Kitabı oku: «Gotthardfantasien», sayfa 2
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Die Infrastruktur bestimmt den Grad der Wahrnehmung von Natur beziehungsweise von Natürlichkeit. So macht Peter Utz, Spezialist für Schweizer Literatur und Katastrophen, eingangs deutlich, dass die enge Verflechtung von alpinem Naturraum mit der menschlichen Technisierung die Gefahr von Katastrophen nicht bändigt, sondern im Gegenteil provoziert, wie ein Blick auf die Gotthard-Literatur des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts zeigt. Schweizer Identität versteht sich viel besser vor dem Hintergrund der latenten Katastrophe. Trotz oder dank den massiven technischen Eingriffen soll die Landschaft Erlebnis bleiben. Dass der alleinige Blick aus dem Bahnwaggonfenster nicht genügt, zeigt der Historiker Daniel Speich Chassé anhand exemplarischer Eisenbahnführer auf. Er macht deutlich, wie unterschiedliche Blickanweisungen, welche man für die Gotthardbahnfahrt bekommt, die Natur und die Landschaft trotz der technischen Revolution und Beschleunigung weiterhin erfahrbar machen und die technische Apparatur gleichzeitig zum Vergessen bringen sollen.
Carl Spittelers Gotthardbahnführer reiht sich zwar in die erst junge, aber schon reichhaltige Tradition von Blickanweisungen ein, versieht das Genre aber mit einem Schuss Ironie, welche das Wissen um das Erlebbare immer schon voraussetzt und es um die Pointe bringt, sodass die erzählerische Aneinanderreihung die filmische Abfolge von Bildern imitiert, was der Literaturwissenschaftler Alexander Honold in Absetzung von Martin Stadlers sozialkritischer Auseinandersetzung mit den technischen Revolutionen am Gotthard darlegt. Der Doyen der Schweizer Literaturgeschichte Peter von Matt bringt auf den Punkt, worauf der neue Mythos spätestens an der Landi 1939 abzielt: auf die Symbiose zwischen Technik und Natur, zwischen Fortschritt und Ursprung. Der essayistische Beitrag von Lars Dietrich, Leiter für alle technischen Installationen im Gotthard-Basistunnel, lässt erahnen, mit welcher Präzision und mit welchem Sinn für jegliche auch nur denkbare Eventualität der Sakralbau par excellence unserer Zeit ausgestattet worden ist. So setzt die subterrane Erschliessung neue Fantasien frei – wie die vier literarischen Beiträge des ersten Teils in Form eines Gedichts (von Nora Gomringer), zweier Reiseberichte (von Michael van Orsouw und Verena Stössinger) und kulturell-geologische Tiefenbohrungen (von Peter Weber) veranschaulichen.
Man kann zwar im «Banne des Sonderfalls» gefangen und paralysiert sein. Gleichzeitig ist dieser Bann aber immer auch aktiv zu durchbrechen. Dies wird möglich, indem bewusst Kontrapunkte gesetzt werden. Es gibt nichts Enttäuschenderes für die Einmaligkeit als den Vergleich. So vergessen wir allzu schnell, dass der Gotthard in Russland einen eigenen Mythos wegen der Alpenodyssee russischer Truppen unter Suvorov im Herbst 1799 bildet. Der Osteuropa-Historiker Frithjof Benjamin Schenk zeigt das Nachleben des Generals in der russischen Kultur bis in unsere Tage. Parallel dazu zeichnet der Spezialist für slawische Literaturen Jens Herlth nach, wie Suvorovs Spuren in der Lyrik dem sowjetischen Menschen verständlich sein mussten. Dennoch ist zu fragen: Gibt es vergleichbare oder alternative Modelle nationaler Überhöhung – wie sie sich im Gotthard-Mythos manifestiert? Es handelt sich um Nationalmythen, welche frappierende Parallelen zum Réduit-Gedanken aufweisen, aber im Unterschied zum Schweizer Nationalstaat im Fall des jugoslawischen Raums entweder romantische Fantasie geblieben sind und in den verschiedenen Nationalliteraturen einen bemerkenswerten Gemeinplatz pluraler Zuordnungen einnehmen (dazu die Südslawistin Anna Hodel) oder im Fall Armeniens gescheitert sind (dazu die Osmanistin Elke Hartmann).
Doch Kontrapunkte können auch auf und gegen den Gotthard selbst gesetzt werden, indem der «Felsenthron Europas» auf der Reise ins Tessin immer neue Ansichten und Beschreibungen generiert. So untersucht der vergleichende Literaturwissenschaftler Thomas Fries Deutschschweizer Reiseberichte des ausgehenden 18. Jahrhunderts ins Tessin, das zu diesem Zeitpunkt noch quasi-kolonialen Status innerhalb der zwölf Alten Orte hatte. Zur selben Zeit wandert auch Goethe dreimal auf den Gotthard, ohne ihn je zu überqueren. Für die Reise nach Italien wird er den Weg über den Brenner nehmen. Denn am Gotthard – so der Literaturwissenschaftler Daniel Müller-Nielaba – hat sich der noch junge Autor des Werther zwischen Malerei und Literatur zu entscheiden, am Gotthard lernt er, die Begrenztheit und die Unvollkommenheit der jeweiligen Kunstform zu reflektieren, sodass der Gotthard immer schon Goethes Dichtung impliziert. Denselben Ausgangspunkt bei den Reiseberichten des 18. Jahrhunderts nimmt der Tessiner Ökonomie- und Sozialhistoriker Luigi Lorenzetti. Hier kondensiert der Gotthard zur kulturellen Brückenmetapher. Als Dach Europas imaginiert, verkommt er zur rein technisch-topografischen Bewältigung von Distanz durch seine Untertunnelungen – am deutlichsten durch den Gotthard-Basistunnel, welcher zwar Länder und Städte des Nordens und Südens verbindet, aber den Gotthard seiner Funktion als Ort der Kulturbegegnungen endgültig beraubt, weil das Hindernis nicht mehr Anlass zur Reflexion, sondern lediglich Vorwand zur maximalen Beschleunigung von Menschen und Gütern wird. In besonders ironischer Weise unterlaufen die literarischen Beiträge dieses zweiten Teils Heldenverehrung (Katharina Lanfranconi), Geschichtsträchtigkeit und Einmaligkeit des Gotthards (Arno Camenisch und Iso Camartin).
Dass selbst aus Tessiner Sicht die Bilanz in Bezug auf den Gotthard eher durchmischt, wenn nicht sogar negativ ausfällt, mag auf den ersten Blick zu Beginn des dritten Teils erstaunen. Doch der Alpenhistoriker Marco Marcacci zieht lediglich Lehren aus den technischen Erschliessungen des 19. und 20. Jahrhunderts für das 21. Jahrhundert. Wenn sich der Politologe und Politiker Nenad Stojanović erinnert, wie er in den 1990er-Jahren, als Flüchtling aus Sarajevo im Tessin angekommen, die Eishockeyspiele in Ambrì-Piotta erlebte und dabei neue Kategorien von Identitätszuschreibungen – jenseits von Konfessions- und Sprachzugehörigkeit – ausfindig macht, so formuliert er ein Plädoyer nicht an die Ausländer, sondern an die Schweizer, sich in die Realitäten der Schweiz zu integrieren. Der Alpenhistoriker Jon Mathieu unterstreicht, wie unterschiedlich die Innen- und Aussenperspektive auf die Alpen und insbesondere auf den Gotthard ausfallen können. Tendiert der urbane innenpolitische Diskurs dazu, die Alpen ganz zu ignorieren oder höchstens als alpine Brache zu vernachlässigen, gibt es eine Alpen-lobby, welche innerhalb der UNO aus dem Gebirge ein weltweites Thema macht, um damit der Schweiz in bestimmten Umweltfragen eine Führungsrolle zukommen zu lassen. Es ist an uns zu entscheiden, welcher Fraktion wir uns anschliessen wollen.
Die Alpen werden zur gleichen Zeit ideologisch aufgefaltet, in welcher sie technisch geglättet werden. Die Geschichtswissenschaft hat sich an der Überlagerung zweier Nationalmythen, am Gotthard zum einen als militärischem Réduit in der Wiege der Eidgenossenschaft, zum anderen als Transitort zwischen den Achsenmächten, weitgehend abgearbeitet, wie das Guy P. Marchal mit Rückgriff auf die ganze Vorgeschichte nachzeichnet. Dennoch ist die Symbolgeschichte des Gotthards nach 1945 erstaunlich unterbelichtet. Sie scheint zwar auf den ersten Blick von einer gewissen Kontinuität geprägt zu sein. Man kann also durchwegs von einer Fortsetzung des eidgenössischen Zentral- und des europäischen Transitmythos mit einer allmählichen Umlagerung von Deutungshoheit sprechen. Doch scheint sich kurz vor und mit der Eröffnung des Gotthard-Basistunnels eine verquere Symbolpolitik abzuzeichnen: Während sich eine tendenziell proeuropäische Fraktion mit der Alpeninitiative als Bewahrerin des Zentralmassivs herausstellt, fordert der konservativ-nationalistische Flügel im Verbund mit gewissen Interessenvertretern eine zweite Autobahntunnelröhre und damit noch eine erhöhte «Transitsogwirkung» (Hermann Burger) mitten durch die Schweiz.
Der Zeithistoriker Damir Skenderovic bringt Erstaunliches zu Tage: Just um das Jahr 2000, als man die mythologische Überhöhung historiografisch abgetragen zu haben vermeinte (Fichen-Affäre, Bergier-Bericht), wird der Gotthard durch die neue Rechte remystifiziert, indem diese wie in anderen europäischen Ländern historische Deutungshoheit – entgegen jeglichen wissenschaftlichen Standards – beansprucht. Viel einsichtiger wäre eigentlich eine Schweizer Geschichte der Immigration, welche mit dem Bau des Gotthard-Scheiteltunnels einsetzt und bis heute andauert. Spätestens an dieser Stelle wird klar, warum der Gotthard – so im dramatischen Szenario des Kulturwissenschaftlers Walter Leimgruber – ins Weltkulturerbe der immateriellen Güter aufgenommen werden muss, wogegen sich der personifizierte und materialisierte Gotthard auf den Malediven mächtig wehrt. Damit erhält der Betroffene – wie in den literarischen Einwürfen von Pirmin Meier und Matteo Terzaghi – eine eigene Stimme, um in die Fantasien einzustimmen.
Beiträge können manchmal auch unscheinbar sein, vor allem wenn es um die Finanzierung und Organisation eines so anspruchsvollen Vorhabens geht. Darum möchte ich mich bedanken für die grosszügige finanzielle Unterstützung durch die Albert Köchlin Stiftung und die Universität Luzern. Weitere Beiträge stammen vom Kanton Uri. Namentlich zu erwähnen sind Silvan Moosmüller, der innerhalb unseres Forschungsprojekts «Polyphonie und Stimmung» mit viel Bedacht und Beharrlichkeit mithalf, die Finanzierung zu sichern, Silvia Cavelti, welche alles Administrative und einiges darüber hinaus fristgerecht abzuwickeln wusste, Wiebke Suden und Hannes Weber, die mir beim Lektorat gewissenhaft über die Schultern schauten, und Madlaina Bundi, Simone Farner sowie Rafael Werner für die enge und professionelle Betreuung durch den Verlag. Der grösste Dank geht an die Beiträgerinnen und Beiträger, welche – im Unterschied zu anderen Publikationen – nicht einfach ihr Projekt hier platzieren konnten, sondern von mir gezielt für bestimmte Fragestellungen angegangen worden sind, damit der Band möglichst breit und kompetent den ganzen thematischen Fächer abdeckt.
INFRASTRUKTUR, NATUR
Gefährdete Gotthardpost
Literarische Abschweifungen in die schweizerische Katastrophenkultur
Peter Utz
Gefahr gehört zum Gotthard. Beim Passübergang erleben wir die Alpen aus der Nähe, nicht nur mit fernen, glänzenden Firnen, sondern auch mit Schneestürmen, Lawinen, Steinschlag oder Hochwasser. Gleichzeitig grossartige und gefährliche Bergwelt: So wird der Gotthard zum eigentlichen Pars pro Toto für die alpine Schweiz, zu einem Erlebnispark der Naturgefahren.
Das «Zitterthal» und die gefährdete Gotthardpost
Wohlig werden diese Schrecken, wenn man sie aus Distanz geniesst, etwa in der bekannten deutschen Familienzeitschrift Die Gartenlaube. Sie führt 1862 dem Leser in Bild und Text jene Gefahren vor Augen, die uns am Gotthard erwarten: eine Säumerkolonne im Kampf mit den Elementen, auf verschneitem, abschüssigem Weg (Abb. 1).
Die entsprechende Beschreibungsprosa greift ebenfalls voll in die Tasten:
«Da lauerte auf der einen Seite der gähnende Abgrund, ein zu lauter Ruf konnte auf der andern die schlafende Lawine wecken, daß sie mit Donnergebrüll niederstürzte vom schwindelnden Hange und in ihrem rasenden Anpralle Roß und Reiter mit sich durch die Luft wirbelte, […]; oder es kamen langsam, in weiten wallenden grauen Talaren, die Nebelgeister herauf gewallt aus den unergründlich tiefen Schluchten des Gebirgs, umspannten den Verwegenen, der es gewagt, ihr Revier zu betreten, mit ihren trügerischen Schleiern, bis sein strauchelnder Fuß […] hinaustrat in’s Leere, und Roß und Reiter zerschellend auf’s unsichtbare Felsenbette hinunterstürzten.»1
Mythische Kräfte, resistent gegen alle Aufklärung, herrschen in der Bergwelt, sodass etwa das «Tremola-Tal» den Namen «Zitterthal» zu Recht verdiene.2 In den Süden führt nur eine Geisterbahn ohne Notausgang.
1 «Ein Zug Saumthiere vom Schneesturm überfallen.» Originalzeichnung von H. Jenny. Die Gartenlaube (1862).
Das Ende dieses heroischen Zeitalters ist jedoch abzusehen. Die Gotthardpost, die Rudolf Koller noch 1873 mit seinem Bild genau in der Tremola feiert, ist schon bei ihrem Entstehen überholt. Denn tief unter den Strassenwindungen arbeiten bereits die Mineure am Bahntunnel. Mit seiner Eröffnung 1882 wird Kollers Kutsche erst recht zum Nostalgiebild. Doch es enthält in sich schon jene Spannungen, in welchen das alpin geprägte Selbstbild der Schweiz mit der Dynamik des Fortschritts kollidiert. Darauf hat Peter von Matt mit seinem Buch Das Kalb vor der Gotthardpost brillant aufmerksam gemacht.3 In seiner Deutung steht jenes Kalb, das von der fünfspännigen Kutsche in den Abgrund gedrängt zu werden droht, für die Bedrohung, welche in der Dynamik des Fortschritts selbst steckt. Die Postkutsche Kollers ist eigentlich schon jener Schnellzug, der sie dann endgültig verdrängen wird.
Auch die Literatur artikuliert die inneren Widersprüche und Ungleichzeitigkeiten in den Selbstbildern der Schweiz, gerade am Gotthard. Das soll hier an einigen literarischen Zeugnissen exemplarisch aufgezeigt werden. Denn während der Gotthard zum Zentralsymbol der helvetischen Identität aufgefaltet wird, wird er gleichzeitig technisch unterminiert und durchstossen.4 Zudem durchquert die neue Eisenbahnlinie auch jene Landschaft, die man bald darauf zur Kernfestung des militärischen Réduits ausbaut. Die europäische Brückenfunktion des Alpenpasses, der ins Zentrum des europäischen Verkehrsnetzes rückt, trifft direkt auf die ideologische und militärische Einigelungstendenz der Schweiz im 20. Jahrhundert. Dabei beruft man sich wiederum auf die Gründungsgeschichte der Schweiz, die ihrerseits in sich den Widerspruch von Abschottung und Öffnung enthält. Denn sie wird historisch aus den besonderen Bedingungen des aufkommenden spätmittelalterlichen Transitverkehrs abgeleitet. Kein Rütlischwur ohne den Saumweg über den Gotthard, auf den die Habsburger ihr eifersüchtiges Auge geworfen haben, lautet diese Gründungserzählung. Freiheit ist die Freiheit, über den Gotthard zu verfügen.
Am Gotthard treffen also mit der Eröffnung des Eisenbahntunnels Diskurse des technischen Fortschritts und der patriotischen Mythologie aufeinander. Ihr gemeinsamer Nenner ist das Motiv der Gefahr. Schon Schiller stellt in seinem Wilhelm Tell 1804 die Innerschweizer Idylle als doppelt gefährdet dar, durch die fremden Vögte und die drohenden Lawinen oder den rasenden See. Im Rütlischwur wird die «Gefahr» zur eigentlichen gemeinschaftsbildenden Kraft: «Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern / In keiner Noth uns trennen und Gefahr.»5 In dieser Formel klingt nicht nur ein Grundpostulat der Französischen Revolution an. Wirkungsmächtig wird sie in der Schweiz besonders deshalb, weil sie die Bildung einer Solidargemeinschaft aus einer Bedrohungslage heraus motiviert, die sowohl eine politisch-militärische wie eine der Natur sein kann.
Die schweizerische «Katastrophenkultur» und Carl Spittelers Gedankendynamit
Daraus hat sich in der Schweiz seit dem 19. Jahrhundert eine eigentliche helvetische «Katastrophenkultur» entwickelt.6 Die plurikulturelle Schweiz, die – anders als die meisten europäischen Staaten – ihren inneren Zusammenhalt nicht in Kriegen gegen aussen aushärten kann, beweist bei Erdrutschen, Überflutungen oder Lawinenkatastrophen ihr Existenzrecht als «Schicksalsgemeinschaft» unter den Alpen, zu denen sie von allen Seiten aufblickt. Und in breiten Spendenaktionen kann sie ihre Solidarität als «Willensnation» einüben, ein erstes Mal beim Bergsturz von Arth-Goldau von 1806, der über 400 Opfer fordert und eine topografische Kernzelle der Schweiz trifft. Die Idylle wird zum Katastrophengebiet. Erstmals wird eine gesamtschweizerische Hilfsaktion gestartet, die alle Landesteile erfasst. Der friedliche Spendenwettbewerb überbrückt politische, soziale und konfessionelle Gegensätze, und gerade die städtischen Gebiete können mit ihrem Beitrag die virtuelle Zugehörigkeit zur Alpenschweiz beglaubigen, der sie ökonomisch eigentlich bereits den Rücken zuwenden. Diese «Katastrophenkultur» wird in der Schweiz zum Kulturgut: auf die Liste des «immateriellen Kulturerbes der Schweiz» zuhanden der UNESCO hat der Bundesrat 2014 den Umgang mit der Lawinengefahr an die erste Stelle gesetzt.
Der Bau der Gotthardbahn ist in diesem Zusammenhang zu sehen: Einerseits ist der Gotthardtunnel selbst eine effiziente Massnahme, um den Alpenübergang vor den Naturgefahren zu sichern. Andererseits setzt die Bahn auf den Zufahrtsstrecken zum Scheiteltunnel die Reisenden und Güter, die sie nun in Massen in die Alpenwelt hineinsaugt, diesen Gefahren gerade aus. Gleichzeitig behauptet sie, dagegen alle nötigen technischen Vorkehrungen treffen zu können. Sie setzt also im Kampf gegen die Naturgefahren ganz auf den technischen Fortschritt. Dies wirft jedoch eine Reihe von Fragen auf: Wie verträgt sich dieser Triumph des Fortschritts mit den Gründungsmythen der Schweiz, die er eigentlich im Wortsinn unterminiert? Wird nun ein heroisches Techniknarrativ an die Stelle des militärisch geprägten Gründungsnarrativs gesetzt? Ist dieses Narrativ mit jenem gemeinschaftlich-solidarischen Sozialmodell kompatibel, das die Katastrophenkultur generiert? Welche Rolle spielen dabei die Alpen, der häufig personifiziert auftretende «Berg»? Ist er der älteste Verbündete der Schweiz, im Sinn des Réduits, oder der Gegner, den man mit der Technik besiegt?
Diese Widersprüche und Spannungen werden auch in der Literatur ausgetragen. Dabei werden sie nach aussen gestülpt, werden sichtbar und reflektierbar. Sie vermittelt diese Widersprüche an ihr Publikum, das ja meist im urbanen Flachland angesiedelt ist, und bindet dieses so zurück an die Alpenschweiz und ihre Katastrophenkultur, in die sie immer wieder abschweift. Ein erstes Beispiel dafür liefert Carl Spitteler. Er verfasst im Auftrag der Gotthardbahngesellschaft 1896 das Buch Der Gotthard – der erste bekannt gewordene Reklameauftrag an einen Schweizer Schriftsteller.7 Das Buch ist in zwei Hauptteile gegliedert, von denen nur der erste den Auftrag direkt reflektiert: «Mit der Eisenbahn» und «Zu Fuß». Der Fahrt mit der Gotthardbahn, in deren Auftrag Spitteler ja schreibt, wird die archaische Fusswanderung in der Gotthard-Region gegenübergestellt, die den dichterischen Journalisten erst richtig an die harte Natur und ihre archaischen Gefahren heranführt. Fast wie die Gartenlaube beschwört Spitteler herauf, wie eine Fahrt über den Pass früher eine «dreitägige Schlacht des wehrlosen Menschen mit der Natur, die heimtückisch aus dem Hinterhalte droht» (S. 145) gewesen sei. Diese Bedrohung ist auch durch die Eisenbahn nicht gelöscht: Im Zentrum des Buchs rückt ein erstaunlicher Exkurs über das 1895 von einer Lawine verschüttete Airolo die Naturgefahren ganz dicht an die neue Bahnstrecke und an den Leser heran.
Gegenüber diesen breit ausgemalten Katastrophenszenarien bleibt Spitteler beim Gotthardtunnel selbst erstaunlich wortkarg. Ja, die «erhabenste Tunnelnacht» scheint sich kaum zu unterscheiden von einer banalen «Kellernacht». Kein Gedanke an die heroischen Erbauer des Tunnels, wie man sie später auch literarisch immer wieder feiern wird. Um sich selbst Angst zu machen, und damit die Tunnelquerung doch noch zu einem Ereignis würde, muss man sich schon eine Katastrophe imaginieren:
«‹Was geschähe jetzt, wenn jetzt –? Eine Entgleisung mitten im Tunnel zum Beispiel –› oder, wie jene Bäuerin meinte, ‹wenn sich der Zug unter der Erde ‹verirrte›, so daß er statt nach Italien gegen Österreich führe und unterwegs stecken bliebe, daß man ihn ausgraben müßte wie der Dachs in der Höhle?›» (S. 44)
Eigentlich hat der Tunnel die Schrecken des Berges beseitigt. So braucht es eine schon dichterische Fantasie, ein «Was wäre wenn …», um dem Tunnel-Thema noch neue Schrecken abzugewinnen. Friedrich Dürrenmatt wird dieses Szenario 60 Jahre später in seiner Novelle Der Tunnel zu Ende denken, in der ein Zug aus der helvetischen Fahrplan-Topografie heraus dem Erdinnern entgegenstürzt. Eine andere fantastische Abzweigung wird Hermann Burger wählen, die sogar nach Österreich führt. Jedenfalls scheint der Banalität des Tunnelerlebnisses nur eine Katastrophenfantasie beizukommen, mit der jedoch auch Spittelers Text selbst definitiv von seinem Auftragsgleis abkommen würde.
So taucht der Text die Gotthardbahn trotz allen guten Reklamevorsätzen in ein merkwürdiges Zwielicht: Sie führt uns zwar elegant ins Herz der Gotthard-Landschaft hinein, doch droht sie mit den alpinen Gefahren auch deren besondere Erlebnisqualität zu beseitigen. Darum sucht der Text imaginativ die Faszination der Katastrophe, ohne aber deren Solidaritätskontribution zu verlangen. Ohnehin kommen in Spittelers Text keine schweizerisch-nationalen Gefühle auf, wie sie 50 Jahre später beim gleichen Thema obligatorisch wären. Im Gegenteil: Auf dem Gotthard weiss man sich «mehr in Europa als überall sonst.» (S. 12) Euphorisch wird Spitteler nur, wenn er jenen Süden heraufbeschwört, den man dank dem Tunnel nun schneller erreicht.
Die Alpen dagegen haben für Spitteler letztlich keinen Eigenwert. Das sagt er in diesem Buch aber nicht explizit. Nur seinem Freund Joseph Viktor Widmann schreibt Spitteler:
«Ich hasse im Grunde die Berge, weil sie kälten und dem Himmel, also der Lichtkugel Stücke wegfressen, den Horizont verringern […]. A propos Gotthard u. meine alpine Natur: meine Lieblingsphantasie ist jetzt, den Gotthard mit allen Alpen mit Dynamit in die Luft zu sprengen auf die andere Seite, gegen Norden, damit wir italiänische Luft direct bekämen.»8
Als Tunnelbauer eigenen Rechts hantiert hier der spätere Nobelpreisträger ganz unbefangen mit jenem Gedankendynamit, das ihm nur als Dichter in unbegrenzter Menge zur Verfügung steht.