er musste sich fast stündlich erbrechen.

Trotzdem lächelte er. Seine blauen Augen waren glanzlos und trübe geworden. Das runzelige Gesicht hatte eine braune Färbung angenommen.

»Komm zu mir mein Engel«, flüsterte er.

Chantal lehnte sich an seine Brust. Das liebte er. Sanft streichelte er über ihre schwarzen Haare.

»Unser schöner Weg geht zu Ende«, flüsterte er. »Ich muss mit dir sprechen, so lange das noch geht. Zunächst möchte ich mich bedanken für deine Liebe und deine Kraft, die

du in den letzten Monaten für mich aufgebracht hast.«

»Was redest du da. Das hättest du doch …«

»Bitte unterbreche mich nicht«, sagte Harald etwas lauter. Seine Stimme wurde heiser und stockender.

»Ich möchte nicht mehr leiden. Ich möchte auch nicht, dass du weiter mit mir leiden musst. Ich möchte sterben, so lange ich dich anschauen und erkennen kann. Dieses Bild will ich mit hinübernehmen. Das ist mein allergrößter Wunsch. Verspreche mir, dass du das akzeptierst und dass du nicht traurig bist. Das Schicksal hat es gut mit mir gemeint. Das ist unsere letzte Stunde. Bitte lege eine CD auf. Heute ist mir nach der Moldau zumute. Sie wird mich wiegen und hinwegtragen.«

Mit Tränen in den Augen erhob sich Chantal. Eine Stimme in ihr sagte, dass sie tapfer sein musste; dass Harald jetzt keine Szene wünschte. Ihr Instinkt riet ihr, keine Fragen zu stellen. Er hatte es doch deutlich genug gesagt … dass dies ihre letzte Stunde sein würde. Sie kannte Harald nun lange genug. Er hielt sie für so intelligent, dass sie wissen musste, was er damit aussagen wollte. Es war also nicht sinnvoll, weiter zu grübeln, sich zu bemitleiden oder nur sich zu sehen. Jetzt ging es um Harald. Sie liebte ihn. Sie respektierte ihn.

»Hörst du das? Die Tropfen«, flüsterte Harald mit geschlossenen Augen, als sie sich wieder an seine Schulter gelehnt hatte. »Sie sind neugierig … auf das Leben. Hörst du das Plätschern«, murmelte er, und tastete mit seinen beiden Händen nach ihrer rechten Hand.

Seine Hände waren knochig geworden. Und sie waren kühl.

»Oh Gott. Ich liebe dich. Was mache ich jetzt ohne dich«, flüsterte er mit geschlossenen Augen.

»Da vorn ist der Wasserfall. Hörst du ihn tosen? Er ruft. Er ruft. Es war ein schönes, ein herrliches …«

Danach hörte Chantal nur noch ein letztes zufriedenes Seufzen – und die Moldau … wie sie weiter floss. Sie spürte, wie Haralds Hände kraftlos wurden.

Chantal beugte sich zu ihm hinüber, um ihm einen Kuss mitzugeben – für seine Reise.

»Du Spinner. Du Schuft. Warum lässt du mich jetzt allein?«, sagte sie leise – und weinte.

Professor Kubischek kam gegen 9.00 Uhr. Er fand eine gefasste Chantal vor. Und er war weise genug, keine Fragen zu stellen. Er sah, dass die Frau in ihrem schwarzen Kleid litt. Deshalb nahm er sie kurz und schweigend in die Arme. Erst danach ging er zur Couch. Chantal hatte eine Decke über Harald gelegt. Es sollte nicht frieren. Das Gesicht hatte sie selbstverständlich frei gelassen. Es sah aus, als wolle er sich lediglich einen kurzen Schlaf gönnen.

Nachdem der Professor seinen Handrücken kurz auf Haralds Wange gelegt hatte, setzte er sich auf einen der großen gemütlichen Sessel. Dort holte er eine kleine Mappe aus seinem Arztkoffer. Bevor er eine Frage stellen konnte, schob Chantal ihm einen braunen Umschlag über den Tisch.

»Das soll ich Ihnen geben, Herr Professor. Harald hat mich gebeten, Ihnen für Ihre Unterstützung und Begleitung noch einmal seinen Dank auszusprechen«, sagte Chantal mit belegter Stimme.

Der Professor sah zu Harald hinüber.

»Er hat mich oft beeindruckt. Auch mir wird er fehlen.«

Danach blickte er in die verweinten Augen Chantals.

»Haben Sie miteinander gesprochen, wie es jetzt weitergehen soll?«

Ein Lächeln huschte über Chantals Gesicht.

»Sie haben es ja selbst gesagt Herr Professor. Harald war nicht nur Geschäftsmann. Er war mitunter auch höchst kreativ und einfühlsam. Wir waren vor drei Wochen bei einem Bestattungsinstitut.«

Sie machte eine kurze Pause, um mit fester Stimme fortzufahren:

»Nachher wird er abgeholt, und nach Slangenburg in den Niederlanden gebracht.«

»Oh. Davon habe ich schon gehört. Ist das nicht ein bisschen kompliziert?«

Der Professor war sichtlich überrascht.

»Eigentlich nicht. Ich muss nur vier Wochen warten, bis ich die Urne abholen kann.« Chantal blickte zu Harald hinüber.

»Dann habe ich ihn immer in meiner unmittelbaren Nähe. Er selbst hat sich einen schönen Platz ausgesucht. Ja. So war er. Er überließ nur sehr wenig dem Zufall.«

Professor Kubischek starrte Chantal an.

Diese entdeckte in dessen Augen höchstes Erstaunen.

Mit Sicherheit wusste er inzwischen, welche schillernde Persönlichkeit vor ihm saß. Alles hätte er diesen beiden höchst ungewöhnlichen Personen zugetraut – nur nicht eine solche romantische Geschichte. Er rang mit den Tränen.

Plötzlich griff er hastig nach der kleinen Mappe, um sie zu öffnen.

»Ich habe die Scheine bereits ausgefüllt«, sagte er halblaut, während er seine Unterschrift unter zwei Formulare setzte.

Er vermied das Wort „Totenschein“. Ohne hochzublicken, sagte er: »Als Zeitpunkt habe ich acht Uhr heute Morgen eingesetzt.«

Er blickte Chantal fragend an.

»Ist das in Ihrem Sinne Madame Chantal?«

Es war das erste Mal, seit sie sich kannten, dass er sie so nannte.

Chantal nickte einige Male schweigend.

»So. Diesen Schein übergeben sie nachher dem Beerdigungs-Institut. Und den hier …«

»Ich weiß Herr Professor. Harald hat mich genau instruiert.«

»Was nicht anders zu erwarten war«, brummelte der Professor, während er seinen Arztkoffer schloss, und ruckartig aufstand. Für einige Sekunden stand er vor Chantal. Er blickte ihr in die Augen. Der Professor hatte dunkelbraune Augen, die nun die Frau im schwarzen Kleid und den langen schwarzen Haaren fixierten. Er schien nachzudenken, ob er diese Frau erneut in den Arm nehmen sollte oder ihr lediglich die Hand zu reichen. Er entschied sich für die Umarmung, und sagte anschließend:

»Wenn das hier alles vorbei ist, trinken wir dann einmal eine Tasse Kaffee zusammen?«

Chantal lächelte in sich hinein.

»Diese Frage kam eindeutig nicht von einem Professor, sondern von einem Mann; von Rolf Kubischek.«

»Ich habe ja Ihre Adresse Herr Professor«, antwortete Chantal mit ihrer dunklen Stimme.

»Es würde mich traurig machen, wenn wir uns aus den Augen verlieren sollten«, sagte Rolf Kubischek, während der die Villa verließ. Chantal nahm sich in dieser Sekunde vor, diesen Mann anzurufen. Später. Irgendwann.

Kapitel 10

Das Leben musste weitergehen. Und es ging auch weiter.

Der Tod von Harald Lambers sprach sich schnell herum. Chantal beugte eventuellen Anfragen vor, indem in einer Todesanzeige stand:

»Die Beerdigung findet im allerengsten Familienkreis statt. Von Beileidsbekundungen jeglicher Art bitten wir Abstand zu nehmen.«

Natürlich standen Iris und Manuela ihrer Freundin bei. Sie respektierten jedoch, dass Chantal nach Haralds Tod einige Tage der Ruhe und inneren Einkehr brauchte.

Niemals hätte Chantal sich vorstellen können, dass ihr ein Mensch so fehlen würde. Sie saß nun allein in dieser riesigen Villa, und versuchte ihr Leben zu ordnen.

War es ein Fehler gewesen, Harald nicht zu heiraten? Genau genommen spielte diese Frage nun ohnehin keine Rolle mehr. Unabhängig davon hatte sie sich eben diese Frage zuvor oft genug gestellt – und beantwortet. Nein. Harald war mit diesem Leben zufrieden gewesen. Das hatte er kurz vor seinem Tod noch einmal betont.

Aber nun fehlte er ihr. Unsäglich.

Vor allem an den Abenden saß sie allein vor dem Kamin. Die Musik stellte sie lauter als sonst. Und sie trank auch mehr Rotwein als sonst. In den ersten Nächten schlief sie auf dem Fell vor dem Kamin ein. Nein. Auf die Couch wollte sie sich nicht legen. Dort sah sie noch immer Harald liegen. Und das große Doppelbett da oben? Das war urplötzlich riesig – und leer. In ihre Wohnung im 22. Stock wollte sie auch nicht. Das hätte sie als Verrat an Harald empfunden.

Und plötzlich ging alles schnell. Kosten spielten keine Rolle. Innerhalb von drei Tagen ließ sie Isoldes Schlafzimmer räumen, tapezieren und neu einrichten. Der Verkäufer des Möbelhauses hatte sie zunächst völlig entsetzt angeschaut. Doch nachdem sie ihm zwei Fünfhundert-Euro-Scheine in die Hand gedrückt hatte, ließ er große Wunder Wirklichkeit werden.

Wie würde es jetzt weitergehen? Sie wollte sich in Arbeit ersäufen. Aber welche Arbeit? Termine wahrnehmen? Niemals. In das Unternehmen gehen? Nein. Dort würde sie erst wieder auftauchen … nach der Testamentseröffnung.

Viele Tage später lag sie lange wach, um über dieses Thema nachzudenken. Harald hatte nie darüber gesprochen, wie es weitergehen würde – nach seinem Tod. Einmal hatte er eher beiläufig erwähnt:

»Ich habe doch nur dich. Du bist mein Alles. Du bist eine starke Frau. Du ersetzt viele Männer. Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel.«

So war Harald. Unendlich oft hatte er Themen indirekt und verklausuliert angesprochen. Oder gar Parabeln benutzt. Wie auch immer. Jetzt galt es abzuwarten – auf die Testamentseröffnung und auf die Urne.

Nach zwei Wochen wurde die Villa für Chantal immer stiller und erdrückender. Sich totsaufen war keine Option. Deshalb lud sie Iris und Manuela ein – in die Villa.

»Ach du Scheiße«, schrie Manuela beeindruckt, als Chantal sie durch die Villa führte.

»Wird dir das jetzt nicht ein bisschen eng in deinem Wochenendhaus?«

Die Freundinnen blieben selbstverständlich über Nacht. Kichernd lagen sie spät in der Nacht zu dritt im neuen Doppelbett.

»He. Das würde deinem Harald gefallen«, quietschte Iris.

Zuvor hatten Iris und Manuela ihre Freundin unterhalten, versucht abzulenken und sie in diese andere Welt entführt. War das noch ihre Welt? Würde sie wieder in diese Welt zurückkehren? Konnte sie das? Durfte sie das? Die Zeit würde es zeigen!

Manuela war es extrem wichtig gewesen, ihrer Freundin einen lieben Gruß von Miranda auszurichten.

»Sie hat geweint, als sie das mit Harald gehört hat«, lispelte Manuela weinschwer.

Chantal blickte ihre Freundin giftig an.

»Du dumme Pute. Warum konntest du dein Maul nicht halten.«

»Sie hat immer nach dir gefragt. Und du hast sie ja nie zurückgerufen«, jammerte die Lesbe.

»Sie hängt quer in den Seilen. Ich glaube, dass sie gravierende Probleme in ihrem Job hat. Bislang schwebte sie ja irgendwo ganz weit oben.«

Zwei Tage später saß Ferdinand, der Detektiv, im Salon der Villa.

»Madame Chantal. Sie sehen mich tief beeindruckt«, hauchte der sonst so quirlige und extravertierte Mann.

Der Nachmittag ging fließend in einen langen Abend über.

»Dieser Geschäftsführer, dieser Klaus Kunzmann, ist ein riesengroßes Schwein«, hatte Ferdinand mit seinen Ausführungen begonnen.

Und anschließend berichtete er von geldgierigen Verschwörern. Marlon Larousse aus Lyon und der Geschäftsführer von HARLAM-CHEM arbeiteten an einem großen Plan. Zwischendurch wurden Gelder verschoben. Hierbei war der Finanzvorstand Eduard Zischler nicht unbeteiligt. Larousse ließ inzwischen fast alle Produkte bei HALAM-CHEM produzieren, um die Umweltauflagen in Frankreich zu umgehen. Der Franzose bekam die Produkte fast geschenkt. Kunzmann und Zischler strichen sich die Hälfte der Gewinne ein.

»Selbstverständlich habe ich aussagefähige Unterlagen«, grinste Ferdinand. »Genug, um die beiden Spinner hinter Gittern zu bringen.«

Inzwischen war es fast Mitternacht geworden.

Chantal gab ihrem langjährigen Helfer einen Kuss auf den Mund.

»Ferdinand. Für mich bist du ein Held. Dafür lasse ich mir etwas ganz Besonderes einfallen. Versprochen«, sagte Chantal lächelnd.

Anstatt sich zu freuen, setzte der liebestolle Ferdinand eine traurige Miene auf.

Chantal nahm den schmächtigen Mann in die Arme.

»Was bedrückt dich mein Freund. Spuck es aus«, gurrte Chantal.

Ferdinand hüstelte.

»Na ja. Zu Iris traue ich mich nicht mehr so recht. Da denke ich immer nur an die Peitsche. Und Manuela, das wissen wir doch inzwischen«, schnaufte er viele Male.

»Verdammter Mist. Es ist nicht mehr so, wie es einmal war.«

Anstatt eine Antwort zu geben, begann Chantal sich langsam zu entblättern.

»Das braucht jetzt dieser arme Bursche«, kicherte sie in sich hinein. »Außerdem. Es ist schon eine Weile her, dass ich mit einem Mann geschlafen habe.«

Chantal saß, wie so oft in den letzten Tagen, auf ihrer Bank auf dem Hauptfriedhof; in unmittelbarer Nähe ihrer Wohnung. Diese schöne Wohnung im 22. Stock hatte sie heute seit fast zwei Monaten zum ersten Mal wieder betreten.

Das war am 14. Mai; ein Dienstag.

Die Sonne blinzelte ihr ins Gesicht. Die Amseln zogen lange Würmer aus dem lockeren Boden, um ihre erste Brut in diesem Jahr zu versorgen. Zwei Eichhörnchen verfolgten sich mit atemberaubenden Sprüngen.

Morgen hatte sie einen Termin beim Nachlassgericht.

Bereits am Nachmittag war sie mit ihrem Rechtsanwalt und mit ihrem Steuerberater verabredet.

Am Tag darauf würde sie sich eingehend mit Kai Hesselberg, dem Steuerberater, unterhalten.

Das Smartphone riss sie aus ihren Gedanken.

»Hier ist deine Miranda.« Es war eine leise und traurige Stimme. Zweifellos.

»Es freut mich wahnsinnig, deine Stimme zu hören«, flötete Chantal glaubhaft.

»Ich hätte es weiß Gott verdient, dass du mich mit einem besonders dicken Filzstift aus deiner Liste streichst.«

»Streiche das Gestern aus deinem Gedächtnis. Nur das Heute und das Morgen ist wichtig. Deshalb will ich dir hiermit zuvorkommen. Ich würde mich unendlich freuen, wenn wir uns wiedersehen könnten. Wenn du willst, komme ich gerne auch zu dir.«

»Ich will ehrlich sein mein Engel«, sagte Chantal.

»Morgen bin ich beim Nachlassgericht. Die darauffolgenden Tage habe ich Termine mit meinem Rechtsanwalt, mit meinem Notar und mit dem Steuerberater. Und anschließend muss ich mich um die Firma kümmern.«

»Die Firma?«

»Ja. Ein verdammt großer Laden. Aber das ist eine lange Geschichte. Das erzähle ich dir, wenn wir uns treffen.«

»Herrjeh. Jetzt kann ich dich ein bisschen verstehen.«

Die sonst so selbstbewusste Frau seufzte vernehmlich.

»Im Moment sitze ich hier auf einer sonnigen Bank«, lachte Chantal und fuhr fort:

»Manuela hat angedeutet, dass du einige Probleme hast. Darüber zu sprechen sollten wir nicht auf irgendwann verschieben. Willst du mir ansatzweise sagen, worum es sich dreht? Komm. Wir sind doch Freundinnen. Oder nicht?«

»Ja. Selbstverständlich sind wir das. Ich liebe dich sogar. Das weißt du doch.« Sie begann

zu kichern: »Ich habe meinen Brief mit deinen Lippen noch immer auf dem Tisch stehen.«

»Mein Gott. Was sind wir für verrückte Hühner. Also. Was ist los?«

»Sie haben mich gefeuert. Ich habe mich zäh nach oben gearbeitet; in einer Männerwelt. Und diese Männerwelt hat mich jetzt ausgespuckt. Na ja. Selbstverständlich mit einer ordentlichen Abfindung.« Sie lachte und weinte gleichzeitig. »Eine völlig neue Erfahrung. Eigentlich war es bislang meine Arbeit, Leute zu feuern. Was für ein Wahnsinn.«

Einige Sekunden war es still in der Leitung.

»Ich werde darüber nachdenken«, sagte Chantal leise.

»Wie soll ich das denn jetzt verstehen?!«

»Sei lieb«, lachte Chantal.

»Auch Edelhuren müssen ab und zu nachdenken. Sie können vielleicht sogar gute Ideen haben.«

»Ich weiß jetzt nicht, ob ich jetzt beleidigt sein soll. Verdammt. Du bist eine äußerst geheimnisvolle Hure. Aber ich liebe dich. Ach mein Gott, warum muss ich ausgerechnet dich lieben?«

Plötzlich war die Leitung tot.

Frau Dr. Amanda Hinderer musterte Chantal über ihre schmale Brille hinweg. Sie war alles andere als eine Sympathieträgerin. Typ alte, ausgetrocknete und giftige Jungfer, dachte Chantal.

»Sie sind ohne Begleitung hier?«, fragte sie. Die Stimme passte zu ihrer Erscheinung.

»Nein. Draußen sitzen mein Rechtsanwalt und mein Notar.«

»Notar? Welcher Notar?«

»Herr Kurt Hochländer.«

»Oh. Das ist gut zu wissen. Dieses Testament ist äußerst komplex. Es umfänglich zu bewerten, wird noch etwas Zeit in Anspruch nehmen. Das mir vorliegende Testament wurde vom Notariat Hochländer an das Nachlassgericht weitergeleitet. Ist Ihnen das bekannt?«

»Ich bin davon ausgegangen.«

»Zunächst kurz zu Ihrer Person. Sie waren mit dem Erblasser Herrn Harald Lambers weder verheiratet noch verlobt. Ist das richtig?«

»Ja.«

»Sie haben jedoch zusammengelebt?«

»Ich habe kein Jura studiert. Ist diese Frage erheblich für diesen Termin?«, antwortete Chantal mit einem bitteren Lächeln.

»Oh. Wie Sie wünschen. Dann ziehe ich diese Frage zurück.«

»Danke.«

»Wie ich aus Ihren Unterlagen entnehme, sind Sie berufstätig.«

Chantal stand wortlos auf, und steuerte dem Ausgang des Büros zu.

Die alte Jungfer schnellte aus ihrem Bürosessel.

»Hallo. Frau Mauriac. Was soll das denn jetzt?!«

Chantal riss die Bürotür auf und rief nach draußen:

»Herr Doktor Pausch. Herr Hochländer. Ich brauche sie!«

Noch während die beiden Männer das Büro betraten, sagte Chantal mit giftiger Mimik:

»Sagen Sie dieser Dame, dass ich nicht im Traum daran denke, Fragen aus meinem Privatleben zu beantworten. Was hat das hier zur Sache, ob ich berufstätig bin, und welchem Beruf ich nachgehe? Was soll diese Scheiße?«

Nachdem der Rechtsanwalt Dr. Pausch eher beiläufig einfließen ließ, dass er jede Woche mit einigen Herren, auch mit Herrn Haberland, Golf zu spielen pflegt, wurde Frau Dr. Hinderer urplötzlich blass. Natürlich kannte sie diese Herren. Dieser Herr Haberland entschied sogar über ihre weitere berufliche Zukunft.

Mit verbissener Mine entschuldigte sich Frau Dr. Hinderer bei Chantal.

»Warum ist Haralds Sohn, ich glaube er heißt Edward, heute nicht hier?«, flüsterte Chantal halblaut.

»Darf ich diese Frage beantworten Frau Dr. Hinderer?«, sagte der Rechtsanwalt.

»Selbstverständlich. Aber darauf hätte ich zu einem späteren Zeitpunkt ohnehin Bezug genommen«, sagte die sichtlich eingeschüchterte Rechtspflegerin leise.

»Isolde konnte noch nie mit Geld umgehen. Edward wollte offensichtlich alle Rekorde brechen. Obwohl er mit seinem Vater nichts mehr zu tun haben wollte, stand er eines Tages vor Haralds Tür. Er war bis über die Ohren verschuldet. Seine Mutter konnte oder wollte ihm nicht mehr helfen. Damals war Haralds Firma noch nicht so groß wie heute. Ich habe ihm vorgeschlagen, Nägel mit Köpfen zu machen. Edward hat einen größeren Betrag bekommen, der seine Schulden abdeckte. Im Gegenzug haben wir ihn höflich gebeten, selbstverständlich notariell beglaubigt, auf seinen Pflichtteil zu verzichten.«

»Oh Gott«, entfuhr es Chantal.

»Demnach ist es wahrscheinlich keine gute Idee, Isolde und Edward in nächster Zeit über den Weg zu laufen.«

Dr. Pausch und der Notar schmunzelten.

Frau Dr. Hinderer entschied sich für ein Pokerface, und begann mit der Verlesung.

Harald hatte Chantal als Alleinerbin eingesetzt. Und das bedeutete:

Die Villa, in der sie zusammengewohnt hatten. Weitere vier Häuser in Frankfurt.

Die Firma HARLAM-CHEM. Eine fünfundzwanzigprozentige Beteiligung am Unternehmen LYONLA von Marlon Larousse in Lyon. Ein Aktienpaket, Kurswert 2,2 Millionen Euro sowie zwei Konten mit einem gegenwärtigen Kontostand von 650 0000 Euro.

Ausgeklammert hatte das Nachlassgericht zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Beteiligung am riesigen Unternehmen LIN-CHIN im chinesischen Tianjin. Trotz vielfacher Anfragen lägen noch keine aussagefähigen Unterlagen vor.

»Das regle ich mit Herrn Lin-Lin in aller Freundschaft«, flocht Chantal ein.

»Gehen Sie davon aus, dass diese Unterlagen in spätestens einer Woche vorliegen.«

Dr. Pausch und der Notar blickten sich fragend an.

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