Kitabı oku: «Wer ist Clara?», sayfa 2

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Kapitel 2: Verwundet

Ich erwache aus dem merkwürdigen Traum.

Ich blinzele mehrmals, während sich die Umrisse des Raums aus der Dunkelheit schälen.

Wo bin ich?, ist mein erster Gedanke. Während die Erinnerung an gestern in mein Gedächtnis zurückkehrt, wird die Frage durch eine andere abgelöst: Wer bin ich?

Ich kann mich an alles erinnern, was gestern passiert ist: Lukas, seine Familie, die Dusche, die Kopfwunde. Aber alles, was davor war, bleibt nach wie vor vollkommen ausgelöscht.

Ich schlucke hart und stehe vorsichtig auf. Trotz allem fühle ich mich erholt, und ein Blick auf den Radiowecker neben meinem Bett verrät mir auch warum: Es ist schon halb zwölf. Ich habe fast zwölf Stunden geschlafen.

Ich streiche mir die Haare aus dem Gesicht und öffne den Rollladen. Es ist ein strahlend schöner Tag: Die Sonne scheint von einem hellblauen, wolkenlosen Himmel auf den großräumigen Garten, auf den ich schon gestern einen Blick geworfen habe. Ich denke wieder an die Person, die da unten stand und mich beobachtet hat, und mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken. Wäre es möglich, dass ich mir das nur eingebildet habe, in meinem verwirrten Zustand? Insgeheim hoffe ich es.

Ich öffne das Fenster und gehe ins Bad, wo ich mir als erstes kaltes Wasser ins Gesicht spritze. Ein weiterer Blick in den Spiegel bringt mir immer noch keine Klarheit. Nun sehe ich die blauen Augen, die blasse Haut und das hellbraune Haar zum ersten Mal im Tageslicht, doch ich erkenne das Mädchen im Spiegel dennoch nicht.

Als ich nach Johannas Haarbürste greife, fällt mein Blick auf einen Becher, der auf dem Waschbeckenrand steht. Mein Name ist mit einem Edding auf das weiße Plastik geschrieben worden, und darin befinden sich eine ungeöffnete Tube Zahnpasta und eine Zahnbürste. Die Geste rührt mich: Diese Leute kennen mich gar nicht und sind trotzdem so gastfreundlich zu mir. Lächelnd betrachte ich den Becher und putze mir die Zähne. Dann trete ich aus dem Badezimmer in den Flur. Alles ist ruhig und ich weiß zunächst nicht, was ich jetzt tun soll. Dann entscheide ich mich, nach unten zu gehen. Barfuß gehe ich die Treppe hinab und spüre erneut, wie die Kälte des Bodens in meine Fußsohlen steigt.

Unten angekommen werfe ich zunächst einen Blick ins Wohnzimmer, wo mich gestern Eva und Paul begrüßt haben, doch auch dieser Raum ist leer. Es ist trotzdem interessant, alles im Tageslicht zu sehen: Das Zimmer ist hell, mit weißen Holzmöbeln und einer großen, grauen Couchlandschaft. An den Wänden hängen unzählige Bilder. Neugierig betrete ich den Raum und schaue mir die Bilder an: Es sind vor allem Kinderfotos, dazwischen auch ein paar Hochzeitsbilder, die offensichtlich aus den Neunzigern stammen. Ein Bild springt mir besonders ins Auge, weil hier die ganze Familie versammelt ist: Vater, Mutter und drei Kinder, zwei Jungs und ein Mädchen. Hier sind sie allerdings noch weitaus jünger, zwischen zehn und fünf vielleicht.

„Gefallen dir die Bilder?“

Ich zucke zusammen und fahre herum.

„Oh, Entschuldigung! Ich wollte dich nicht erschrecken, tut mir leid.“ Vor mir steht der Junge, der mir schon gestern Abend begegnet ist: Lukas‘ Bruder.

„Hast… du gut geschlafen?“, fragt er zögernd.

Ich nicke stumm. Er kommt langsam näher und stellt sich neben mich. Er ist etwa einen halben Kopf größer als ich. „Das da ist Lukas“, sagt er und deutet auf den kleineren Jungen auf dem Familienbild, „Das ist Johanna“, er zeigt auf das Mädchen, „Und das bin ich.“ Sein Finger verweilt kurz auf dem größten Kind, einem kleinen Jungen mit drei Zahnlücken. Lächelnd blicke ich von dem Foto zu ihm. Seine Augen sind genau die gleichen: dunkelbraun und glänzend. Er sieht Lukas nicht besonders ähnlich – dieser hat etwas helleres Haar und hellere Augen, ebenso wie Johanna. Diese hat zwar sogar noch dunklere Haare als ihr ältester Bruder, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie sie nur schwarz färbt, damit sie zu ihrem restlichen Stil passen.

„Das ist ein schönes Bild“, sage ich zögernd, „Es ist mir direkt aufgefallen. Ihr seht alle so fröhlich aus.“

„Ja, das stimmt“, erwidert er, während sein Blick auf dem Bild verweilt. In seinem Lächeln glaube ich, etwas Wehmütiges erkennen zu können. Dann blickt er plötzlich wieder mich an. „Hast du Hunger?“

Ich nicke. „Dann komm mit“, entgegnet er lächelnd und läuft voraus in die Küche. Auch dieser Raum ist lichtdurchflutet – vor einer Eckbank steht ein großer Tisch aus hellem Holz, und davor noch drei dazu passende Stühle. Auch die Küchenzeile ist groß und modern.

„Was magst du?“, fragt er, „Müsli? Toast?“

„Toast ist super“, entgegne ich.

„Okay, ich mache dir einen“, erwidert er, „Setz dich doch!“ Er deutet mit dem Kopf zu dem Tisch. Ich lasse mich auf die Küchenbank sinken und lehne meinen Rücken an. Hier ist es immerhin wärmer als im Wohnzimmer, denn die Sonne scheint direkt durch die Fenster in diesen Raum.

Ich betrachte ihn still, während er Toast aus einer der Schubladen holt und ihn in den Toaster steckt. Dann dreht er sich zu mir um. „Magst du Kaffee?“

Ich überlege für einen Moment. „Ich glaube nicht“, erwidere ich dann zögernd.

„Kakao?“, fragt er. Ich nicke. Er dreht sich wieder um und werkelt weiter in der Küche herum.

Ich beiße mir auf die Lippe, bevor ich ein wenig beschämt frage: „Kannst du mir deinen Namen noch mal sagen?“

Er dreht sich um und lächelt mich an. „Klar, ich bin Jakob.“

„Jakob“, wiederhole ich leise und nicke.

„Und du bist Clara?“, vergewissert er sich noch einmal, während er sich lächelnd mit dem Rücken gegen die Küchenzeile lehnt.

„Ja.“ Mein Name – das Einzige, woran ich mich noch erinnern kann…

„Mit K oder mit C?“, fragt er weiter.

„Mit C“, entgegne ich sofort.

„Das hast du also nicht vergessen“, murmelt er gedankenverloren. Ich nicke wieder.

„Und ansonsten weißt du nichts mehr? Auch nicht, wie alt du bist? Oder was du im Wald gemacht hast?“

„Keine Ahnung“, erwidere ich leise.

„Ich bin mir sicher, dass deine Erinnerungen wieder zurückkommen“, meint er. Es soll aufheiternd klingen, aber ich bin gerade nicht besonders optimistisch. „Hey“, sagt er dann zögernd, „Johanna hat gesagt, dass du eine Verletzung am Hinterkopf hast?“

„Ja.“ Meine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern.

„Darf ich… mal sehen?“

Ich nicke und drehe mich um. Behutsam streicht er mein Haar beiseite. Sein Daumen berührt dabei kurz meinen Nacken. Die Berührung ist sanft, wenn auch unbeabsichtigt. Mir läuft ein wohliger Schauer über den Rücken und ich hoffe, dass er es nicht gemerkt hat.

„Das sieht nicht gerade gut aus“, sagt er, „Wir sollten sowieso mal zum Arzt fahren, nachdem du was gegessen hast.“ Er lässt mein Haar los und ich drehe mich wieder zu ihm um.

„Du und ich?“, frage ich zögernd.

„Klar, wer sonst? Es ist niemand anderes hier“, entgegnet er lächelnd.

„Aber wo sind denn alle?“, frage ich.

„Arbeiten oder in der Schule“, erwidert Jakob, „Es ist Mittwoch.“

„Oh.“ Natürlich. Plötzlich komme ich mir ziemlich dumm vor. Nur, weil diese Leute mich gestern aufgenommen haben, heißt das natürlich nicht, dass sie keinen Alltag haben.

In dem Moment ertönt ein klackendes Geräusch. Ich zucke zusammen, bevor ich sehe, dass es nur der Toast war.

„Magst du Nutella? Oder Marmelade?“, fragt Jakob, während er die beiden Scheiben auf einen Teller legt.

„Ja, gern“, erwidere ich.

Einen Moment später stellt er den Teller, zusammen mit einer Tasse Kakao einem Messer, Butter, Nutella und Marmelade vor mir auf den Tisch. „Danke“, sage ich lächelnd.

Still sieht er mir zu, während ich mir zunächst Butter, und danach Marmelade auf die erste Scheibe Toast streiche.

„Und du?“, frage ich zögernd, bevor ich den ersten Bissen nehme, „Hast du heute frei?“

„Ja, ich hab Semesterferien. Ich studiere“, erwidert er.

„Cool, was studierst du denn?“, frage ich.

„Englisch und Germanistik – aber nicht auf Lehramt“, entgegnet er.

„Hier in der Nähe?“

„In Heidelberg. Da hab ich auch ein WG-Zimmer, wo ich während des Semesters wohne.“

„Schön“, erwidere ich nickend.

„Warst du schon mal in Heidelberg?“, fragt er.

„Ich weiß nicht“, entgegne ich mit einem entschuldigenden Lächeln.

„Oh, stimmt ja. Tut mir leid!“ Er erwidert mein Lächeln.

Wir schweigen für einen Moment, dann frage ich: „Also du bist der Älteste von euch dreien?“

Jakob nickt. „Ich bin zwanzig, Lukas siebzehn und Johanna sechzehn.“

„Und, gehen die beiden auf die gleiche Schule?“, frage ich. Es ist belangloser Smalltalk, aber besser als Schweigen.

„Ja, aufs Trifels-Gymnasium. Da habe ich auch mein Abi gemacht.“

„Was bedeutet ‚Trifels‘?“

Jakob lächelt. „Du kommst echt nicht von hier, oder? Das ist eine Burg hier in der Nähe – viele Dinge sind danach benannt, die Schule, Hotels, eine Apotheke und sogar unsere Zeitung.“

Er greift in den Zeitungsständer, der neben der Eckbank steht, und fördert eine Zeitung zutage, die er mir in die Hand drückt. ‚Trifels Kurier‘ prangt in dicken Lettern auf der Titelseite, und darunter ein Artikel über ein Treffen mehrerer Bürgermeister aus der Region.

„Das hier ist übrigens meine Tante Anna“, sagt Lukas und deutet auf die einzige Frau auf dem Foto. Sie ist groß und schlank und trägt ihr braun-blondes Haar glatt und lang. Tatsächlich kann ich in ihrem hübschen Gesicht eine gewisse Ähnlichkeit zu Jakob erkennen.

„Sie ist die Bürgermeisterin von Völkersweiler“, sagt dieser in dem Moment.

Völkersweiler. Jetzt fällt mir wieder das Ortsschild von gestern ein.

„So heißt der Ort hier, oder?“, frage ich. Er nickt.

Ich habe den Namen noch nie gehört, oder zumindest glaube ich das. Plötzlich ertönen von draußen die Kirchenglocken. Es ist zwölf Uhr.

„Tut mir leid, dass ich so lange geschlafen habe. Das passt bestimmt gar nicht in deinen Tagesplan, dass du mit mir heute noch zum Arzt fahren musst…“ Ich spüre, dass ich rot werde.

Jakob lacht. „Welcher Tagesplan? Schon vergessen, ich bin Student.“ Damit entlockt er auch mir ein Lachen.

„Nein ehrlich“, meint er dann, „Das macht gar nichts. Ich hab zwar Hausarbeiten zu schreiben, aber die sind generell ziemlich tolerant mit dem Abgabedatum. Und ehrlich gesagt bin ich ganz froh, dass du nicht schon vor drei Stunden aufgewacht bist. So lange bin ich nämlich auch noch gar nicht wach…“

Ich lächele und blicke wieder auf meinen Toast. Ich spüre seinen Blick auf mir, während ich die zweite Scheibe mit Nutella bestreiche.

„Du isst keine Butter unter der Nutella“, kommentiert Jakob.

„Nein, das ist eklig“, erwidere ich reflexartig.

„Sehe ich genauso“, entgegnet er lächelnd. Ich erwidere das Lächeln.

„Danke übrigens für die Zahnbürste und die Zahnpasta“, sage ich, bevor ich von meiner zweiten Scheibe Toast abbeiße.

„Woher weißt du, dass ich das gemacht habe?“, fragt er.

Ich zucke mit den Schultern. „Das war geraten.“ Er lächelt mir erneut zu.

„Was machen deine Eltern eigentlich beruflich?“, frage ich, um weiteres Schweigen zu verhindern.

„Mein Vater ist als Elektriker selbstständig und meine Mum ist Kassiererin. Nichts Besonderes also.“

„Wie meinst du das?“ frage ich.

Er seufzt. „Wenn du neu an die Uni kommst, ist das eine der ersten Fragen, die dir von deinen Kommilitonen gestellt wird. Und viele glauben, dass sie einen bestimmten Status haben, nur weil ihre Eltern viel Geld verdienen, als Professor oder Anwalt oder so. Hast du gewusst, dass weniger als 25 Prozent aller Kinder aus Nicht-Akademikerfamilien überhaupt studieren?“

Ich schüttele den Kopf.

„Ist alles ziemlich oberflächlich an der Uni“, erwidert er, „Aber vielleicht kennst du das ja selbst.“

„Ich wüsste gerne, ob ich studiere“, entgegne ich und wir müssen beide aufgrund der absurden Situation lachen.

„Sicher meldet sich bald jemand. Wer weiß, vielleicht hat deine Familie schon eine Vermisstenmeldung bei der Polizei gemacht…“, meint er einen Moment später.

„Ich hoffe es“, erwidere ich und esse den letzten Happen von meinem Toast.

„Sollen wir uns dann langsam mal auf den Weg machen?“, fragt Jakob, nachdem ich auch meinen Kakao leer getrunken habe. Ich nicke.

„Okay“, sagt er und erhebt sich. Ich tue es ihm gleich und nehme den Teller und die Tasse vom Tisch.

„Wohin soll ich das tun?“, frage ich.

„Stell es einfach in die Spülmaschine“, erwidert er und öffnet eine Klappe unter der Küchenzeile, hinter der sich die Spülmaschine verbirgt.

„Und der Arzt ist hier im Ort?“, frage ich, während ich das Geschirr einräume.

„Im Nachbardorf“, erwidert Jakob.

Als ich die Spülmaschine geschlossen habe, bemerke ich, dass er mich ansieht. Sein Blick wandert von oben bis unten über meinen Körper. „Aber so kannst du nicht gehen…“, sagt er mit einem Lächeln. Ich spüre, wie ich wieder rot werde und wünschte, ich würde mehr als den kurzen, dünnen Schlafanzug tragen…

„Komm, du kannst dir was von Johannas Sachen ausleihen“, meint er und läuft voraus.

„Ich glaub nicht, dass sie das so gut findet“, erwidere ich, während wir durch den Flur laufen.

„Wieso?“, fragt Jakob und beginnt, die Treppe in den ersten Stock nach oben zu steigen.

„Na ja…“, entgegne ich, während ich ihm folge, „Ich hab gestern mitbekommen, wie sie Lukas angemotzt hat, weil er mir ihren Schlafanzug gegeben hat. Aber als ich dann in der Tür stand, war sie ziemlich nett zu mir…“

Jakob lacht. „Das ist Johanna: immer erst motzen, bevor sie nachdenkt – sie ist halt in der Pubertät…“

Ich folge ihm in das Zimmer seiner Schwester, es ist das erste im Flur, auf der linken Seite. Daneben, gegenüber vom Bad, ist ein weiteres Zimmer, in das ich bisher noch keinen Blick geworfen habe, und neben meinem Zimmer gibt es noch einen weiteren Raum, doch auch hier weiß ich noch nicht, was sich darin befindet.

Ohne zu zögern betritt Jakob das Zimmer seiner Schwester. Ich folge ihm und erblicke schwarze, glänzende Vorhänge, eine lilafarbene Wand, eine weitere Wand, die übersät ist mit Fotos und Postern, unter der Johannas Bett mit lila-schwarz gestreifter Bettwäsche steht. Auf dem Boden liegt ein lilafarbener Teppich, und an den anderen Wänden stehen ein Schrank und ein Schreibtisch aus hellem Holz, die absolut nicht in dieses Zimmer passen – vermutlich Überbleibsel aus der Zeit, bevor Schwarz Johannas Lieblingsfarbe wurde…

Jakob öffnet den Schrank, und uns fällt ein Schwall von Klamotten entgegen. Überrumpelt fangen wir beide einen Teil der Kleiderlawine auf, bevor einige Teile auf den Boden fallen.

„Wie kann man nur so unordentlich sein?“, murmelt er kopfschüttelnd, was mich amüsiert.

„Pubertät halt“, sage ich schulterzuckend, was ihm ebenfalls ein Lachen entlockt.

„Also, da es hier überhaupt kein System zu geben scheint – oder ich einfach zu dumm bin, um das System zu verstehen – würde ich sagen, du nimmst dir einfach irgendwas, was dir gefällt.“

„Ich hoffe, ich erwische jetzt nicht gerade Johannas Lieblingsteil…“, sage ich zögernd.

„Solange es nicht schwarz oder lila ist, ist das Risiko relativ gering“, erwidert er und zwinkert mir zu. Ich spüre schon wieder, dass ich rot werde, und sehe weg, während ich mich durch die Kleider wühle. Dabei stoße ich auf eine lange Jeans.

„Dafür ist es, glaube ich, zu warm heute“, meint Jakob, der sich ebenfalls auf die Suche gemacht hat.

Ich lege die Hose zurück und nehme stattdessen eine Jeansshorts. Ich halte sie mir kurz an den Körper. Müsste passen.

„Hier, versuch das mal“, sagt Jakob in diesem Moment und drückt mir ein beigefarbenes Shirt mit großen Rüschen am Ausschnitt in die Hand.

Das gehört Johanna?“, frage ich ungläubig.

„Ja, kaum zu glauben, was?“, entgegnet er amüsiert, „Das hatte sie vor ein paar Monaten noch gefühlt jeden zweiten Tag an. Und da hatten ihre Haar noch die gleiche Farbe wie die von Lukas…“

„Und warum ist sie dann so… geworden?“, frage ich zögernd.

„Pubertät?“, erwidert er schulterzuckend, und wir müssen beide lachen. „Ich hoffe jedenfalls, dass es nur eine Phase ist“, meint er und fügt nach einer kurzen Pause hinzu: „Ich gehe dann mal nach unten und warte, bis du fertig bist.“ Mit diesen Worten dreht er sich um und lässt mich allein.

Mir wird klar, dass ich noch einen BH brauche, und mein Blick fällt auf die Schubladen im unteren Bereich des Schranks. Ich bücke mich und öffne eine der Schubladen, doch ich sehe nur Socken. Ich wühle durch die Strümpfe, in der Hoffnung, doch noch einen BH zu entdecken, aber stattdessen stoße ich auf etwas anderes: Am Boden der Schublade liegt etwas Helles, Flaches. Es ist ein Foto, verborgen zwischen all den Socken, auf dem ich eine strahlende Johanna sehe. Das geht mich nichts an. Schnell schließe ich die Schublade wieder und öffne die darunter. Bingo.

Ich nehme mir einen schlichten weißen BH ohne Bügel aus der Schublade. Dann zögere ich für einen Moment. Meine Neugier siegt schließlich doch, und ich öffne die Schublade mit den Socken wieder. Mit einem schlechten Gewissen nehme ich das Foto heraus und betrachte es. Es ist ein Polaroid und die Johanna auf dem Foto hat hellbraunes, langes Haar und trägt ein rosafarbenes Shirt. Sie sieht jünger aus, auch wenn das Foto wahrscheinlich noch gar nicht so alt ist. Die schwarzen Haare und das dunkle Make-up lassen sie älter wirken. Ich drehe das Polaroid um und sehe, dass jemand etwas auf die Rückseite geschrieben hat:

‚Du bist wunderschön, meine Süße‘, steht dort in unordentlichen, gekritzelten Buchstaben.

Schnell lege ich das Foto zurück in die Schublade. Das geht mich nun wirklich nichts an…

Ich nehme mir ein Paar Socken und ziehe mich um. Erst beim Anziehen bemerke ich, dass das Shirt schulterfrei ist. Als ich alles angezogen habe, betrachte ich mich im Spiegel. Sieht eigentlich ganz gut aus. Aber Jakob meinte, draußen wäre es ziemlich warm – zu warm für meine offenen langen Haare vermutlich. Schnell gehe ich ins Bad und werfe einen Blick in Johannas Regalfach. Zum Glück finde ich gleich ein Haargummi, mit dem ich mir die Haare vorsichtig, um nicht an meine Wunde zu kommen, zu einem Pferdeschwanz binde.

Dann gehe ich schnell die Treppe nach unten. Jakob sitzt auf der Couch im Wohnzimmer und ist mit seinem Handy beschäftigt. Als ich hereinkomme, lässt er es sinken und betrachtet mich.

„Sieht gut aus“, meint er mit einem Lächeln, das mich schon wieder erröten lässt, und erhebt sich. Im Flur steht ein großer Schuhschrank, aus dem er mir ein Paar helle Turnschuhe reicht.

„Glaub mir, Johanna hat dafür sicher keine Verwendung mehr“, sagt er, als er meinen fragenden Blick sieht. Dann schlüpft auch er in ein Paar Turnschuhe, nimmt einen Schlüssel von dem Brett, das neben der Haustür hängt, und wir gehen nach draußen.

Die Sonne scheint vom strahlend blauen Himmel und unter anderen Umständen hätte ich sicher einen Moment innegehalten, um ihre Wärme auf meinem Gesicht zu genießen, aber jetzt gerade habe ich keinen Kopf dafür. Ich bin nervös. Wie gestern schießen mir tausend Fragen durch den Kopf, zu denen ich keine Antwort kenne.

Wir laufen die Stufen, die zur Straße führen, hinunter und zu einem alten Polo, der am Straßenrand geparkt steht. Im Vorbeigehen fällt mir das Klingelschild mit der Aufschrift ‚Sommer‘ auf. Bis eben wusste ich noch nicht mal, wie die Familie, bei der ich übernachten durfte, mit Nachnamen heißt…

„Ist das dein Auto?“, frage ich, als Jakob die Fahrertür des Polos aufschließt und mir bedeutet, auf der Beifahrerseite Platz zu nehmen.

„Ja“, entgegnet er, als wir beide sitzen, „Ich hab’s zum achtzehnten geschenkt bekommen. Ist zwar eine alte Kiste, aber mir reicht’s.“

Ich steige in das aufgeheizte Auto, und fange sofort an, zu schwitzen. Hier drinnen ist die reinste Sauna. Als er den Motor startet, schaltet sich auch das Radio ein, und ein Song ertönt, den ich von irgendwoher kenne.

„Sind das… die Red Hot Chili Peppers?“, frage ich zögernd.

„Ja, genau!“, erwidert Jakob, während er das Auto auf die Straße fährt. Er lächelt mir zu. „Das ist ‚Under the Bridge‘, eins meiner Lieblingslieder. Magst du die Band auch?“

Ich zucke mit den Schultern, und sein Lächeln wird ein wenig schwächer.

„Oh, stimmt ja. Tut mir leid“, sagt er, und ich schweige ein wenig beschämt.

Jakob fährt los, die Straße runter, die ich gestern mit Lukas entlanggelaufen bin. Im Tageslicht stelle ich fest, dass es nur einen winzigen Bürgersteig gibt, wenn überhaupt; an manchen Stellen fehlt er komplett. Die Häuser haben alle höchstens ein Stockwerk über dem Erdgeschoss, ganz selten auch zwei, und oft einen Vorgarten. In einigen spielen Kinder oder Erwachsene sitzen in der Sonne. Wir kommen jetzt ans Ende des kleinen Hügels, den Lukas und ich gestern hoch gelaufen sind, und biegen nach rechts ab. Links ist der Wald, aus dem ich gekommen bin, rechts das Dorf. Schon wieder führt die Straße bergab. Es fasziniert mich, wie die Häuser an den hügeligen Untergrund angepasst sind: Manche von ihnen scheinen geradezu aus dem Boden herauszuwachsen. Hier unten sind die Häuser kleiner, und ich kann keine Vorgärten mehr sehen. Wir fahren an einem kleinen Dorfplatz vorbei, der das Zentrum des Ortes zu bilden scheint. Ein Brunnen aus rotem Sandstein mit einer schwarz lackierten Wasserpumpe steht in der Mitte des kleinen Platzes, und einige Kinder jagen einander mit Wasserspritzpistolen. Ich schaue ihnen nach, als wir vorbeifahren.

„Meine Freunde und ich haben das früher auch oft gemacht“, sagt Jakob plötzlich, „Wasserschlachten am Brunnen, das waren noch Zeiten…“

Ich schaue ihn an, doch sein Blick ruht weiterhin auf der Straße.

„Es muss toll sein, an so einem schönen Ort aufzuwachsen“, sage ich.

„Ja, auf jeden Fall“, erwidert er lächelnd.

Wir haben jetzt das Ende des Dorfs erreicht, und vor uns liegt eine Landstraße. Jakob bleibt an der Einmündung zum Dorf stehen und ich erhasche einen Blick auf das Ortsschild. Völkersweiler. Warum klingelt da bei mir nichts? Und was habe ich nur hier gemacht?

Ich seufze leise, aber anscheinend nicht leise genug, denn plötzlich sagt Jakob: „Du musst keine Angst haben, Herr Weiß ist echt nett. Er war schon immer unser Hausarzt.“

„Das ist es nicht“, erwidere ich, „Ich hab nur Angst davor, was er sagen wird…“

Jakob biegt nach rechts auf die Landstraße ab. „Egal was es ist, wir werden dir helfen“, sagt er. In meiner Brust breitet sich plötzlich ein warmes Gefühl aus. Ich habe so ein Glück, zufällig an so nette Menschen geraten zu sein.

„Danke“, sage ich leise und versuche, meine Emotionen zurückzuhalten.

Wir fahren an einem kleinen Friedhof vorbei, und dann befinden sich plötzlich sowohl rechts als auch links von uns nur noch Wiesen. Allerdings nur für etwa eine Minute, denn dann taucht schon das nächste Ortsschild vor uns auf. Gossersweiler-Stein.

„Komischer Name“, murmele ich. Auch dieser Ort sagt mir rein gar nichts.

„Ja, stimmt“, erwidert Jakob lachend, „Und er wird noch komischer, wenn du ihn pfälzisch aussprichst. Beziehungsweise die zwei Namen. Gossersweiler und Stein sind eigentlich zwei getrennte Dörfer – und wenn du zu jemandem aus Stein sagst, dass er in Gossersweiler lebt, dann Gnade dir Gott…“

Ich muss lachen. „So schlimm?“

Jakob blickt mich an. „Ich würd’s nicht versuchen“, meint er lachend. „Jedenfalls sagen wir zu Stein ‚Stä‘ und zu Gossersweiler ‚Gousch‘.“

„Hä, wieso das denn?“ Ich muss schon wieder lachen.

„Keine Ahnung“, entgegnet er schulterzuckend, „Da müsste ich meinen Opa fragen, aber der weiß es vermutlich auch nicht…“

Wir fahren in eine Rechtskurve und biegen dann rechts ab.

„Da ist es“, meint Jakob, als wir eine kleine Rampe hinauf fahren. Auf dem kleinen Parkplatz stehen bereits fünf Autos, was bedeutet, dass schon so gut wie alle Plätze belegt sind. Jakob parkt den Polo auf dem äußersten, dem einzigen freien Parkplatz, und wir steigen aus und laufen zur gläsernen Eingangstür. Galant hält er sie für mich auf. „Danke“, sage ich ein wenig verlegen und betrete die Praxis. Es ist etwas dunkel drinnen, und als ich mich umsehe, wird mir bewusst, wie klein hier alles ist: Wir stehen quasi mitten im Wartezimmer, das einfach der vordere Teil des Raums ist, nicht abgetrennt durch eine Tür, eine Wand oder etwas Ähnliches. Und direkt vor uns, ebenfalls im selben Raum, befindet sich die Rezeption. Jakob läuft an mir vorbei und erst jetzt wird mir klar, dass ich verwirrt stehen geblieben bin. Schnell laufe ich ihm nach.

„Bitte?“, fragt das Mädchen, das an der Rezeption sitzt und wohl kaum älter ist als wir.

„Hallo“, erwidert Jakob und sagt dann etwas auf Pfälzisch, dass ich als „Wir würden gerne in die Sprechstunde“ identifiziere.

„Wie jetzt, du oder sie?“ Das Mädchen deutet auf mich.

„Ähm…“ Ich weiß nicht, was ich sagen soll, doch Jakob setzt bereits zu einer Erklärung an.

„Eigentlich sie“, sagt er, „Aber ich geh mit.“

„Okayyyy“, entgegnet das Mädchen gedehnt, und meint an mich gewandt: „Ich bräucht dann noch‘s Kärtel.“

Fragend blicke ich sie an.

Jakob seufzt und erwidert: „Hat se net.“

Jetzt fällt der Groschen bei mir: Sie will meine Krankenkassenkarte. Jakob senkt die Stimme und erklärt in einer Kurzfassung den Grund für unseren Arztbesuch.

Das Mädchen seufzt und erklärt, dass sie irgendeine Karte bräuchte, woraufhin Jakob ihr sagt, dass sie seine nehmen soll. Mit vorwurfsvollem Blick folgt sie seinem Rat, steckt seine Karte in das Erfassungsgerät und gibt sie ihm dann zurück.

„Dann grad noch än Moment Platz nemme“, sagt sie und deutet mit dem Kopf auf den Wartebereich, aus dem uns schon von weitem neugierige Blicke entgegenschlagen.

Als wir hinlaufen, schauen die meisten weg, während andere keinen Hehl aus ihrer Neugier machen.

„Hallo“, sagt Jakob freundlich in die Runde, woraufhin die meisten auch ein Hallo murmeln, dann setzen er und ich uns auf die äußersten Plätze einer Wartebank. Außer uns sitzen noch eine junge Mutter mit zwei quengelnden Kindern, ein Mann in Handwerkerkleidung, zwei alte, miteinander tuschelnde Damen und ein etwa vierzehn- oder fünfzehnjähriger Junge im Wartebereich. Während die Damen weiterreden, wirft eine von ihnen immer wieder Blicke in Jakobs und meine Richtung.

„Warum schauen die so?“, flüstere ich ihm zu, was ihn zu amüsieren scheint.

„Weil sie dich nicht kennen“, erwidert er so dicht an meinem Ohr, dass sein Atem mich kitzelt. Ich blicke ihn an.

„Du bist etwas Neues, Exotisches, worüber es sich zu tratschen lohnt“, meint er mit einem amüsierten Grinsen, „Ignorier es einfach.“

„Und dich kennen sie?“, frage ich nach.

„Ich glaube, eine von ihnen war mit meiner Oma befreundet, keine Ahnung. Nur weil alte Leute dich kennen, heißt das nicht, dass du sie auch kennst. Meistens ist das Gegenteil der Fall…“

Die Frau mit den Kindern wird ins Behandlungszimmer gerufen. Die beiden alten Frauen quatschen immer noch über uns.

Ich nehme mir eine der Zeitschriften, die auf dem niedrigen Tisch vor uns liegen, und lese ein wenig darin. Es ist ein Naturmagazin mit Bildern von wunderschönen Landschaften. Ich blättere es durch und betrachte circa hundert Orte, an denen ich jetzt lieber wäre als hier.

„Jakob Sommer?“, sagt plötzlich eine Stimme und Jakob erhebt sich. Ich habe gar nicht gemerkt, wie schnell die Zeit vergangen ist. Ich laufe Jakob nach und folge ihm durch eine offene Tür neben der Rezeption. Es befindet sich nicht viel in dem Raum, nur ein Schreibtisch mit Drehstuhl, zwei weitere Stühle, ein Waschbecken und eine Liege. Am Schreibtisch sitzt ein Mann, der uns den Rücken zuwendet. Jakob setzt sich auf einen der anderen Stühle und ich folge zögernd seinem Beispiel.

Der Mann steht auf und schließt die Tür. Er ist vielleicht Mitte 40, hat dunkle Haare und eine Brille. Erst als er zurückkommt, scheint er mich zu bemerken.

„So, womit kann ich helfen?“, fragt er und nimmt auf seinem Stuhl Platz. Ich bin überrascht, dass er hochdeutsch spricht.

„Wir sind eigentlich nicht wegen mir hier, sondern wegen ihr.“ Jakob deutet mit dem Kopf auf mich. „Mein Bruder hat sie gestern im Wald gefunden, und sie hat ihr Gedächtnis verloren.“

Der Arzt blickt von Jakob zu mir und sein Blick ruht auf mir, ohne dass er etwas sagt.

„Er hat Recht“, sage ich nervös, „Alles woran ich mich erinnern kann, ist mein Vorname. Ich…“ Ich muss schlucken. „Ich glaube, dass mich etwas am Hinterkopf getroffen hat. Ich habe da eine Wunde…“

„Kann ich mir die mal ansehen?“, fragt der Arzt. Ich nicke und stehe auf. Dann wende ich ihm den Rücken zu, löse meinen Zopf und streiche mein Haar beiseite, sodass er die Wunde betrachten kann.

Der Arzt stößt einen Pfiff aus. „Das ist nicht gerade was Kleines. Eigentlich hätte man die auch nähen können, aber dafür ist es jetzt zu spät… Wurde die Wunde gereinigt?“

„Ich war gestern duschen“, murmele ich kleinlaut und wende mich wieder dem Arzt zu.

„Wir sollten sie trotzdem noch desinfizieren“, meint er, „Ich bin gleich zurück.“

Mit diesen Worten verlässt er das Zimmer und lässt uns allein zurück.

„Hey, alles klar?“, fragt Jakob.

Ich nicke. „Ich frage mich nur, wie das passiert sein könnte…“

In diesem Moment kommt der Arzt zurück, mit einem Tupfer und Desinfektionsmittel.

„Können Sie bitte auf der Liege Platz nehmen?“

Ich nicke und tue was er sagt. Dann hebe ich mein Haar wieder an, sodass er die Wunde sehen kann, und er beginnt, sie zu desinfizieren. Ich zucke zusammen und stoße einen Schmerzenslaut aus. Das Mittel brennt wie Feuer.

„Wir haben’s schon“, meint der Arzt in diesem Augenblick. Ich atme einen Moment lang durch, dann frage ich: „Glauben Sie, mein Gedächtnisverlust hängt mit dieser Wunde zusammen?“

„Das glaube ich nicht nur, da bin ich mir sogar sicher“, erwidert er.

Mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken, obwohl ich es bereits geahnt habe. Aber die Gewissheit zu haben, macht alles noch unheimlicher. „Und wie… habe ich diese Wunde bekommen?“

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