Kitabı oku: «Gotthardfantasien», sayfa 3

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Die Heroen der Technik und das helvetische Kollektiv

Der Gotthard fliegt jedoch nicht in die Luft, im Gegenteil: Nach der Eröffnung der Bahnstrecke wird er gar militärisch befestigt, und gleichzeitig wächst er zum Zentralmassiv des eidgenössischen Selbstbehauptungswillens heran. Die Gotthardbahn wird nach 1909 nicht nur materiell, mit der Eingliederung in die «Schweizerischen Bundesbahnen», sondern ebenso ideologisch nationalisiert. Auch die Dichter des 20. Jahrhunderts arbeiten auf dieser neuen geistigen Gotthard-Baustelle.9 Sie re-inszenieren den Bau des Tunnels, dessen Eröffnung man 50 Jahre zuvor (im Jahr 1932) feierte. Im Zeichen der Geistigen Landesverteidigung wird der Tunnelbau zur nationalen Gründungstat umgedeutet. Dabei entstehen allerdings Spannungen zwischen dem modernen Technikdiskurs und der mythischen Gründungsgeschichte wie auch zwischen dem heroischen Einzelnen und dem Kollektiv. Doch auch dafür liefert – so die bestehende These – die helvetische Katastrophenkultur eine vermittelnde Matrix.

Dies zeigt sich zunächst an dem wirkungsmächtigen Jugendbuch von Robert Schedler Der Schmied von Göschenen. Eine Erzählung aus der Urschweiz für Jung und Alt, das zwischen 1920 und 1971 elf Auflagen erlebt.10 Der jugendliche Titelheld schart mit seinem Projekt, die Schöllenenschlucht durch den «stiebenden Steg» begehbar zu machen und dadurch den Gotthard zu erschliessen, die ganze Talschaft hinter sich. Er ist der erste Technikheld der Schweiz, ein Tell mit Amboss statt mit Armbrust, der in der Schöllenen die neue Willens- und Solidargemeinschaft zusammenschmiedet. Als solcher ist er auch ein impliziter Vorläufer von Louis Favre, dem Ingenieur des Gotthardtunnels. Dieser rückt ins Zentrum weiterer Gotthard-Romane, am entschiedensten im Roman des Österreichers Oskar Maurus Fontana Der Weg durch den Berg: Ein Gotthard-Roman, der 1936 in Wien erscheint.11 Favre kämpft hier als heroischer Einzelner nicht nur gegen die Naturgefahren, sondern auch gegen die Widerstände aus der Bevölkerung. Felix Moeschlin scheint als Schweizer darauf zu antworten: Mit dem monumentalen Roman Wir durchbohren den Gotthard (1947/49) gibt er jenem «Wir» seine Stimme, das allein den Gotthard bezwingen könne.12 Auch wenn dieses Kollektiv wesentlich aus italienischen Tunnelarbeitern besteht, rückt der Bahnbau so ein in die alten Strategien des kollektiven helvetischen Kampfs gegen die Naturgefahren.

Die Geistige Landesverteidigung steht dabei zwischen der Rückbesinnung auf eine mythische, naturnahe Solidargemeinschaft und dem Fortschrittsglauben. Die alpine Sagenwelt, wie sie etwa Eduard Renner mit dem Goldenen Ring über Uri 1941 heraufbeschwört,13 steht gegen eine Publikation wie die von Walter Angst im «Schweizerischen Jugendschriftwerk» von 1944: Mit 12 000 PS durch den Gotthard. Technische Reise eines jungen Eisenbahnfreundes.14 Diesen Widerspruch kann man gerade am Gotthard im Zeichen der eingeübten Bewältigungsstrategien von Naturgefahren aufheben. Das versuchen auch weitere Gottharderzählungen der Zeit.15 Am formvollendetsten Meinrad Inglin mit seiner Novelle Die Lawine.16 Der Titeltext der gleichnamigen Sammlung erscheint 1947. Jener Lawine im Reusstal, die er zum Titel erhebt, setzt er eine Eisenbahnbrücke entgegen, die schliesslich einen Triumph der Technik und ein fast unverschämtes Liebesglück ermöglicht, in dem sich auch die vom Krieg verschonte Schweiz erkennen kann – eine geniale literarische Ingenieursleistung.

Der verschüttete Gotthardexpress und Friedrich Dürrenmatts Einspruch gegen den helvetischen Katastrophenkonsens

Zum heroischen Technikdiskurs der Geistigen Landesverteidigung gehört auch der Roman Gotthard-Express 41 verschüttet des schreibenden Lokomotivführers Emilio Geiler, der bereits 1942 ins Italienische und ins Französische, dann ins Dänische und Norwegische übersetzt wird.17 Er imaginiert, wie ein Bergsturz im Tessin einen Nachtschnellzug in einem Kehrtunnel der Gotthard-Strecke verschüttet. Die Menschen im Zug sind unverletzt, bleiben aber während mehrerer Tage im Tunnel eingeschlossen. Dank der Organisationskraft im Tunnel – für die Eingeschlossenen, darunter viele ausländische Touristen, werden sogar Vorträge zur Schweizer Geschichte und zur Eisenbahntechnik organisiert – und der Entschlossenheit der Retter von aussen kann die Schweiz die Katastrophe souverän meistern. Wie bei Inglin kann diese positive Katastrophenfantasie auch als eine Wunschfantasie des Landes im Krieg verstanden werden, von dem im Text nicht explizit die Rede ist.

Nach dem Krieg kann man die gleiche Gotthardfantasie auch anders lesen: Friedrich Dürrenmatt wird 1953 vom Schauspieler und Filmregisseur Max Haufler aufgefordert, ein Drehbuch zu Geilers Roman zu schreiben, vermutlich unter dem Eindruck von Dürrenmatts Novelle Der Tunnel, die eben erschienen war. Haufler hatte schon zehn Jahre zuvor erfolglos eine entsprechende Verfilmung geplant.18 Nach kurzer Arbeit tritt Dürrenmatt jedoch von dem Projekt zurück. Es wird nie publiziert und praktisch vergessen; auch die Forschung hat sich damit nicht beschäftigt. Der Dürrenmatt-Nachlass enthält nur einen Ansatz zu einem Filmskript, einige ausgeführte Dialogszenen und ein über 20-seitiges Treatment, das allerdings schon vor der Halbzeit der Handlung abbricht.19

Trotzdem wird erkennbar, wie Dürrenmatt die Vorlage interpretiert. Zur Eröffnung malt er den Gegensatz zwischen der bedrohlichen Natur und der Technik in einer grellen Gefahrenästhetik aus:

«Die Hochgebirgslandschaft stürzt heran, gefährlich, gespenstisch. Eine Station taucht auf, verschwindet.

Die Perspektive auf die zwei Geleise, die geometrischen, zerbrechlichen Konstruktionen der Masten, der Leitungsdrähte, das Aufleuchten der Signale,

unwirkliche, spielerische Abstraktheit der Technik in der wilden Natur.

Das Dröhnen, das Singen der Maschine.

Von Ferne ein Tunneleingang, ein schwarzer Mund, der sich weitet, ein Tauchen in Finsternis.

Der Berg (den der Zug nun durcheilt), die steilansteigende Wand aus Stein,

ein ungeheuerlicher Bergrücken, überhängend,

rote rostige Felspartien, Gletscherzungen, verwitterte Bäume,

immer höher, immer drohender,

einige Steine, die sich lösen,

Das Heranschieben dunkler Wolkenmassive,

tief unten der Zug, der eben den Kehrtunnel verlässt.

Ein riesenhafter Sonnenball, der unter den Horizont rollt.»20

Auch hier: Gefahr gehört zum Gotthard, die Dürrenmatt in diesem ersten Textstück in recht konventioneller, expressiver Weise aufbaut. Origineller ist Dürrenmatt jedoch, wenn er den Eisenbahnzug, der durch den Bergsturz eingeschlossen werden wird, mit einer bunten Passagiermasse füllt, vom Stargeiger bis zum Emmentaler Abstinentenbund. Die Hauptfigur ist jedoch ein Heroin schmuggelnder Kriminalschriftsteller, der im Zug zufällig auf seine ehemalige jüdische Geliebte trifft, die aus Deutschland fliehen musste. Mit seinem Liebesverrat wird der Schatten der schweizerischen Flüchtlingspolitik in das Szenario der positiven Katastrophenbewältigung eingeschmuggelt. Gleichzeitig wird auch der Konsens über die Bewältigung der Bedrohung im Zeichen der Katastrophensolidarität unterminiert. In einer Auflistung von 29 Punkten, welche in gewisser Hinsicht die 21 Punkte über Die Physiker (1962) vorausnimmt, entwickelt Dürrenmatt Parameter dafür, wie eine Katastrophe darzustellen sei. Dürrenmatt hebt vor allem die sozialen Organisationsformen hervor, die sich in der Katastrophe zeigen:

«22. Die Verschütteten müssen ein Abbild der Menschheit sein.

23. Durch die Katastrophe werden die Verschütteten in eine Gemeinschaft verwandelt.

24. Die Rettung löst diese Gemeinschaft wieder auf.

25. Die Rettung ist daher nicht nur ein positives, sondern auch ein negatives Resultat.»21

Ob und wie sich Dürrenmatts höchst heterogener Passagierhaufen im Tunnel zu einer solchen «Gemeinschaft» formieren kann, das wissen wir nicht. Doch dass diese spätestens mit der Rettung auseinanderbrechen wird, das ist schon von der Anlage her evident. Und auch die verratene Liebe wird kaum in dieser Prüfung wieder gekittet werden. Genau entgegengesetzt zu Inglins Lawine stiften Katastrophen, selbst mit positivem Ausgang, weder Ehen noch solidarische Gemeinschaften. Das ist ein fundamentaler Einspruch gegen den helvetischen Bedrohungs- und Katastrophenkonsens, wie ihn die Geistige Landesverteidigung so gerne in ihr Zentralmassiv, den Gotthard, projiziert.

Grotesker Gegengotthard: Hermann Burgers Die künstliche Mutter

Einen solchen Einspruch, wenn auch in ganz anderer Form, erhebt auch Herrmann Burger mit seinem 1982 publizierten Roman Die künstliche Mutter.22 Genau zum 100. Jubiläum der Tunneleröffnung liefert Burger das groteske Satyrspiel zum modernen Gotthard-Diskurs, ebenso vielschichtig wie dieser. Zwar steht in seinem Zentrum die Geschichte einer individuellen Katastrophe und ihrer Therapie: der Versuch des Germanisten und Glaziologen Wolfram Schöllkopf, im Gotthard vom Selbstmord seiner Geliebten, von seiner «Unterleibsmigräne» (S. 42) und von seiner Mutterbindung zu genesen.23 Umso ironischer, dass Schöllkopf, der Held mit der Gotthard-Schlucht im Namen und im Schädel, erst in jener österreichischen «Kur-Enklave» (S. 165) Heilung findet, die Burger mitten ins helvetische Kernmassiv hinein fantasiert. Die literarische Abzweigung des Gotthardtunnels nach Österreich, wie sie Spitteler nur andeutet, wird von Burger realisiert, als Satire auf das Verhältnis der Schweiz zum historischen Erbfeind und als ironische Reminiszenz an die eigene Katastrophenkultur. In der «thermischen Wärme des Österreichischen Gotthards» (S. 195) hört Schöllkopf die «Stimme des Gletschers», die «sein Katastrophengedächtnis» auffrischt mit älteren und neueren Naturkatastrophen (S. 180f.). Und er verliebt sich in die «katastrophenbergende Stimme» einer deutschen Tagesschausprecherin (S.226). Überall, selbst in der Sprache des Romans, stecken die latenten Katastrophen. Wortschöpfungen wie «Lawinenkegelbahnen» (S. 130) oder «Gebirgstrichterschwermut» (S. 188) zeugen von Burgers mutwilligen Abschweifungen zu jenen Abgründen, vor denen früher die Reisenden zurückschreckten. Burger spielt mit den Katastrophen, so wie er in jener Modelleisenbahn-Anlage, die als Mise en abyme der Gotthardbahn im Kirchlein von Wassen wiederum die Gotthardbahn nachstellt, einen Zugszusammenstoss in einem Tunnel inszeniert (S. 110).

Doch sowohl als souveräner Regisseur am Steuerpult seiner literarischen «Gegengotthardbahn» (S. 110) wie auch als leidender Schöllkopf bleibt Burger radikal allein. An jenen Katastrophen, die in der Geschichte der Schweiz und auch der Gotthardbahn immer wieder neu die Solidargemeinschaft begründen sollen, erlebt Schöllkopf gerade seine Vereinzelung. Gelegentlich erscheint der Roman zwar als Bericht, der sich vom Gotthard aus an die urbane Schweiz richtet, «an die Hinterbliebenen im Unterland» (S. 130). Das wäre noch jene Diskursform, wie sie für die Kohäsion der urbanen mit der alpinen Schweiz unentbehrlich ist. Doch Burgers Romanheld bleibt im Roman ohne Echo; er findet zwar schliesslich den Weg nach dem Süden, aber dort auch den Tod. Doch dazu braucht er nicht den Tunnel, die Abkürzung. Die künstliche Mutter ist alles andere als eine lineare Geschichte. Das literatur- und ideologiegeschichtlich sedimentierte Material, in dem sie sich bewegt, zwingt sie zu immer neuen Abzweigungen und Abschweifungen. Schon Spitteler hatte seinen Eisenbahnauftrag nur in recht abschweifender Form literarisch umgesetzt. Burger geht auch diesbezüglich viel weiter: Abschweifung wird zum eigentlichen poetischen Anti-System. Zwar hat auch Burger architektonische Planskizzen für sein monumentales Buch gezeichnet. Er erkennt jedoch, dass seine «Schreibingenieursvermessungarbeiten» für sein in jedem Sinn massloses Projekt eigentlich nicht taugen.24

Das ist symptomatisch. Denn die Literatur sucht, anders als die Ideologen und die Ingenieure, nicht den direkten Weg. Die literarische Gotthardpost fährt wissentlich gefährliche Umwege, setzt sich katastrophischen Bedrohungen und Widersprüchen aus, erkundet den Berg imaginär in sich verzweigenden Gedankenstollen, wählt das langsamere Verkehrsmittel statt des schnelleren. Das ist ihre Zumutung an den Leser, das ist ihr Eigenrecht. Dieses grundsätzliche Recht auf den Umweg sollte die Gotthard-Literatur weiterhin geltend machen. Dies erst recht, wenn die neue Direttissima von Erstfeld nach Biasca die alte Bergstrecke ihrerseits zum Umweg und zur poetischen Abschweifung hinein in die Gotthard-Gefahren machen wird.

Nora Gomringer
Door to Door

Ein Berg

Ein Übertritt

Eine Durchreiche

wie in einem Haus des letzten Jahrhunderts

vom einen Land zum anderen

hier die Sauciere, das Silber

immer erinnert an Heidis Besuch

im exotischen Frankfurt

(Herrenhaussituation)

hier die Fahrräder, hier die Autos

die Wagen voller Kraft

einer muss doch den Tisch decken

einer sollte bereiten

einer muss doch ans Licht

viele wollen hindurch

doch das Wetter am Berg

das kann keiner kennen

turns out: kennt keiner das Wetter

beim Eintritt, beim Austritt

Was der Berg alles zulässt

Durchschuss und Ameisenstrasse

Verschiedene Wege ans Licht

durchgereicht stehen wir alle

über und durch und

under the weather

August 2015

Unterwegs mit der Gotthardbahn um 1900
Die Kirche von Wassen und die Inszenierung von Landschaft

Daniel Speich Chassé

Dieser Beitrag handelt von der Reise mit der Eisenbahn über die Gotthardstrecke von der Zentralschweiz ins Tessin. Und es geht auch um eine Reise in die Vergangenheit. Ich möchte anhand der Gotthard-Strecke das Reiseerlebnis rekonstruieren, das sich vor etwa 130 Jahren auf der Fahrt durch eine imposante Landschaft eingestellt haben könnte. Dazu dient die Lektüre von drei Reiseführern. Die Technik – vor allem die Dampfmaschine – war im 19. Jahrhundert ein wichtiger Motor der Innovation. Sie hat die Produktion von Gütern in Fabriken ermöglicht, die gesellschaftlichen Machtverhältnisse zwischen Arbeit und Kapital radikal verändert und die Bewegung im Raum revolutioniert. Das kam den Menschen damals neu vor, und sie protokollierten den Wandel in einer Fülle von Zeugnissen.

Nachdem im Jahr 1882 die Gotthardbahn eröffnet worden war, publizierten findige Unternehmer rasch viele Beschreibungen der neuen Strecke, die als ein Hilfsmittel für die Fahrgäste im Zug gedacht waren. Bereits im ersten Betriebsjahr 1883 benutzten über eine Million Reisende die neue Strecke, was alle Prognosen übertraf.1 Die Reiseführer dienten dazu, in der anbrechenden industriellen Moderne Sicherheit und Orientierung zu stiften. Dabei hat sich an der Nordrampe der Gotthardbahn etwas Seltsames ereignet: Ein katholischer Kirchenbau, der 1734 im Stil des Barocks fertiggestellt worden war, wurde zu einer Ikone der technischen Moderne.2 Die Kirche von Wassen ist eher zufällig zum Ankerpunkt der Reiseerlebnisse geworden. Auch ein Wasserfall oder eine spektakuläre Brücke hätten ihre Position einnehmen können. Die Kirche steht für die Verarbeitung des damaligen Schocks, der durch die moderne Technik ausgelöst worden war. Und die Kirche ist ein Fokus, in dem der Wandel der Landschaftswahrnehmung deutlich wird.

Jakob Hardmeyer 1888

Meine erste Quelle stammt von Johann Jakob Hardmeyer-Jenny, einem Sekundarlehrer und Kinderbuchautor aus Männedorf, der zahlreiche populäre Schriften über die Landschaft der Schweiz verfasste und viele Porträts von historischen Persönlichkeiten schrieb.3 Ab den 1880er-Jahren betreute er die Schriftenreihe «Europäische Wanderbilder» des Orell-Füssli-Verlags, zu der er selbst zahlreiche Titel beisteuerte. Er schrieb viel, unter anderem über den Zürich- und den Vierwaldstättersee, über Locarno und seine Seitentäler, über Lugano und über das Berner Seeland. Er schrieb auch über eine Reihe von Bahnen: 1888 über die Brünigbahn, 1889 über die Pilatusbahn, 1890 über die Monte-Generoso-Bahn und 1895 über die Seethalbahn.

Jakob Hardmeyers Reiseführer über den Gotthard muss ein grosser Erfolg gewesen sein. Die Schrift erschien ab 1888 in zahlreichen Auflagen und wurde hundert Jahre später, 1979, als Faksimile-Druck neu aufgelegt. Hardmeyer war in der bürgerlichen Welt der Vereine gut vernetzt und dokumentierte zum Beispiel auch eine «Sängerfahrt des Männerchor Zürich nach Mailand», die im April 1888 stattgefunden hatte. Und 1905 verfasste er im Auftrag der Bahngesellschaft einen kurzen Streckenbeschrieb für das breite Publikum mit dem Titel «Nach Italien mit der Gotthardbahn».4 Man kann ihn als den Erfinder der Gotthard-Reise sehen.

Im ersten Betriebsjahr der Gotthardbahn gab es zwischen Luzern und Mailand pro Tag drei Varianten mit dem Bummelzug, bei denen die Fahrgäste umsteigen mussten, und zwei direkte Schnellzug-Verbindungen. Der Fahrpreis betrug bis Mailand in der 1. Klasse 36.65 Franken und in der 3. Klasse 18.05 Franken. Das heisst, dass ein Textilarbeiter damals mehr als einen Wochenlohn für die Reise in der Holzklasse hätte aufwenden müssen, was er natürlich nicht tat. Die Fahrtzeit betrug von Luzern bis Mailand zehn Stunden. Ein Schnellzug fuhr in Luzern jeweils morgens um 10 Uhr los. Eine halbe Stunde später erreichte er Rotkreuz. Hier stiegen die Reisenden zu, die bereits am Vorabend zum Beispiel aus Berlin eingetroffen waren. Eine Stunde nach der Abfahrt in Rotkreuz erreichte der Zug Arth-Goldau, und gut zwei Stunden später, um 12.59 Uhr, traf er in Göschenen ein, wo es eine halbe Stunde Aufenthalt gab. Das war gerade genug Zeit, um im Bahnhofsrestaurant eine Mahlzeit einzunehmen. Die 55 Kilometer der Nordrampe wurden mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 25 Kilometer je Stunde befahren. Die Fahrt durch den Tunnel dauerte von 13.25 bis 13.50 Uhr. Kurz vor 16 Uhr erreichte der Zug Bellinzona. Um 17.25 Uhr war er in Chiasso und um 19.41 Uhr in Mailand. Hier bestanden Anschlüsse nach Turin, Genua, Bologna, Florenz, Rom, Neapel und Venedig. Was haben die Fahrgäste zwischen Luzern und Mailand gesehen? Und welche Gefühle stellten sich möglicherweise bei ihnen ein, als sie diese Strecke befuhren?

Die Schaulust der Reisenden war in den Anfängen der Eisenbahnfahrt stark bedroht durch die Vernichtung der Aussicht aus dem mechanisch beschleunigten Vehikel. Auch wenn der Zug nur mit langsamen 25 Kilometer je Stunde fuhr, liess die dampfgetriebene Eisenbahn einen Gegensatz zwischen der Authentizität eines Ortes und dem schnellen, mühelosen Überwinden geografischer Distanzen entstehen. Der Erfahrungshorizont der Fahrgäste in der 1. Klasse war die Postkutsche, die zwar in hohem Tempo über den Pass fuhr, aber doch kaum mehr als zehn Kilometer je Stunde erreichte. Die Passagiere in der 2. Klasse und in der 3. Klasse hatten den mühseligen Gang mit Maultieren vor Augen, also kaum mehr als fünf Kilometer je Stunde. Für sie war die Dampflokomotive rasend schnell.

Eisenbahnfahrten waren im ausgehenden 19. Jahrhundert mit einer tiefgreifenden Sinnesverwirrung verbunden. Der Dichter Heinrich Heine schrieb 1843 anlässlich der Eröffnung der Linien von Paris nach Rouen und Orléans: «Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unsrer Anschauungsweise und in unseren Vorstellungen! Sogar die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden.»5 Unter den Bedingungen des industrialisierten Transports war das Landschaftserlebnis, das die wandernden, reitenden oder kutschenfahrenden Reisenden bisher gekannt hatten, technisch versperrt. In der Eisenbahn waren die Fahrgäste mit dem sie umgebenden Aussenraum nur noch visuell verbunden – doch zu sehen gab es für sie eigentlich nichts. So legt ein anonymer Text aus dem Jahr 1844 nahe: «Beim Reisen in der Eisenbahn gehen in den meisten Fällen der Anblick der Natur, die schönen Ausblicke auf Berg und Tal verloren oder werden entstellt.»6

Die Geschwindigkeit produzierte eine spürbare Verschiedenheit zwischen dem Raum-Zeit-Gefüge im Inneren des Wagens und jenem in der Aussenwelt. Dadurch verlor das Zugfenster seine Fensterfunktion: Es stellte keine Verbindung zwischen Innen und Aussen mehr her, sondern war nur noch ein Loch hin zu einer anderen Dimension, die sich zunächst nicht strukturieren liess. Man sah nichts, oder zumindest nichts, das sich sinnvoll auf den Innenraum hätte beziehen lassen. Hingegen wurde das Innere der Wagen zu einem neuen öffentlichen Raum, der durch Verhaltensregeln organisiert werden musste. Neben dem Lesen, das sich in den Abteilen der 1. und 2. Klasse schnell etablierte, wurde auch das Betrachten der vorbeiziehenden Landschaft bald zu etwas Anständigem. Man las im Reiseführer und schaute zum Fenster hinaus. So wurde es den im Zugabteil zufällig zusammengewürfelten Personen möglich, mit der intimen Nähe zueinander umzugehen.7 Am Fensterplatz gab es zwar weniger zu sehen als vom Maultier aus oder von der Kutsche. Aber die Geschwindigkeit der Bahn führte dem Fahrgast die Welt wie in einem Panorama vor Augen. Die Eisenbahn bot eine effektvolle Reduktion auf die Totale. Die Sicht aus dem Zugfenster, so schrieb ein französischer Beobachter in den 1860er-Jahren, «zeigt Ihnen lediglich das Wesentliche einer Landschaft. […] Verlangen Sie keine Details von ihr, sondern das Ganze, in dem das Leben ist.»8 Die Landschaft wurde zum Strich, in dem einzelne Punkte in Szene gesetzt werden mussten – wie zum Beispiel die Kirche von Wassen.

Jakob Hardmeyer baute im Jahr 1888 auf der Sinnesverwirrung seines Publikums auf und setzte gezielte Orientierungspunkte. Dabei sticht der Streckenabschnitt um Wassen hervor, weil hier ein bedeutendes Stück Steigung durch Kehrtunnels überwunden werden musste. Hardmeyer schrieb:

«Am Fusse des Wassener Kirchhügels überschreitet die Bahn die aus einer grossartig wilden Schlucht hervorschäumende Maienreuss (zum ersten Mal), unterfährt den Kirchhügel, geht südwärts der Reuss entlang, überschreitet sie auf einer Brücke und unweit des Dörfchens Wattingen verschwindet sie im rechtsseitigen Berghang. Es beginnt der Wattingerkehrtunnel, […] Sich nordwärts wendend, geht sie hinter dem Dorfe Wasen und seiner Station in nördlicher Richtung thalauswärts und überbrückt die Maienreuss wieder (zum zweiten Male). Sie hält die nördliche Richtung immer noch ein, um sie im sogenannten Leggisteinkehrtunnel mit der südlichen zu vertauschen. An der Maienreussschlucht tritt sie an’s Tageslicht und überspringt dieselbe auf prachtvoll situierter Brücke (zum dritten Mal), mehr als 100 Meter über dem ersten Übergang.»9

Der Reiseführer unterstellte eine Überforderung der Reisenden und lieferte eine Blickanleitung:

«Der Reisende, der kein Plänchen zur Hand oder keinen Ingenieur an seiner Seite hat, verliert in Folge der nach allen Richtungen gehenden Fahrt vollständig seinen Kompass. Der Wendungen, die der Zug macht, wird er kaum gewahr, da sie drinnen im dunkeln Schosse der Felsen erfolgen. Es scheint ihm, er komme nicht von der Stelle, denn immer wieder sieht er die Wasener Kirche, – über sich, hinter sich, vor sich, neben sich und unter sich[…]. Erst dann, wenn er über dem Dorfe Wasen am Bergabhang dahin fährt …, findet er sich wieder zurecht. Wie ob einem gewaltigen Siege jubeln oft an dieser bewundernswertesten Stelle der Bahn die staunenden Insassen des dahinsausenden Zuges laut auf.»10

Seit den 1880er-Jahren haben Generationen von Fahrgästen auf die Kirche des kleinen Ortes Wassen geschaut, so wie es Jakob Hardmeyer vorschlug.

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