Kitabı oku: «Wer ist Clara?», sayfa 5
„Schieß los“, sagt er, während wir unsere Schuhe ausziehen.
„Warum wohnt Anna neben diesem Freak?“ Es erscheint mir völlig unlogisch, warum jemand ein Haus gerade neben so jemandem bauen sollte.
Jakob seufzt. „Das frage ich mich auch manchmal.“ Er hält einen Moment lang inne. „Wollen wir uns auf die Terrasse setzen?“, fragt er dann mit einem Blick zu mir.
Ich nicke, Luchsi tapst in ihr Körbchen im Wohnzimmer, und wir beide machen es uns wieder auf dem Sofa draußen bequem.
„Du denkst wahrscheinlich gleich, dass Anna total gestört ist, aber sie war mal mit Eddie zusammen.“
„Was?“ Ich schreie das Wort beinahe heraus, so geschockt bin ich von dieser Enthüllung. Wie kann eine so elegante, hübsche, erfolgreiche Frau mal was mit diesem Freak gehabt haben?
„So habe ich auch reagiert, als ich es erfahren habe“, sagt Jakob und kann sich ein kleines Grinsen nicht verkneifen, „Aber du musst wissen, dass das alles seeeehr lange her ist. Die beiden waren Teenager – und Eddie muss damals noch normal gewesen sein. Das war, bevor er mit den Drogen angefangen hat…“
Ich muss schlucken. „Warum hat er das getan?“, frage ich.
Jakob zuckt mit den Schultern. „Er hatte es nicht leicht, hat Anna gemeint. Sein Vater ist jung gestorben, und seine Mutter muss ziemlich kalt zu ihm gewesen sein. Irgendwann hat er Depressionen bekommen, und deshalb eine Therapie begonnen, sie aber wieder abgebrochen und stattdessen angefangen, Drogen zu nehmen. Keiner konnte ihm helfen – nicht mal Anna, obwohl sie es versucht hat.“
„Obwohl sie nicht mehr zusammen waren?“, frage ich.
„Ja, sie hat, glaube ich, nie damit aufgehört, sich um ihn zu sorgen. Auch wenn man heute über Eddie spricht, und sie dabei ist, bekommt sie diesen schrecklich traurigen Ausdruck in ihren Augen.“
Ich muss schlucken. Diese Geschichte ist wirklich schrecklich, und die Tatsache, dass alle Eddie als den Verrückten im Dorf betrachten, macht die Sache nur noch schlimmer. Er ist ein armer, gequälter Mensch, dem niemand helfen konnte. Und dennoch habe ich Angst vor ihm. Wenn ich nur zurückdenke an den Ausdruck in seinen Augen, als er mich angesehen hat, bekomme ich eine Gänsehaut…
„Anna war ja ein paar Jahre in den USA, und als sie zurückkam, hat sie zunächst in Landau gewohnt, aber sie wollte unbedingt wieder zurück nach Völkersweiler, um näher bei uns zu sein. Unsere Familie hat das Grundstück da oben schon seit einer Ewigkeit besessen, und als sie mit ihrer Baufirma erfolgreich wurde, hat sie meinem Vater seinen Anteil ausbezahlt und dort ihr Haus gebaut.“
Ich zögere. „Und hat sie keine… Angst vor diesem Eddie?“, frage ich vorsichtig.
Doch Jakob schüttelt den Kopf. „Er würde ihr nie etwas tun. Ich glaube, dass er trotz allem nie vergessen kann, dass sie sozusagen seine erste Liebe war. Und wohl auch seine einzige…“
Ich senke den Blick. Wenn die Geschichte nicht so grausam wäre, würde ich diesen Teil fast romantisch finden.
„Manchmal schaut sie immer noch bei ihm vorbei und guckt, ob er seine Stromrechnungen bezahlt hat“, sagt Jakob.
„Oh wow“, murmele ich. Ich bewundere Anna dafür, was sie tut. Mich würden keine zehn Pferde in das halb zerfallene Haus bringen…
„Ja, ich schätze, als Bürgermeisterin muss sie so sozial sein… Aber für mich wäre es auch nichts.“ Er zwinkert mir zu, worauf ich mit einem Lächeln antworte. Der Schreck von vorhin ist fast wieder vergessen. Aber nur fast. Ich bekomme das Bild dieser Augen einfach nicht aus dem Kopf und befürchte, dass ich heute Nacht davon träumen werde…
Ich lasse meinen Blick über den Garten schweifen: Bunte Blumenbeete, kleine Bäume und sogar einen kleinen Teich gibt es neben dem Pavillon, der mir schon am ersten Abend aufgefallen ist.
„Euer Garten ist wirklich wunderschön“, sage ich.
„Aber auch nur, weil sich der beste Rasenmäher der Welt darum kümmert.“
Ich blicke ihn an und sehe das Grinsen in seinem Gesicht.
„Du?“, frage ich und muss lachen, als er stolz nickt.
„Hast du die Fische schon gesehen?“, fragt er einen Moment später.
Ich schüttele den Kopf.
„Na dann, komm mal mit“, meint Jakob und erhebt sich. Ich stehe ebenfalls auf und folge ihm zu dem kleinen Teich, an dessen Oberfläche sogar ein paar Seerosen schwimmen. Im Wasser kann ich einige Fische erkennen: Einer ist ganz orange, zwei andere weiß und orange gefleckt, ein vierter schwarz und orange. Ein weiterer Fisch, ganz weiß, taucht unter den Seerosen auf.
„Sind das Koi-Karpfen?“, frage ich, woraufhin Jakob nickt. Wir gehen beide in die Hocke, um die Fische besser betrachten zu können.
„Die sind wirklich schön“, sage ich, während ich die Fische beobachte, wie sie sich schnell und wendig durchs Wasser bewegen.
„Der weiße heißt übrigens Daenerys.“
Ich muss lachen.
„War Johannas Idee“, erklärt er, „Der orangefarbene heißt Goldie – auch Johannas Idee.“
„Sehr kreativ“, erwidere ich, während ich mein Lachen unterdrücke.
„Nicht wahr?“, entgegnet er, „Genauso wie die Namen der Zwillinge“, er deutet auf die beiden weiß-orange gemusterten Fische, „Mario und Luigi.“
Nun pruste ich vor Lachen. „Sind das überhaupt Männchen?“
„Wer weiß, wer weiß…“, entgegnet Jakob, „Frag Lukas, der hat die Namen ausgesucht…“
„Und durftest du auch einen Namen aussuchen?“, frage ich.
„Oh ja, für mich blieb der orange-schwarze übrig“, erwidert er.
„Und wie hast du ihn genannt?“
„Nemo“, entgegnet er lächelnd.
„Oh, das ist süß!“, erwidere ich und lächele ihn ebenfalls an.
Einen Moment lang sieht keiner von uns weg, dann ertönt plötzlich das Geräusch der Terrassentür, die zufällt. Wir schauen beide zurück und sehen Eva, die von der Arbeit zurück ist.
„Jakob, fährst du dann zu Opa?“, ruft sie.
„Ja, mach ich“, erwidert Jakob und erhebt sich.
„Kann ich mitkommen?“, frage ich.
„Bist… du dir sicher?“, entgegnet er zögernd, „Er ist nicht immer gut drauf, und seine Demenz kann manchmal echt anstrengend sein…“
Ich will aber noch mehr Zeit mit dir verbringen!, denke ich, aber sage stattdessen: „Ich würde gerne mitkommen, wenn ich darf.“
„Okay“, erwidert er lächelnd.
Wir gehen zurück ins Haus, wo Eva bereits eine Kühltasche mit Lebensmitteln vorbereitet hat.
„Wie war euer Tag? Irgendwas Neues?“, fragt sie an mich gewandt, während sie ihre Einkäufe aus einer anderen Kühltasche in den Kühlschrank legt.
„Nein, leider nicht“, erwidere ich und habe fast ein schlechtes Gewissen, weil ich keinerlei Fortschritte mache. Sie nickt abwesend und sagt dann an Jakob gewandt: „Das ist sein Abendessen für heute, und ich habe noch Kuchen für morgen gekauft. Jakob nickt und nimmt die Tasche, bevor wir wieder nach draußen gehen und in sein Auto steigen.
„Funktioniert die Pumpe eigentlich?“, frage ich, als wir kurz darauf erneut an dem Brunnen auf dem Dorfplatz vorbeifahren.
„Was?“
„Die Pumpe am Brunnen, passiert etwas, wenn man sie betätigt?“
„Nein“, lacht er, „Das ist nur Deko. Aber wir haben dort früher, als Kinder, die ein oder andere Wasserschlacht veranstaltet.“
Ich lache.
„Das Wasser ist aber eiskalt, also nicht unbedingt die beste Idee. Aber Spaß hat es trotzdem gemacht…“
Ich lächele und frage mich im selben Moment, wie meine Kindheit wohl gewesen ist. Ob ich auch Eltern und Geschwister habe, die mich vermissen? Aber wenn dem so wäre, hätten sie dann nicht schon längst nach mir gesucht?
Ich spüre, wie ich bei dem Gedanken traurig werde, während Felder und in der Ferne der Wald an mir vorbeiziehen. Ein Ortsschild zeigt einen Moment später, dass wir uns jetzt in Gossersweiler-Stein befinden. Schon wieder.
„Kommt deine Familie aus dem Ort?“, frage ich.
„Die meines Vaters ja, meine Mutter kommt aus einem anderen Ort in der Nähe. Der Ort heißt Lug.“
„L-U-G?“, frage ich. Er nickt.
„Drei Buchstaben?“ Ich bin verwirrt.
„Könnte der kürzeste Ortsname in Deutschland sein“, erwidert Jakob lachend. „Ja, die beiden haben sich schon als Jugendliche kennengelernt und sind mittlerweile seit fünfundzwanzig Jahren zusammen.“
„Krass“, erwidere ich, „Das ist eine echt lange Zeit…“
„Ja, aber wenn man sich liebt, warum nicht?“
„Hast du denn eine… Freundin?“, frage ich nach einem Moment des viel zu kurzen Überlegens, und würde gleich danach am liebsten im Boden versinken.
„Nein“, erwidert er und ich atme innerlich auf. Er wartet ebenfalls einen Moment, bis er weiterspricht: „Ich könnte dich jetzt fragen, ob du einen Freund hast, aber die Antwort darauf kenne ich ja…“
Ich lache und hoffe, dass er mich nicht gleich anschaut und sieht, wie rot ich geworden bin. Der Gedanke kam mir bisher noch gar nicht. Was, wenn ich einen Freund habe, der mich vermisst? Ich habe plötzlich einen Kloß im Hals. Wie ist das wohl, wenn man plötzlich weiß, dass man mit jemandem zusammen ist, sich aber an keinen einzigen Moment mit der Person erinnern kann? Ist eine Beziehung dann überhaupt noch möglich?
Wir biegen in eine kleine Querstraße ein, die so eng ist, dass ich mich frage, wie Jakob es schafft, nicht beide Seitenspiegel abzufahren. Aber er scheint es gar nicht mehr zu bemerken, so oft ist er die Strecke wahrscheinlich schon gefahren…
Wir halten an einem Haus, dessen hölzerner Balkon mir sofort ins Auge springt. Auf dem Balkon stehen mehrere Gartenstühle, und auf einem davon sitzt ein Mann, der Jakob fröhlich zuwinkt, als dieser aus dem Auto steigt.
„Hallo, Opa!“, ruft Jakob nach oben. „Hallo!“, rufe auch ich. Dann schließt er die Tür zum Haus auf und wir treten beide ein. Ich fröstele. Im Vergleich zu draußen ist es hier ziemlich frisch. Ich folge Jakob eine Marmortreppe hinauf und trete dann durch eine weitere Tür in einen Raum, der das Esszimmer zu sein scheint.
Die Tür zum Balkon steht offen und wir gehen nach draußen zu Jakobs Großvater. Dieser sitzt mit seiner Zeitung auf einem Gartenstuhl, trägt ein T-Shirt und eine Jogginghose, und scheint gerade vollkommen entspannt zu sein.
Jakob wechselt nun wieder in den Pfälzisch-Modus und stellt mich seinem Großvater als eine Freundin vor.
„Schön, Sie kennen zu lernen“, sage ich. Meine Aussprache scheint ihn zu irritieren, denn er erwidert: „Ebenso, ebenso“, woraufhin Jakob leise und mit amüsiertem Grinsen zu mir sagt: „Ich habe ihn noch nie hochdeutsch reden hören!“
„Wie war dein Tag, Opa?“, fragt Jakob, immer noch auf pfälzisch.
„Gut, gut. Ich hab Zeitung gelesen und war im Garten“, entgegnet dieser, nun ebenfalls wieder in seinem Dialekt, „Und du?“
„Wir waren auch draußen, mit Luchsi“, sagt Jakob, „Und jetzt machen wir dir was Gutes zum Abendessen.“
„Was gibt’s denn?“, fragt sein Großvater.
„Selbstgemachte Pizza“, erwidert Jakob.
„Oh, die esse ich gerne“, sagt sein Opa.
„Weiß ich doch“, entgegnet Jakob lächelnd. Ich folge ihm in die Küche die, ehrlich gesagt, mal wieder renoviert werden könnte. Die Fliesen sind in diesem komischen Siebziger Jahre-Grün gehalten, und passen nicht gerade gut zu den braunen Fliesen auf dem Boden… Aber immerhin scheinen noch alle Geräte zu funktionieren.
Jakob holt einige Lebensmittel aus der Kühltasche, die uns Eva mitgegeben hat: Pizzateig, Tomatenmark, eine Paprika, Salamischeiben, frische Champignons und Streukäse.
„Wir haben Glück, heute ist er gut drauf“, murmelt er, während er alles auf der Ablage ausbreitet.
„Man merkt ihm gar nicht an, dass er dement ist“, sage ich leise.
„Jetzt gerade nicht, aber es gibt auch schlechte Tage“, meint Jakob und wäscht sich an der Spüle die Hände. Ich tue es ihm gleich, bevor wir anfangen. Ich schneide die Pilze und die Paprika, während Jakob den Pizzateig ausrollt und mit Tomatenmark bestreicht. Wir sind ein gutes Team, und so haben wir ruck zuck die fertig belegte, und gewürzte Pizza im Ofen.
„Lust auf noch mehr Kinderbilder von mir und den anderen?“, fragt er lächelnd, nachdem er den Ofendeckel hochgeklappt hat.
„Aber immer doch“, erwidere ich, und er führt mich ins Wohnzimmer, in dem auf einer Kommode unzählige gerahmte Bilder stehen. Ich erkenne Eva und Paul auf einem alten Hochzeitsbild. Die beiden sehen so jung und glücklich aus; gerade der griesgrämig wirkende Paul ist mit dem breiten Lächeln im Gesicht kaum wieder zu erkennen. Als nächstes fällt mein Blick auf ein Bild eines Jungen in einem schicken Anzug, in dem er sich nicht unbedingt wohlzufühlen scheint. Schüchtern lächelt er in die Kamera.
„Bist das du?“, frage ich an Jakob gewandt und deute auf das Bild. Eigentlich ist es eine rhetorische Frage: Seine mittlerweile markanter gewordenen Gesichtszüge sind auf dem Foto noch weich und kindlich, aber dennoch habe ich ihn sofort an den dunkeln Augen erkannt.
Er nickt. „Das war an meiner Konfirmation – ist schon eine ganze Weile her…“
Er deutet auf ein anderes Bild, das eine ältere Frau zeigt, die auf einer Wiese sitzt, auf ihrem Schoß ein Baby, und neben ihr zwei kleine Jungs, die fröhlich in die Kamera lachen.
„Das ist mein Lieblingsbild“, sagt er.
„Deine Oma?“, frage ich.
Er nickt. „Sie ist leider vor ein paar Jahren gestorben. Seitdem kommt jeden Tag einer von uns her, um sich um Opa zu kümmern.“
„Das tut mir leid“, murmele ich und spiele einen Moment lang mit dem Gedanken, seine Hand zu nehmen, lasse es dann aber doch lieber.
„Ist schon gut. Die Erinnerungen an sie werden wir für immer haben.“
Wir bleiben noch ein paar Minuten stehen und Jakob erklärt mir, wo und wann ein paar Bilder aufgenommen wurden. Dann setzen wir uns nach draußen zu seinem Großvater.
„Wie heißt du noch mal?“, fragt dieser mich mit einem so starken Akzent, dass Jakob für mich übersetzen muss.
„Clara“, erwidere ich dann.
„Und du wohnst in Völkersweiler?“ Er spricht das Wort ‚Völkersweiler‘ dabei wie ‚Velgeschweiler‘ aus, sodass mir erst bewusst wird, was er meint, als Jakob antwortet: „Ja, sie wohnt in Völkersweiler.“
„Es gab schon einmal eine Clara in Völkersweiler“, meint Jakobs Großvater plötzlich.
„Wirklich?“, frage ich, doch Jakob winkt nur ab. Sicher redet sein Opa öfters wirres Zeug, wenn die Krankheit schon fortgeschritten ist…
„Ja, aber das ist schon lange her“, meint er und blickt in den Himmel. Plötzlich scheint er ganz abwesend zu sein.
„Ich glaube, wir sollten dann mal die Pizza aus dem Ofen holen“, sagt Jakob und steht auf.
Während er die Pizza holt, decke ich den Tisch für uns drei. Schon verrückt: Ich kenne diesen Jungen erst seit zwei Tagen, und jetzt sitze ich hier und esse mit ihm und seinem Opa zu Abend. Ich kann dennoch nicht sagen, dass es sich schlecht anfühlt, eher im Gegenteil: Es kommt mir so vor, als würden wir uns schon viel länger kennen.
Jakob bringt die Pizza aus der Küche und schneidet sie für seinen Opa in kleine Stücke, sodass dieser es nicht selbst tun muss. Die Geste rührt mich. Es tut mir leid, dass Jakob und seine Geschwister ihren Großvater irgendwann endgültig an das Vergessen verlieren werden, an eine Krankheit, für die es keine Heilung gibt.
„Schmeckt’s dir, Opa?“, fragt Jakob, nachdem wir angefangen haben zu essen.
„Ist gut“, erwidert dieser, damit beschäftigt, Pizzastücke auf seiner Gabel aufzuspießen.
Nach dem Essen stellt Jakob seinem Großvater das richtige Fernsehprogramm ein – irgendeine Naturdoku – während ich anfange, das Geschirr zu spülen. Einen Moment später kommt er zu mir, nimmt sich ein Geschirrtuch und fängt an, das gespülte Geschirr abzutrocknen und einzuräumen.
„Danke fürs Helfen“, sagt er, „Es geht echt viel schneller zu zweit.“
„Gerne“, erwidere ich, „Ich hätte ansonsten ja eh nichts zu tun gehabt…“
„Es ist bestimmt total langweilig für dich hier“, sagt er plötzlich, „Ich meine, in Völkersweiler passiert eben nicht viel…“
„Nein, Quatsch“, erwidere ich, „Ich bin gerne bei euch, ehrlich.“
Er lächelt mir zu. „Da bin ich aber froh.“
„Jakob, hilf mir mal!“, ruft plötzlich sein Opa aus dem Wohnzimmer.
„Komme!“, antwortet Jakob, legt das Geschirrtuch beiseite und geht zu ihm.
Es dauert kurz, bis er zurück ist, sodass ich das restliche Geschirr fertig gespült, und abgetrocknet habe.
„Müssen wir sonst noch irgendwas machen?“, frage ich.
Er schüttelt den Kopf. „Meine Mum hat letztes Wochenende erst die Wohnung geputzt und Wäsche gewaschen. Also haben wir jetzt frei.“ Er lächelt mir zu.
Wir verabschieden uns von Jakobs Großvater und machen uns auf den Heimweg. Dort angekommen fragt Eva ihren Sohn, wie es gelaufen ist.
„Er hatte einen guten Tag“, erwidert er, „Und dank Clara hatte ich heute auch nur halb so viel Arbeit“, sagt er an mich gewandt, was mich wieder zum Lächeln bringt.
„Ich dachte, wir sollten keine Freunde mitbringen“, stichelt Johanna, die neben ihrer Mutter auf der Couch sitzt und mit ihr irgendeine Datingshow guckt.
„Ich gehe jetzt hoch, muss an meiner Hausarbeit weiterschreiben“, sagt Jakob nur und ignoriert die Bemerkung.
Er bedankt sich im Flur noch einmal bei mir und verschwindet dann in seinem Zimmer, während ich ins Bad gehe, um zu duschen. Erneut starrt mir das blasse Gesicht aus dem Spiegel entgegen, das ich nicht wiedererkenne. Es ist jedes Mal wieder ein Schock.
„Wer bist du?“, flüstere ich und verzichte schon wieder auf eine Antwort.
Als ich in mein Zimmer zurückkehre, schalte ich den Fernseher ein, den ich bisher ignoriert hatte. Er ist klein und nicht gerade neu, aber ich will auch einfach nur ein bisschen abschalten und mich berieseln lassen – und dafür reicht er allemal. Ich zappe durch die Programme und bleibe schließlich bei derselben Datingshow hängen, die Johanna und ihre Mutter schauen. Ich frage mich, ob es tatsächlich Menschen gibt, die daran glauben, dass man auf diesem Weg die wahre Liebe finden kann. Mir fällt wieder ein, wie ich Jakob vorhin gefragt habe, ob er eine Freundin hat, und erneut ist es mir schrecklich peinlich. Jetzt denkt er bestimmt, ich will was von ihm…
Nach einer Weile schalte ich den Fernseher aus und lese stattdessen in dem Buch weiter, das ich mir aus dem Bücherregal genommen habe. Es bleibt weiterhin spannend: Sowohl der Mann als auch die Frau versuchen, einander kennenzulernen, aber ihnen werden dabei so viele Hindernisse in den Weg gelegt, dass ich bezweifle, dass die beiden am Schluss ein Happy End bekommen… Das Buch fesselt mich so sehr, dass ich irgendwann auf die Uhr schaue und erschrocken feststelle, dass es schon fast zwei Uhr ist. Ich gehe ins Bad, putze mir die Zähne und lege mich nach meinem üblichen Kontrollblick in den Garten hin. Wieder ist niemand dort unten und ich frage mich mittlerweile ernsthaft, ob ich mir die Person in der ersten Nacht nur vorgestellt habe…
In dieser Nacht wache ich schweißgebadet auf. Ich habe von Eddie geträumt, davon, dass er mich und Jakob verfolgt hat. Aber es waren nicht seine Schreie, oder sein schäbiges Aussehen, die mir am meisten Angst gemacht haben. Es waren seine Augen. Diese Augen verfolgen mich auch jetzt noch, als ich schnell atmend in die Dunkelheit starre. Es dauert eine ganze Weile, bis ich mich wieder soweit beruhigt habe, dass ich weiterschlafen kann.
Früher:
Ich habe das Geld genommen und mir davon ein Zugticket gekauft, genauso wie es in dem Brief stand. Und nun bin ich auf dem Weg in eine Stadt, in der ich noch nie gewesen bin.
Ich bin noch nie so weit weg von zu Hause gewesen, schon traurig.
Aber als ich so im Zug sitze, stelle ich mir vor, wie es wäre, das alles hinter mir zu lassen: die schlimme Zeit, die Menschen, die mich beleidigt und mit dem Finger auf mich gezeigt haben, und die Menschen, die mir mal so nah waren, und mir dann einen Dolch in den Rücken gerammt haben.
Was wäre, wenn ich eines Tages gehen würde, einfach so? Würde mich überhaupt jemand vermissen?
Jetzt:
Kapitel 5: Verbunden
Der nächste Tag beginnt genau wie gestern und wie der Tag davor – so langsam komme ich mir vor wie in dem Film Und Täglich Grüßt das Murmeltier… Den Film habe ich gesehen, da bin ich mir ganz sicher.
Einen Unterschied gibt es allerdings: Als ich in die Küche komme, ist noch nichts vorbereitet. Könnte es etwa sein, dass…? Ich gehe zurück nach oben und stelle fest, dass Jakobs Zimmertür noch zu ist. Leise klopfe ich an, doch es kommt keine Reaktion. Ich öffne die Tür vorsichtig einen Spaltbreit und sage leise: „Jakob?“
Drinnen fällt das gedimmte Licht der Sonne durch die Rollladenschlitze in ein ansonsten dunkles Zimmer.
„Hm?“, kommt es verschlafen zurück.
„Oh, tut mir leid, ich wollte dich nicht wecken!“, sage ich und will die Tür schon wieder schließen, doch er sagt „Warte!“ und hält mich damit zurück.
Nun öffne ich die Tür ganz und sehe, wie sich seine Umrisse unter der Bettdecke bewegen.
„Wie viel Uhr ist es?“, fragt er gähnend.
„Kurz nach zwölf“, erwidere ich.
„Oh, Mist!“, stößt er hervor.
Ich trete ein und stelle mich vor sein Bett. Er reibt sich den Schlaf aus den Augen, während er sagt: „Wegen der blöden Hausarbeit war ich noch ewig wach. Ich hätte nicht so lange schlafen sollen…“
„Ist doch nicht schlimm, wir sind alleine“, erwidere ich, „Und ich werde dich nicht verpetzen.“
Er blickt mich zum ersten Mal an und lächelt. „Guten Morgen!“ Sein Blick ist noch ganz verschlafen, und mit seinen verstrubbelten Haaren wirkt er jünger als sonst. Mein Herz macht einen kleinen Satz.
„Guten Morgen!“, erwidere ich.
„Bist du auch gerade aufgestanden?“, fragt er, und mir wird bewusst, dass ich immer noch im Schlafanzug bin.
„Ja“, erwidere ich, „Und ich habe vergessen, Johanna gestern nach einem T-Shirt zu fragen…“
„Du kannst eins von mir haben“, entgegnet er, während er sich durch das wirre Haar streicht.
„Ehrlich?“
„Klar, bedien‘ dich!“, meint er und deutet auf seinen Kleiderschrank gegenüber dem Bett.
Ich öffne ihn und nehme das erstbeste Shirt, das mir in die Hände fällt. Es ist ein Bandshirt von Green Day.
„Ist das okay?“, frage ich und zeige ihm meine Auswahl.
„Klar“, erwidert er und setzt sich auf. „Geh ruhig schon mal nach unten, ich komme gleich.“
„Okay“, sage ich und gehe kurz ins Gästezimmer, um mich umzuziehen. Das Shirt ist mir viel zu groß und hängt mir über eine Schulter, aber es gefällt mir trotzdem. Und es riecht gut, frisch gewaschen und irgendwie nach… Jakob? Lächelnd laufe ich wieder in die Küche.
Während Jakob im Bad ist, bereite ich das Frühstück für uns beide zu – Toast, Butter, Nutella, Marmelade und als ich im Kühlschrank eine Packung Eier finde, entscheide ich mich spontan dazu, auch noch Rührei zu machen. Dann trage ich alles bis auf die Eier, die in der Pfanne brutzeln, auf die Terrasse und begrüße lächelnd Jakob, der in dem Moment in die Küche kommt.
„Oh wow, du hättest dir doch nicht so viel Arbeit machen müssen!“, meint er, als er sieht, dass ich koche.
„Ach was“, winke ich ab, „Betrachte es als Dankeschön für das T-Shirt.“
Wir müssen beide lachen. Ich nehme zwei Teller und verteile das Rührei zu gleichen Teilen darauf.
„Schmeckt echt super“, sagt er, als wir kurz darauf auf der Terrasse sitzen und essen.
„Danke“, erwidere ich, „Aber unsere Pizza gestern war auch nicht schlecht, oder?“
„Das stimmt“, meint er, „Wir sollten ein Restaurant eröffnen, sobald du deine Erinnerungen wieder hast.“
„Klingt nach einem guten Plan“, entgegne ich lachend.
„Was willst du später eigentlich werden?“, frage ich einen Moment später.
„Bitte frag nicht“, erwidert er abwinkend, „Keiner in meiner Familie versteht, warum ich überhaupt meine Fächer studiere, wenn ich kein Lehrer werden will. Und ich frage mich das selber auch manchmal… Früher dachte ich immer, dass ich mal Journalist werde, aber ich bezweifle mittlerweile, dass ich damit genug Geld verdienen würde…“
„Genug Geld wofür?“, frage ich, und nehme einen Schluck von meinem Orangensaft.
„Na ja, zum… Leben?“, erwidert er, „Ich meine, irgendwann hätte ich auch gerne eine Familie…“
„Magst du Kinder?“, frage ich.
„Klar, wer mag keine Kinder?“
„Ich“, erwidere ich.
„Echt?“, entgegnet er überrascht.
„Nö, war ein Witz.“ Wir müssen beide lachen.
„Ich mag Kinder auch“, stelle ich noch einmal klar, „Also nicht jetzt – das wäre ein bisschen unpraktisch mit der ganzen Sache mit dem Gedächtnisverlust, aber irgendwann mal…“
„Ich verstehe dich“, erwidert er, was mich zum Lächeln bringt.
Und tatsächlich habe ich das Gefühl, dass wir einander verstehen, auch wenn wir uns noch nicht lange kennen. Ich fühle mich wohl in seiner Gegenwart, und ich glaube, dass es auch umgekehrt so ist. Zumindest hoffe ich das.
Als wir fertig gefrühstückt und abgeräumt haben, spielen wir wieder das Quiz gegeneinander, bis wir von Johanna unterbrochen werden, die gerade aus der Schule kommt.
„Du hättest uns ruhig abholen können“, sagt sie an Jakob gewandt.
„Ich hab lange geschlafen“, erwidert er.
„Schön für dich“, entgegnet sie und verschwindet wieder nach drinnen.
Ich blicke ihn an, und erinnere mich wieder an unser Gespräch von gestern. Er scheint dem gleichen Gedankengang zu folgen, und seufzt nur.
Kurz nach Johanna kommt auch Eva von der Arbeit und bittet Jakob, mit Luchsi Gassi zu gehen. Natürlich gehe ich wieder mit. Dieses Mal schlagen wir einen ganz anderen Weg ein und laufen zu dem Brunnen auf dem Dorfplatz. Ich betätige die Pumpe, um Jakobs Aussage von gestern zu überprüfen, und stelle enttäuscht fest, dass es sich dabei tatsächlich nur um eine Attrappe handelt. Wir setzen uns kurz auf eine der Bänke beim Brunnen, und ich lasse den Blick über den Dorfplatz schweifen. Ich bleibe bei einem Schild hängen, das an eins der Häuser montiert ist. ‚De Schoppe‘ steht darauf. Ich deute auf das Schild und frage Jakob, was es bedeutet. Lachend erklärt er mir, dass es sich bei einem ‚Schoppen‘ um einen halben Liter eines – meistens alkoholischen – Getränks handelt, und dass das der Name des Gasthauses war, das sich früher in dem Gebäude befand. Ein Blick auf die mit Papier abgeklebten Fenster verrät allerdings, was Jakob einen Moment später erzählt: „Es wurde schon geschlossen, als ich noch ein Baby war“, sagt er, „Es wird aber bald wiedereröffnet werden.“
„Echt? Das ist ja cool!“, entgegne ich.
„Ja, aber das ist noch geheim, also sag es niemandem weiter“, erwidert er verschwörerisch.
„Woher weißt du es dann?“
„Weil Anna das Gebäude gekauft hat.“
„Echt jetzt?“
Er nickt. „Als sie Bürgermeisterin geworden ist, war das ihr Hauptthema: wieder Leben ins Dorf bringen. Wenn du dich umsiehst, merkst du, dass es hier kaum noch was gibt. Sogar wenn man zum Arzt oder zum Bäcker will, muss man ins Nachbardorf. Hier ist wirklich nichts mehr. Und deshalb will sie die Kneipe wiedereröffnen – weil es ein erster Schritt zur Wiederbelebung von Völkersweiler ist. Sie sucht aber noch nach einem Geschäftsführer.“
„Gibt es eigentlich irgendwas, was Anna nicht geschafft hat?“, frage ich.
Jakob zuckt die Schultern. „Wenn sie sich etwas vornimmt, dann schafft sie das eigentlich auch immer. Sie ist einfach wahnsinnig ehrgeizig und arbeitet härter als irgendjemand sonst, den ich kenne…“
Ich denke an unser Abendessen mit Anna zurück. „Kann ich dich was fragen, Jakob?“
„Ja klar“, erwidert er.
„Es geht mich eigentlich nichts an, aber mir ist vorgestern aufgefallen, dass Anna und dein Vater… nicht besonders eng miteinander zu sein scheinen…“
Er schaut mich überrascht an. „Ist das so offensichtlich?“
Ich zucke mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Ich meine, es geht mich ja eigentlich auch nichts an…“, wiederhole ich ein wenig beschämt.
Jakob scheint einen Moment lang zu überlegen, was er mir erzählen soll, dann erwidert er: „Ja, ihr Verhältnis ist wirklich ein bisschen komisch. Aber ich glaube, das liegt vor allem daran, dass Anna sechs Jahre jünger als er ist und schon so viel erreicht hat, was er niemals erreichen wird.“
Ich beiße mir auf die Lippe. So genau wollte ich das, glaube ich, gar nicht wissen. Doch Jakob redet noch weiter: „Mein Vater ist Elektriker und meine Mum arbeitet halbtags an der Kasse. Das ist natürlich nichts Negatives, aber Anna war nun mal die Einzige in der Familie, die studiert hat, bis ich anfing. Sie ist die Einzige, die es wirklich zu etwas gebracht hat. Sie ist die Schlaue, die Erfolgreiche, die ein eigenes Unternehmen besitzt und auch noch Bürgermeisterin ist. Und dann ist sie auch noch jünger als mein Vater. Versteh mich nicht falsch, mein Vater ist ein guter Mensch, aber wären wir in der Situation nicht alle ein wenig neidisch?“
Ich blicke ihn an und erwidere zögernd: „Vermutlich schon.“
„Und was noch dazu kommt ist, dass sie unser Haus entworfen, und gebaut hat, und dass meine Eltern das Haus bei ihr abbezahlen müssen. Natürlich hat sie ihnen einen guten Preis gemacht, aber es ist trotzdem noch jeden Monat eine ganz schön hohe Summe, die die beiden ihr bezahlen – und das ist nicht unbedingt leicht mit ihren Jobs…“
Ich muss schlucken. Das war mir natürlich nicht bewusst. Niemals hätte ich gedacht, dass Jakob mich in diesen Familienkonflikt einweihen würde.
„Also ja, mein Vater liebt seine Schwester, aber trotzdem ist ihr Verhältnis ein bisschen… schwierig…“, beendet er seine Erklärung.
Ich nicke. Es ist nicht immer leicht, Geschwister zu haben, das weiß Jakob sicher auch aus Erfahrung.
„Und du weißt, wie gern ich sie habe, aber manchmal denke ich, vielleicht wäre es doch besser gewesen, wenn sie in den USA geblieben wäre. Dann hätten meine Eltern jetzt keine Schulden bei ihr, und ihr Verhältnis zu meinem Vater wäre sicherlich auch besser…“
„Danke“, sage ich.
„Danke wofür?“
„Danke, dass du mir vertraust“, erwidere ich.
„Es tut auch ganz gut, mal mit jemandem über diese Dinge reden zu können…“, entgegnet er.
Ich überlege, ob ich noch etwas sagen sollte, bleibe aber letztendlich stumm und stehe wieder von der Bank auf, damit wir weiterlaufen und über leichtere Dinge reden können.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.