Kitabı oku: «Gotthardfantasien», sayfa 4

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Carl Spitteler 1897

Im Jahr 1897 erschien ein Streckenbeschrieb aus der Feder des Schriftstellers Carl Spitteler. Ihm war dieser Text über den Gotthard eher peinlich. Es handelte sich um eine Auftragsarbeit für die Betreibergesellschaft der Bahnstrecke, die das Büchlein als Marketing-Gag in die Bibliotheken aller Ozeandampfer gab. Spittelers Schrift hat so die Elite der entstehenden Weltgesellschaft gut auf den Gotthard aufmerksam gemacht. Sie war randvoll mit kulturhistorischen Betrachtungen und stellte die alte Kutschenfahrt auf der Gotthardstrecke der neuen Eisenbahnfahrt entgegen. Spitteler machte sich ganz fein über den Fortschrittsglauben seiner Zeit lustig. Er schrieb zu dem Streckenabschnitt um Wassen:

«Von Gurtnellen an ist es weniger die Grossartigkeit der Natur als diejenige der Bahnkonstruktion, welche die Aufmerksamkeit beansprucht. Nicht zwar, dass es an Naturschönheiten gebräche; wie wäre das auch überhaupt am Gotthard möglich?[…] Allein die Überraschungen treten von nun an nicht mehr in fortlaufender Kette, sondern vereinzelt in längeren Zwischenräumen auf. Dazu kommt die Verwöhnung der Aufnahmefähigkeit. Denn diese hat Grenze; sie heisst Ermüdung[…]. Was nun die berühmten Kehrtunnels betrifft, soll ich die tausendundeinmal beschriebenen zum tausendundzweiten Mal beschreiben? Die verblüffenden Wurmwindungen der Fahrt? Das rastlose Hin- und Hersuchen der Lokomotive talauf und talab, als hätte sie ihr Schnupftuch verloren?[…] Das verwunschene und verwünschte Kirchlein von Wassen, das mit uns Fangmaus spielt, jetzt uns mit wehmütigem Scheidegruss nachblickend, um ein Viertelstündchen später uns unversehens den Kirchturm entgegenzustrecken, spöttisch und triumphierend: ‹Ich bin schon da!›»11

Spitteler wusste, dass die Arsenale der touristischen Anziehungskraft in der mittelalterlichen Geschichte, in den kulturellen Traditionen und in der Erhabenheit der Landschaft lagen, und er bediente die Erwartung seiner Leserschaft gekonnt. Touristen wollen die originalen Schauplätze der historischen Ereignisse besuchen, unverbrauchte traditionelle Lebensformen kennenlernen oder spektakuläre Landschaften geniessen.12 Gerade der Gotthardpass ist seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert als ein Ort von einmaliger Kraft beschrieben worden. So hielt zum Beispiel der Dichter Wilhelm Heinse in den 1780er-Jahren in seinem Tagebuch über das Gefühl auf der Passhöhe fest: «Ich habe den Anfang und das Ende der Welt gesehen […] Dies Anschauen war das Anschauen Gottes, der Natur ohne Hülle, in ihrer jungfräulichen Gestalt.»13 Solche literarischen Zeugnisse vom Gotthard sind vielfach überliefert.14

Oft ist die Mühsal des Zugangs zu den bedeutsamen Orten wie der Schöllenenschlucht oder der Passhöhe des St. Gotthard als wesentlicher Teil ihrer Ausserordentlichkeit betrachtet worden. Bequem in der Bahn zu ihnen zu reisen, galt als unzulässig. Als beispielsweise in den 1890er-Jahren das Projekt einer Jungfraubahn diskutiert wurde, stand umgehend die Frage im Raum, ob durch die technische Erschliessung der «Nimbus des Berges» zerstört werde.15 Mit den Alpenbahnen ging eine tiefgreifende Landschaftsveränderung einher. Das neue Transportmittel passte sich den landschaftlichen Verhältnissen dadurch an, dass es diese nach rein technischen Notwendigkeiten umgestaltete und vereinheitlichte. Das dominierende Prinzip des Streckenbaus war dabei die gerade Linie. Wo Hügel und Berge die relativ geringe Traktionsstärke der Lokomotiven zu einem Problem werden liessen, bohrte man Tunnel, grub Einschnitte oder schüttete Dämme auf. Ein neuartiges Instrumentarium der Trassenbaukunst entwickelte sich, dem es bald gelang, die nur schwer reduzierbaren Kurvenradien auch in engen Tälern zu platzieren.16 Zwischen die natürlich gewachsene topografische Form und den mobilen Aufenthaltsraum der Fahrgäste schob sich ein Gefüge von geometrischen Elementen, das die Eisenbahnfahrt gewissermassen vom lokalen Boden abstrahierte.

An der Eisenbahn entzündete sich eine Debatte über den vermeintlichen Verlust des ästhetischen Genusses. Das geschah vor dem Hintergrund eines etablierten Kanons standardisierter Sehenswürdigkeiten, die unter den neuen Transportbedingungen nicht mehr in der klassischen Art konsumierbar waren. Die Eisenbahn brachte ein funktionierendes Wahrnehmungssystem in Unordnung. Die alten Vorbilder und Standardblicke mussten durch neue ersetzt werden, damit sich beim Betrachter wiederum das Gefühl der Authentizität einstellte, nach der er suchte.17 Am Gotthard wurden die Teufelsbrücke und die Passhöhe ersetzt durch den neuen Eisenbahntunnel und durch die Kirche von Wassen.

Die Geschichte der modernen Transportinfrastruktur ist voll solcher bildhafter Marker, die ästhetische Korrespondenzen an die Stelle setzten, wo die Technik einen Schnitt zwischen den Reisenden und der durchreisten Landschaft vollzog.18 Diese Marker zeichneten sich dadurch aus, dass sie in einer standardisierten, gleichförmigen Art lokale Besonderheiten betonten. Ein augenfälliges Beispiel für die visuelle Möblierung des Eisenbahnraumes waren die Hinweisschilder, die in grossen Buchstaben an den Bahnhöfen den Namen des betreffenden Ortes angaben, sodass man sich auch aus schnell fahrenden Zügen orientieren konnte. Das System wurde im 20. Jahrhundert für den Strassenverkehr und die Automobilisten übernommen. Seither gibt es Ortstafeln. So wussten die Reisenden, wo sie gerade waren, wenn sie sich nicht bei den Einwohnerinnen und Einwohnern erkundigen konnten. Als Marker dienten auch Landkarten und Pläne, aus denen die Abfolge der Ortschaften leicht zu entnehmen war. Und auch die Reiseführer und die literarischen Reisebeschriebe funktionierten in diesem Sinne als Orientierungshilfen.

Carl Spitteler war beim Schreiben seines Reiseführers zur Gotthardstrecke im Jahr 1897 noch weit entfernt von der Industrialisierung des Reiseerlebnisses, wie wir es heute kennen. Er spürte jedoch die Kluft, die sich zwischen der Ästhetik und der Technik auftat. Er fand seine Schrift über die Gotthard-Reise künstlerisch unbefriedigend und verhinderte ihre Veröffentlichung.

Fridolin Becker 1908

Zehn Jahre nach Carl Spitteler verfasste ein Professor für Kartografie und Geografie an der ETH Zürich, Fridolin Becker, im Rahmen einer Serie von Bahnführern eine Beschreibung der Gotthard-Strecke. Die Reihe hatte den programmatischen Titel «Rechts und Links der Eisenbahn!».19

Die Serie aus Gotha deckte alle Eisenbahnen zwischen Mailand und St. Petersburg ab. Jede Streckenbeschreibung wurde mit einem knappen Hinweis «an den lesenden Eisenbahnfahrer» eröffnet, der die besondere Absicht der Publikationen im Unterschied zu anderen Reiseführern erklärte: Sie fokussierte nicht auf die Reiseziele, sondern auf die Reisewege selbst. Die Narration orientierte sich streng an der Abfolge der Reisestationen, und um möglichst unmissverständliche Korrespondenzen zu erzeugen, wurde eigens der Hinweis gemacht: «Die Bezeichnungen rechts und links gelten im Sinn der Fahrtrichtung und sind von rückwärts Sitzenden zu vertauschen.»20 Die Textsammlung war ganz auf Reproduzierbarkeit angelegt. Das Stakkato der Dampflokomotiven wiederholte sich in der schnellen Folge einzelner Lokalitäten, die in den Streckenbeschreibungen abgespult wurden. Es fand sein Echo nicht nur im Betrieb der dampfgetriebenen Druckmaschinen, die die Hefte in einer grossen Auflage produzierten, sondern auch in den vielen Nummern der Reihe, die nach dem gleichen Muster unterschiedliche Strecken abhandelten. Und die Wiederholung fand auch in den tausendfachen Aktualisierungen der Sichtvorgabe durch die Fahrgäste im Zug statt, die mit den Büchlein in der Hand unterwegs waren.

Die Königsstrecke des europäischen Netzes war dabei die Gotthardbahn. Mit Heft 73 in der Hand konnte der technisch bezwungene Alpenpass wieder zum landschaftlichen Erlebnis werden. Becker ging ausführlich auf das Arrangement mit den drei Sichtpunkten auf die Kirche von Wassen ein und setzte einen Bezugspunkt voran: den Kirchbergtunnel, während dessen Durchfahrt naturgemäss nur schwarze Wände zu sehen waren, der aber durch den Text mit einer grossen visuellen Bedeutung aufgeladen wurde. Auch der folgende Tunnel war Gegenstand von Beckers Anleitung: «Nun wendet die Bahn im 1090 m langen Wattingertunnel in einem halben Kreis im Berge herum, ohne dass wir das, wenn wir wenigstens nicht die Nadel eines Kompasses verfolgen oder ein Lot beobachten, das uns zeigt, dass der Bahnwagen sich etwas nach rechts hinüber neigt – während der Fahrt, beachten.»21 Das kleine Experiment, das darin bestand, zum Beispiel ein Taschenmesser im Fahrgastraum aufzuhängen, zeigte, dass sich der Eisenbahnwagen nicht auf seiner normalen Gerade, sondern in einer Kurve bewegte, die ein Tribut an die zu überquerenden Berge war. An der Neigung des Lotes konnte die Gestalt der durchfahrenen Landschaft abgelesen werden – eine fast naturwissenschaftliche, laborähnliche Umwelterfahrung.22

Die Anweisungen waren überaus präzise. Mit dem Richtungswechsel im Tunnel ging jeweils auch ein Seitenwechsel für die privilegierte Aussicht einher, den Fridolin Becker mit der Aufforderung «links sitzen» kommentierte. Nur von der richtigen Seite im Zugabteil aus konnte man sich nach dem Durchfahren des Reigens von Tunnel und Brücken bei Wassen im Blick zurück eine Übersicht verschaffen – die dank dem Hinweis des Reiseführers auf die Kirche von Wassen als Orientierungspunkt nie ganz verloren gegangen war. Becker schloss seine Beschreibung des Streckenabschnitts mit dem Satz ab: «Gut, dass wir uns wieder etwas von dem Geschauten erholen können, es war fast zu viel.» Ab Göschenen entliess der Ingenieur seine nach Süden reisende Leserschaft in die Ruhe des Gotthardtunnels: «Wir lehnen in die Ecke und träumen.»23

Landschaftsinszenierung im industrialisierten Tourismus

Die Kirche von Wassen ist im Zeitalter der Industrialisierung des touristischen Transports zum einem Anker für das individuelle Erlebnis von Naturschönheiten geworden, das in der «Belle Epoque» wegen der Industrialisierung des Reisens als bedroht galt. Das Aufkommen des modernen Tourismus war begleitet von einem elitären Diskurs, der dem industrialisierten Reisen im Grunde den Erlebniswert absprach. Die technische Infrastruktur ebnete im Urteil der Kritiker beim Reisen die soziale Distinktion unter den Fahrgästen ein. Ihre individuellen Charakterzüge verschwanden ebenso wie die landschaftlichen Besonderheiten. In der physischen Topografie gab es deshalb keine metaphysische Transzendenz mehr zu spüren. Das wurde bald als weltweiter Vorgang beklagt. Die Autobahnen, die düsengetriebenen Passagierflugzeuge, die Flughäfen und die internationalen Hotelketten machten im Urteil der späteren Kulturkritiker die Problematik der Eisenbahnreise zu einem globalen Thema.24

Diesem Diskurs lag ein elitärer Erlebnisbegriff zugrunde, der in seinen feinen Differenzierungen jünger ist als der industrialisierte Transport. Das Erlebnis wurde als psychische Kategorie im ausgehenden 19. Jahrhundert von Wilhelm Dilthey entworfen, von Edmund Husserl in seiner phänomenologischen Analyse des Bewusstseins verfeinert und von Georg Simmel am Begriff des Abenteuers weiter ausgeführt. Der Begriff des Erlebnisses zielt auf zentrale Elemente der subjektiven Wahrnehmung, die nicht im Raum individueller Reflexion aufgehen, sondern mit dem zeitlichen Stattfinden eines bestimmten Ereignisses verbunden sind. Ein individuelles Erlebnis ist in diesem Sinne notwendigerweise selbsterlebt, es kann also nur durch die direkte Teilnahme am Geschehen stattfinden; es eröffnet der erlebenden Person einen Augenblick des Zugangs zum Ganzen des sie umgebenden Lebens; und es geht in die Erinnerung ein, von wo es in Verbindung mit anderen Erlebnissen der erlebenden Person eine zeitüberdauernde Identität verleiht.25 Ein solches Erlebnis kann zwar anderen Personen erzählt werden, es wird dann aber reflexiv verarbeitet und ist somit gerade nicht mehr unmittelbar erlebt. Ein Erlebnis ist aus diesem Grunde prinzipiell nicht reproduzierbar, sondern immer einzigartig.26

Das Erlebnis muss bedroht scheinen, wenn es auf die Geschäftspraktiken von Unternehmen wie der Gotthardbahn stösst. Denn es nährt sich aus einer einzigartigen Konstellation von Zeit und Raum und widerspricht der Kommerzialisierung. Der Tourismus schloss dagegen nicht nur eine vielköpfige Menge von Reisenden zu einem Erlebniskollektiv zusammen, sondern machte deren möglichen Erlebnishorizont auch von technischen Bedingungen abhängig. An diesem Punkt, der Vernichtung der Individualität, setzte Hans Magnus Enzensberger an, als er die moderne Reise als Montage einer fixen Anzahl genormter Höhepunkte zu einem industriell gefertigten Serienprodukt beschrieb und aus dieser Analyse schloss, die derart rationell organisierte Verfrachtung von erlebnishungrigen Menschen habe dem spontanen oder authentische Erlebnis den Boden entzogen. Zugespitzt formulierte er: Die Einzigartigkeit, die im Reisen gesucht werde, könne niemals an einem Bahnhof beginnen, denn dort steige die technisierte Massengesellschaft immer mit in den Eisenbahnwagen ein.27

Der Blick auf die Kirche von Wassen und auf die Nordrampe des Gotthards zeigt hingegen, dass vielfältige Vorkehrungen getroffen worden sind, um den Eisenbahnreisenden ein Erlebnis zu ermöglichen. Dreimal die Kirche von Wassen zu sehen und ein Sackmesser als Lot im Zugabteil aufzuhängen – das ist lange ein Element der staatsbürgerlichen Bildung gewesen und war ein wesentlicher Vorgang für die Verankerung des Gotthards im nationalen Symbolhaushalt der Schweiz.

Der Blick auf alte Reiseführer zeigt, dass Landschaften wie jene des Gotthards in der industriellen Moderne konsequent mit visuellen Markern ausgestattet worden sind. Die Kirche von Wassen machte bei dieser Inszenierung der Landschaft den Anfang. Je weiter die Industrialisierung des Reisens seither gedeiht, umso ferner rückt die physische Topografie und umso wichtiger werden die Hinweisschilder. Mit der Neuen Eisenbahn-Alpentransversale (NEAT) entsteht eine direkte Verbindung zwischen Erstfeld und Biasca, auf der die Fahrgäste von der Schöllenenschlucht, von der Passhöhe des St. Gotthard oder von der Kirche von Wassen nichts mehr mitbekommen. Aber die Fiktion der Authentizität wird auch unter diesen Bedingungen erhalten bleiben. Man kann gespannt sein, welche neuen Marker künftig gesetzt werden.

Michael van Orsouw
Ab nach Paradiso – Ein Reisebericht

Hinwil – Thalwil – Oberwil

– Hunger hani.

– Hesch de Chueche scho gässe?

– Simmer scho e Schtund gfahre?

– Mindischtens. I zwee Schtund simmer z’Lugano.

– I dem Neigezug wird’s mier immer e chli schlächt. Ich wirde seechrank.

Rigi – Mythen – Gitschen

– Ouh, hesch gschtämpfled?

– Ich bi nümme im Alter, wo me schtämpfeled …!

– Abgschtämpfled meini dänk.

– Klar. Ich fahre nid s’erscht Mol is Tessin.

Nebel – Regen – Wolken

– S’Poschtauto fahrt nume bis zur Talschtation.

– Det simmer au scho gsy, weisch no? Mit em Bruno. Isch aber lang här.

– Aber mer hed so wenig Ziit zum Umschtiige.

Fronalpstock – Chaiserstock – Wanderstock

– Wieso hemmer do kei Empfang?

– Hesch Swisskomm oder Sonnreis?

– Schiis Tunnel.

Zugersee – Lauerzersee – Urnersee

– I dem Grotto dete gits im Fall au Gschnätzlets.

– Isch aber e chli wiit im Tal hinne.

– Macht nüt, ich ha s’Ge-Aa. Das Grotto isch ebe au günschtig.

– Polänta hani mega gärn.

Galerien – Autobahn – Tunnels

– Mier isch langwiilig.

– Hed är scho zrugg gschribe?

– Chumm, mier schicked es Föteli.

– Vu was?

– Vu üs im Zug.

Breganzona – Berzona – Bellinzona

– Äntlich Sunne! Mis Härz gohd uf.

– Ich cha grad anderscht schnuufe.

– Aber es isch au scho umgekehrt gsy.

Gribbio – Stabio – Morbio

– D’Reis isch scho e chli aaschträngend.

– Ich muess ufs We-Ze. Aber ich verheb’s, wil’s amigs eso gruusig isch.

– Lueg emol, sovill Schtei.

– Do chasch jo grad go chiise.

Cavallino – Caprino – Riazzino

– Und dette, die Marronibäum!

– Und die Farbe.

– De Cämpingplatz liid au nid grad schön.

– Ich chumme grad Luscht über uf en Espresso.

– Oder uf Schpaghetti!

Prossima fermata: Lugano. Cambiare al Paradiso.

Die neuen Postillione
Erzählpassagen am Gotthard

Alexander Honold

Seit spätestens Mitte des 18. Jahrhunderts stellt die von den Hauptkämmen der Alpen gebildete, geografisch weitgehend in west-östlicher Richtung verlaufende Gebirgsbarriere nicht mehr nur eine landschaftstopografische Herausforderung dar.1 Sie markiert auch und vor allem eine produktive Grenzlinie des kulturellen Imaginären, die Mitteleuropa von den Sehnsuchtsorten Italiens in einer so elementaren Weise trennt, wie die Kälte von der Wärme geschieden ist, die Nacht von der taghellen Sonne, das falsche Leben vom richtigen. Der Gotthard erhält so eine Schwellenfunktion.

Gerade die grossen Alpenpässe können als nochmals verdichtete und gesteigerte Form dieses Spannungsverhältnisses aus Verharrungskraft und Dynamik betrachtet werden, sind sie doch Schwellenorte par excellence. Die Gotthard-Region scheint mehr als andere solcher Passierstellen aus Sicht der Reisenden zu einer gewissen Eigenwilligkeit und Querständigkeit zu tendieren; die auf dieser Strecke liegenden Talschaften sind keineswegs geschaffen oder bereit, ganz und gar in dem Zweck ihrer raschen Durchquerung und Überwindung aufzugehen.

Durchbruch am Berg

Der Bau der Gotthard-Eisenbahn Ende des 19. Jahrhunderts, eine der ingenieurstechnischen Grosstaten des industriellen Zeitalters, hatte diese Bergregionen in fundamentaler Weise umgestaltet. Da rückte ein Gebiet plötzlich in den Mittelpunkt des Interesses von internationalen Politikern und Bankiers, das sich ja immer schon in der Mitte Europas befunden hatte, auch wenn es sich über lange Zeiten hinweg arg abgeschnitten vorgekommen war. Von den Szenen, die sich beim Bahnbau zwischen 1872 und 1882 abspielten, berichtet Martin Stadler im bebilderten Prosaband Die neuen Postillione. Gemeint sind mit diesen «neuen Postillionen» die Boten des Eisenbahnzeitalters, die den alten Saumweg über den Gotthard nicht mehr benötigten, sondern nun durch den neuen und rekordlangen Tunnel ganz reibungslos binnen Minuten ins Tessin gelangten.

Immer vehementer war in den Jahrzehnten davor die Frage eines Alpendurchstichs für die Eisenbahn erörtert worden, welcher als die konsequente Folge einer überregionalen Verkehrsplanung erschien. Neben dem Gotthard waren auch andere Pässe für die Trassenführung der Bahn im Gespräch, etwa der Simplon oder der Splügen, für den sich vor allem der Bündner Politiker und Ingenieur Simeon Bavier mit Nachdruck einsetzte. Die Priorisierung des Gotthards ging letztlich auf das Betreiben des Zürcher Unternehmers Alfred Escher zurück, der nach seinem Wechsel an die Spitze dieses Bauprojektes 1873 mit dem bekannten Koller-Gemälde von der Gotthardpost geehrt wurde,2 das nochmals eine Szenerie leuchten lässt, die nun bald der Vergangenheit angehören würde.

Der Genfer Unternehmer Louis Favre hatte die Auftragsvergabe für den Tunneldurchstich nicht nur deshalb erhalten weil er als «Fachmann des Tunnelbaus galt», sondern vor allem, weil er niedrige Gesamtkosten und eine Bauzeit von nur acht Jahren kalkuliert hatte (was allerdings dann faktisch nicht eingehalten werden konnte). In den 1870er- und 1880er-Jahren kam ein gewaltiger Aufschwung ins Tal: «Baustellen schossen aus dem Boden, das Handwerk blühte, die Steinbrüche des Reusstales fanden Kunden, Transporte waren nötig, die Beizen machten erhöhte Umsätze, Arbeiter brauchten Unterkünfte.»3 Es entspann sich offenbar seinerzeit eine ganz ähnlich überhitzte und kurzatmige Betriebsamkeit, wie sie die Schriftstellerin Zora del Buono für die jüngste Bautätigkeit im Rahmen des NEAT-Tunnelbaus in ihrer 2015 vorgelegten Novelle Gotthard schildert. Dort memoriert einer der Protagonisten, ein Enthusiast der Eisenbahn und ihrer Geschichte mit dem sprechenden Namen «Bergundthal», unablässig die magischen Gedenkzahlen des früheren, nun schon 140 Jahre zurückliegenden Tunnelbaus und der späteren Durchstiche. «199,19,8»; «199 umgekommene Arbeiter waren es beim Eisenbahntunnel gewesen, 19 beim Autotunnel, und bislang 8 auf der aktuellen Baustelle.»4

Für die schwungvoll angetretenen Protagonisten brachte der Tunnelbau wenig Glück. Louis Favre verstarb 1879, also noch vor dem Durchstich im Februar 1880, und Alfred Escher musste später angesichts eines nicht mehr zu korrigierenden Defizits seiner Gotthardbahn-Gesellschaft deren Vorsitz niederlegen. Als 1882 dann die Strecke mit dem neuen Tunnel fertig war – nach gerade einmal 10-jähriger Bauzeit, was aus heutiger Perspektive durchaus Respekt abnötigt –, zeigte sich die Erfolgsbilanz keineswegs ungetrübt. Ausgerechnet Simeon Bavier, der selbst lange und mit guten Argumenten gegen diese Linie gekämpft hatte, musste, mittlerweile zum Bundespräsidenten der Schweiz avanciert, am 22. Mai 1882 die Gotthard-Eisenbahn im Beisein internationaler Staatsmänner und Ehrengäste feierlich eröffnen. In Luzern fand aus diesem Anlass ein festliches Bankett statt, bei welchem – auch dies ein Rekord eigener Art – «siebenhundert Personen in einem Hotel ein gemeinsames Diner verzehrten».5 Und Stadler ergänzt: «Arbeiter waren keine anwesend an dem rauschenden Feste. Mit ihnen fehlten die Schiffer, Säumer, Karrer, Kutscher und Handwerker der Gotthardroute, die an diesem Tage ihre wirtschaftliche Existenz einbüssten.»

Auf eine sozialgeschichtlich signifikante und politisch bedenkliche Weise begann sich schon vor der Inbetriebnahme des Bahntunnels mit jener Jubelfeier der Auserwählten eine Scheidung zwischen materiellem Transportweg und logistischer Kommunikationsführung zu etablieren. Die mit der raschen Bergdurchquerung ermöglichte Abstraktionsleistung erlaubte es den Reisenden, die hochalpine Engstelle, Wasserscheide und Sprachgrenze hinfort nur mehr als eine vorbeisausende Kulissenwelt wahrzunehmen. Künftig würde die Welt nicht mehr in Gebiete dies- und jenseits des Bergkamms zerfallen, sondern sich an der funktionalen Trennung zwischen topografischer Bindung und nichtterritorialen Verkehrsströmen ausrichten.

Nun galt es, sich entlang der in Rekordzeit passierbar gewordenen Bergstrecken auf neuartige Weise an eine phänotypische Widersprüchlichkeit des Reisens selbst zu gewöhnen, bedeutete doch die möglichst reibungslose Durchquerung eines Gebiets für die Aufmerksamkeitsökonomie der transitorischen Passagiere im Extremfall sogar die tendenzielle Vernichtung der durchquerten Landschaft, ihre Auflösung in den (und mit dem) Bewegungsvorgang selbst.

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