Kitabı oku: «Wer ist Clara?», sayfa 3
„Also, so wie ich das beurteile, wurden sie von einem schweren Gegenstand am Kopf getroffen. Hatten Sie vielleicht einen Autounfall? Haben Sie noch weitere Verletzungen?“
Ich schüttele den Kopf. „Nein. Als ich… als Lukas mich gefunden hat, war ich… ziemlich schmutzig, aber nicht verletzt.“
„Dann lässt das für mich nur einen Schluss zu“, meint der Arzt, „Jemand muss Sie niedergeschlagen haben.“
Früher:
Ich habe es niemandem erzählt – wem denn auch?
Meine Eltern haben ihre eigenen Sorgen und Probleme, und Freunde habe ich nicht – nicht mehr…
Die letzten Monate waren die schlimmsten meines Lebens, und dann taucht plötzlich dieser Brief auf und bringt alles noch mehr durcheinander, als es ohnehin schon war. Ich bin wütend auf mich selbst, darüber, dass ich mich schon wieder so aus der Bahn werfen lasse.
Und falls es doch einen Gott gibt, bin ich auch wütend auf ihn: War das letzte Jahr denn nicht schon genug?
Jetzt:
Kapitel 3: Verschollen
Mir ist plötzlich eiskalt. „Sind Sie sich sicher?“, frage ich, „Könnte ich nicht vielleicht… im Wald spazieren gegangen, und dann ausgerutscht sein, und gestürzt, oder so was?“
Doch der Arzt schüttelt den Kopf. „Nein, dann hätten Sie auch noch weitere Verletzungen. Aber wenn es wirklich nur diese eine Wunde ist, kann ich mir nichts anderes vorstellen.“
Geschockt senke ich den Blick. Wer sollte so etwas tun? Und vor allem: Warum?
„Ich verstehe das nicht…“, murmele ich.
„Werden die Erinnerungen denn zurückkommen?“, fragt Jakob in dem Moment.
Oh mein Gott, daran hatte ich ja noch gar nicht gedacht! Gespannt blicke ich den Arzt an, doch zu meiner Erleichterung nickt er.
„Bei fast allen durch Verletzungen ausgelösten Amnesien kommen die Erinnerungen irgendwann zurück.“
„Irgendwann?“, frage ich, während mein Herz schwer wird.
„Das variiert stark, aber in Ihrem Fall würde ich sagen, dass es frühestens in ein paar Tagen und spätestens in ein paar Wochen passieren wird.“
Ein paar Wochen… Und was mache ich bis dahin?
„Können wir denn irgendwas tun, um zu helfen?“, fragt Jakob.
„Ich fürchte nein“, meint der Arzt und wendet sich dann wieder an mich. „Es kann sein, dass bestimmte Trigger ihre Erinnerungen teilweise zurückbringen. Das ist oft der Fall. Bestimmte Orte, Klänge, Gerüche; es kann alles Mögliche sein. Aber außer Ihnen Schmerzmittel für die Wunde zu verschreiben, kann ich leider nichts tun.“
„Danke, aber das brauche ich nicht“, erwidere ich. Was ich brauche, sind meine Erinnerungen, und die kann mir im Moment niemand zurückgeben…
„Gut, wir sollten es aber dennoch röntgen lassen, auch wenn ich nicht glaube, dass Sie bleibende Schäden davongetragen haben. Und falls die Wunde sich doch entzünden sollte, kommen Sie sofort zu mir, in Ordnung?“
Ich nicke. „Danke“, sage ich dann und schüttele ihm zum Abschied die Hand. Nachdem sich auch Jakob sich verabschiedet hat, verlassen wir die Arztpraxis – allerdings nicht ohne, dass er noch ein ‚Tschüss‘ in Richtung der Rezeption ruft und sogleich ein Echo davon zurückbekommt.
Als wir im Auto sitzen, lasse ich erschöpft den Kopf in meine Hände fallen und schließe für einen Moment die Augen.
„Hey, Kopf hoch“, meint Jakob aufmunternd und legt sanft seine Hand auf meinen Rücken. Ich schaue ihn an.
„Es könnte immer noch schlimmer sein“, sagt er.
„Ach ja? Wie denn?“, erwidere ich niedergeschlagen.
„Du könntest zum Beispiel obdachlos sein.“
„Wer weiß, vielleicht bin ich’s ja“, entgegne ich, „Ich hatte ja noch nicht mal einen Geldbeutel oder ein Handy dabei…“ Ich überlege einen Moment lang, dann frage ich: „Glaubst du, dass die Person, die mich niedergeschlagen hat, mir meine Sachen gestohlen hat?“
„Vielleicht hast du’s auch einfach nur verloren“, meint Jakob. „Wir werden es gleich herausfinden. Meine Eltern haben gestern schon gesagt, dass ich mit dir zur Polizei gehen soll. Vielleicht gibt es ja eine Vermisstenanzeige. Oder vielleicht hat jemand deine Sachen gefunden und abgegeben. Also: jetzt erst mal ins Krankenhaus zum Röntgen, und dann fahren wir zur Polizei.“ Mit diesen Worten nimmt er seine Hand von meinem Rücken und startet den Motor.
„Ich wünschte, ich könnte so optimistisch sein wie du…“, sage ich, während ich mich anschnalle.
Wir fahren den Weg zurück nach Völkersweiler, doch anstatt links in den Ortseingang abzubiegen, fahren wir weiter. Die Landstraße führt einen ziemlich steilen Hügel hinauf und dann in einer scharfen Kurve weiter bergauf, bevor es wieder bergab geht, mitten in den Wald hinein.
„Ziemlich schwierige Strecke, oder?“, frage ich etwas beunruhigt. Jakob gibt ganz schön Gas. Und er ist zwanzig, wie viel Fahrerfahrung kann er schon groß haben?
„Ach, ich bin früher jeden Tag diese Strecke in die Schule gefahren. Man gewöhnt sich ziemlich schnell dran…“
Ich schaue aus dem Fenster und bin überrascht, dass es scheinbar mitten im Wald überhaupt so gute Straßen gibt. Es ist wirklich schön hier, aber auch ziemlich weg vom Schuss…
„Ich würde dich ja nach Musikwünschen fragen, aber das Auto ist so alt, dass ich nur einen CD-Player habe“, sagt Jakob in dem Moment.
„Ach, kein Problem, mir gefällt deine Musik“, erwidere ich. Jetzt gerade läuft ein weiteres Lied, das mir bekannt vorkommt.
„Ist das…? Warte, gib mir eine Sekunde.“ Ich schließe die Augen und denke nach. „‚Gives You Hell‘ von The All-American Rejects.“
„Ich bin beeindruckt“, sagt Jakob grinsend. „Ist schon faszinierend, wie du dein Allgemeinwissen noch zu haben scheinst, aber nichts über dich selbst weißt…“
„Ja…“, murmele ich und versinke fast wieder in meine Gedanken, doch Jakob unterbricht mich.
„Do you speak English?“, fragt er plötzlich.
„Yes, I do“, entgegne ich wie automatisch und blicke ihn überrascht an.
„Parles-tu français?“, fragt er weiter.
„Oui?“, erwidere ich gedehnt.
„¿Hablas español?“
Ich blicke ihn an. „Nee“, entgegne ich dann und wir müssen beide lachen. „Aber danke, dass du mir demonstriert hast, dass mein Gehirn zumindest teilweise noch funktioniert…“
„Ich könnte jetzt auch anfangen, dir Matheaufgaben zu stellen, aber lassen wir das lieber, da würde ich mich wahrscheinlich total blamieren.“
„Was ist Mathe noch mal?“, frage ich, und wir lachen beide.
Jakob ist der erste Mensch, vor dem mir mein Gedächtnisverlust nicht unangenehm ist. Er ist der erste, der mir nicht das Gefühl gibt, dass ich mich für irgendwas entschuldigen müsste. Und ich schaffe es sogar noch, Witze über meine Situation zu machen, obwohl sie echt alles andere als lustig ist…
Wir haben inzwischen den Wald durchquert und ich sehe wieder nur noch Felder zu beiden Seiten der Straße.
„Und du bist die Strecke jeden Tag gefahren?“
Er nickt. „Mittlerweile nur noch einmal die Woche, wenn ich montags nach Heidelberg fahre.“
„Gefällt’s dir dort besser als hier?“, frage ich.
„Es ist anders“, erwidert er, „Die Stadt ist super schön, und ich mag die Uni sehr, aber die Leute dort sind… kalt. Ich mag die Leute hier lieber. Sie sind zwar oft neugierig und tratschen viel, aber wenn mal was ist, kannst du dich auf sie verlassen. In Heidelberg kennst du nicht mal deine Nachbarn…“
Wie aus dem Nichts taucht plötzlich ein neues Ortsschild auf: ‚Annweiler‘. Auch das sagt mir rein gar nichts.
„Warum hören die ganzen Ortsnamen hier mit –weiler auf?“, frage ich.
„Das hab ich mich auch schon gefragt“, erwidert Jakob lächelnd, „Also, ich habe mal gelesen, dass ein Weiler eine kleine Siedlung ist, kleiner als ein Dorf. Bestimmt haben sich dann die ganzen Weiler hier im Laufe der Zeit zu Dörfern entwickelt. Oder Städten. Annweiler ist sogar eine Stadt.“
Eine Stadt, die sogar einen Kreisel besitzt, durch den wir soeben gefahren sind… Tatsächlich sehe ich auf den ersten Blick, dass dieser Ort viel größer ist als Völkersweiler oder Gossersweiler: Die Hauptstraße ist zweispurig und die Gebäude größer als in den anderen Orten. Aber dennoch scheint es nur eine Kleinstadt zu sein. Zumindest kann ich nirgends Plattenbauten oder etwas anderes erkennen, was auf eine größere Stadt hindeuten würde…
Das Krankenhaus ist erwartungsgemäß ziemlich klein, und wir müssen zum Glück nicht lange warten, bis ich drankomme. Die Vermutung des Arztes bestätigt sich, und ich erfahre bereits kurz nach dem Röntgen, dass ich keine inneren Verletzungen davongetragen habe – immerhin etwas.
Danach machen wir uns gleich auf den Weg zur Polizei: Wir parken in einer Seitenstraße und laufen zu dem Gebäude, in dem sich die Polizeiwache befindet. Als wir reinkommen, stellt sich das Polizeirevier als ähnlich groß wie die Arztpraxis heraus: Es gibt eine Anmeldung, hinter der niemand sitzt, und vier Zimmer, in denen anscheinend gearbeitet wird. Eine Tür steht einen Spaltbreit offen, und ein Gespräch dringt zu uns nach draußen.
„Ja, genau so müsst des sei!“ Lachen. „Ja, ich sag’s doch! Genau so!“ Wieder Lachen. Ich bin mir sicher, dass es sich hierbei um kein professionelles Gespräch handeln kann. Jakob scheint den gleichen Gedanken zu haben wie ich, denn er geht geradewegs auf die angelehnte Tür zu und klopft gegen den Türrahmen.
„Wart mol kurz“, sagt die Stimme, und dann: „Ja?“
Jakob öffnet die Tür und grüßt den Polizisten, zu dem die Stimme gehört.
Der Mann mittleren Alters sagt etwas auf Pfälzisch in den Telefonhörer, das wohl so etwas bedeutet wie „Hör mal, kann ich dich zurückrufen? Hier ist gerade jemand gekommen…“ Dann legt er auf und bedeutet Jakob und mir hereinzukommen.
Wir nehmen auf den beiden Stühlen vor seinem Schreibtisch Platz.
„Womit kann ich eich helfe?“
Jakob erwidert – natürlich ebenfalls auf Pfälzisch – dass wir uns nach den Vermisstenanzeigen erkundigen wollten, und dann erzählt er zum dritten Mal heute die Kurzfassung meiner Geschichte. Der Polizist mustert mich einen Moment lang skeptisch, dann tippt er etwas in seinen Computer ein und starrt einige Momente lang auf den Bildschirm, während er mir immer wieder prüfende Blicke zuwirft.
„Tut mir leid, aber es sieht so aus, als ob Sie nicht vermisst werden“, wendet er sich dann mit einem starken pfälzischen Akzent an mich.
„Wurde dann vielleicht irgendwas bei Ihnen abgegeben, das mir gehören könnte?“, frage ich, „Handy, Geldbeutel…“
Doch er schüttelt den Kopf und erstickt meine Hoffnung im Keim. „Hier wurde schon seit über einem Monat nichts mehr abgegeben. Tut mir leid.“
„Danke trotzdem“, sagt Jakob.
Erneut verlassen wir einen Ort, von dem ich mir Hilfe erhofft hatte. Und erneut gehen wir mit leeren Händen.
„Was machen wir jetzt?“, frage ich Jakob, als wir wieder draußen sind. Die Sonne scheint geradezu ironisch vom strahlend blauen Himmel.
„Weiß nicht. Magst du ein Eis?“
So war die Frage eigentlich nicht gemeint, doch ich nicke trotzdem. Warum nicht? Jetzt gerade kann ich gut eine kleine Aufmunterung gebrauchen… Wir lassen das Auto stehen und laufen ein Stück.
„Hey Clara“, meint Jakob plötzlich, „Also wegen dem Gedächtnisverlust… Du musst dir keine Sorgen machen, wo du wohnen kannst, bis deine Erinnerungen zurückkommen. Wir werden dich jetzt nicht rausschmeißen oder so…“
Ich bleibe stehen und blicke ihn an. Als er es bemerkt, bleibt er ebenfalls stehen.
„Jakob, das…“ Ich schüttele den Kopf. „Danke, das… Das ist wahnsinnig nett!“ In einer plötzlichen Gefühlsregung umarme ich ihn. Er ist zunächst so überrascht, dass er nicht reagiert, aber nach einem Moment zieht er mich noch näher an sich. Es fühlt sich mehr als gut an – so eine Umarmung hatte ich bitter nötig, nach allem, was seit gestern Abend passiert ist…
Ich löse mich wieder von ihm und er lächelt mir aufmunternd zu. Wir überqueren die Straße und stehen jetzt vor einer relativ großen Bankfiliale. Davor fließt ein kleiner Bach entlang, an dem einige Menschen sitzen und Eis essen. Wir folgen dem Bachlauf und kommen in eine malerische Gasse mit Fachwerkhäusern und einem Wasserrad. Es sieht geradezu märchenhaft aus.
„Wow, es ist echt schön hier“, sage ich, während ich mich kaum sattsehen kann.
Jakob nickt. „Das stimmt. Wenn man schon so lange hier wohnt, verliert man manchmal den Blick dafür…“
Wir laufen bis ans Ende der Gasse und biegen dann links ab. Vor uns erstreckt sich ein Platz mit Kopfsteinpflaster, an dessen Ende ein Gebäude mit der Aufschrift ‚Rathaus‘ steht. Rechts von uns befindet sich ein runder Brunnen, an dem viele Kinder spielen, und direkt dahinter eine Terrasse, die brechend voll ist. Jakob und ich steigen die wenigen Stufen zur Terrasse nach oben und laufen zum Eingang der Eisdiele. Drinnen herrscht ebenfalls reger Betrieb, und drei Kunden stehen vor uns an der Theke. Zwei Kinder suchen sich gerade ihre Eissorten aus, und ein älterer Mann hinter der Theke reicht ihnen ihre Eiswaffeln. Als er aufblickt, um der Mutter der beiden den Preis zu nennen, bleibt sein Blick an Jakob hängen und er nickt ihm lächelnd zu.
„Jakob, wie geht’s dir?“, fragt er, als wir kurz darauf dran sind.
„Hey Matteo, mir geht’s gut, und dir?“, erwidert Jakob.
„Man kann nicht klagen“, erwidert der Mann mit italienischem Akzent, „Hast du deine Freundin mitgebracht?“ Er deutet auf mich.
„Eine gute Freundin“, entgegnet Jakob lächelnd.
Er nimmt eine Kugel Schoko und eine Kugel Straciatella. Ich entscheide mich für Schoko und Erdbeere.
„Schönen Tag noch, und bis bald!“, verabschiedet sich Matteo von uns, woraufhin wir beide „Danke, gleichfalls!“ erwidern.
„Du scheinst hier echt jeden zu kennen“, sage ich, als wir wieder draußen sind.
„Nach 20 Jahren sollte man das auch, oder?“, meint Jakob lachend.
Wir laufen zurück durch die Gasse mit den Fachwerkhäusern und setzen uns ebenfalls auf eine der Bänke am Rande des kleinen Flusses.
„Hast du irgendwelche Hobbys?“, frage ich, während ich an meinem Eis schlecke.
„Ich spiele Fußball“, erwidert er, „Im Verein in Völkersweiler, schon seit ich fünf war.“
„Das ist eine lange Zeit“, stelle ich fest.
„Wir haben jeden Samstag ein Spiel. Wenn du willst, kannst du ja mal zuschauen.“
Ich zögere.
„Ich würde mich freuen“, meint er dann, was mich schon wieder zum Lächeln bringt.
„Okay“, sage ich, „Aber nur, wenn du auch ein Tor schießt.“
„Das dürfte machbar sein“, erwidert Jakob grinsend. Er sieht jünger aus, wenn er lacht, denke ich.
„Und du bist früher hier zur Schule gegangen?“, frage ich.
„Ja, genau.“
„Das muss cool gewesen sein in einer so schönen Stadt…“
„War’s auch. Aber die Schule ist nicht direkt in der Stadt, sondern ein Stück weit im Wald. Apropos…“ Er holt sein Handy aus seiner Hosentasche und schaut auf die Uhr.
„Johanna ist wahrscheinlich schon zu Hause, aber ich glaube, Lukas ist noch dort. Ich frage ihn mal, ob wir ihn abholen sollen.“
Er tippt schnell eine Nachricht in sein Handy und lässt es dann wieder in seiner Hosentasche verschwinden.
Wir schweigen für einen Moment und ich schaue den Kindern zu, die im Wasser spielen und jauchzend am Ufer entlangrennen. Ich beneide sie für ihre Unbeschwertheit, und meine Gedanken wandern wieder zu der Wunde an meinem Hinterkopf, die mich vor ein scheinbar unlösbares Rätsel stellt. Doch bevor ich darüber nachdenken kann, piept Jakobs Handy, und er holt es wieder aus seiner Hosentasche.
„Lukas hat geschrieben, dass seine letzte Stunde gerade vorbei ist.“
Mit diesen Worten erhebt er sich. Schade, ich wäre gerne noch eine Weile mit ihm dort geblieben…
Wir fahren durch die kleine Stadt, und ich schaue durchs Fenster und sehe hin und wieder Menschen, die sich wie wir ein Eis gönnen, Einkaufstaschen tragen oder die offensichtlich gerade von der Schule kommen. An einer Ampel biegen wir rechts ab und kommen kurz darauf an einem Park vorbei. Die Straße führt jetzt steil bergauf und uns kommen immer mehr Schüler entgegen. Die Häuser weichen Bäumen und ehe ich mich versehe, sind wir scheinbar mitten im Wald.
„Sind wir hier wirklich richtig?“, frage ich zögernd.
„Wieso? Weil es so abgelegen ist?“, entgegnet Jakob lachend, „Ja, das ist ein bisschen nervig, wenn man eine Freistunde hat und hier festsitzt, aber die Ruhe ist eigentlich auch ganz nett.“
Wir biegen um eine scharfe Rechtskurve und jetzt kann ich tatsächlich mehrere Schulgebäude erkennen: Eins ist weiß gestrichen, das andere aus Sandstein; beide sehen modern aus. Vor den Gebäuden befindet sich eine Verkehrsinsel, um die Jakob herumfährt. Eine Gruppe Jugendlicher steht bei einer Tischtennisplatte wenige Meter entfernt. Jetzt sehe ich auch das Haltestellenschild neben ihnen. Sie warten hier also alle auf den Bus. Jakob lässt die Scheibe auf meiner Seite herunter, beugt sich ein Stück rüber und ruft: „Hey Lukas, spring rein!“
Jetzt sehe ich, wie Lukas sich aus der Gruppe löst, begleitet vom Tuscheln und dem verschämten Kichern mehrerer Mädchen, die ganz klar in Richtung Jakob starren. Lukas verdreht genervt die Augen, während er um den Wagen herumläuft. Das Tuscheln intensiviert sich, als Jakob aussteigt und den Sitz vorklappt, sodass Lukas sich auf die Rückbank setzen kann.
Manche recken sogar die Hälse, als wir losfahren. Ich weiß nicht, ob Jakob es nicht bemerkt hat, oder ob er es einfach nur ignoriert, weil er es gewohnt ist, aber Lukas ist es definitiv aufgefallen. Und es scheint tatsächlich öfters vorzukommen, so genervt wie er gewirkt hat.
„Und, wie war dein Tag?“, fragt Jakob, während wir den Berg hinunter fahren. Er spricht Pfälzisch, und ich höre interessiert zu und versuche, mir ein paar Wörter, die sich vom Hochdeutschen unterscheiden, zu merken. Jakob hat das T in ‚Tag‘ mehr wie ein D ausgesprochen, und das ‚G‘ wie ein ‚Ch‘, aber das Wort war langgezogen, sodass es sich nicht wie ‚Dach‘ anhört.
„Wie immer“, entgegnet Lukas.
„Hast du Englisch zurückgekriegt?“, fragt Jakob nach einem Moment des Schweigens.
„Nö“, erwidert Lukas genervt.
„Ich bin mir sicher, dass es dieses Mal gut lief, wir haben so viel zusammen gelernt…“
Lukas seufzt. „Ja, Mama, ich sag dir Bescheid, sobald ich die Arbeit zurückkriege.“
Ich schaue zu Jakob und sehe, wie er sich auf die Unterlippe beißt. Es versetzt mir einen kleinen Stich.
„Wir waren beim Arzt und bei der Polizei“, sage ich schnell, um das Thema zu wechseln und drehe mich zu Lukas um.
„Und?“, fragt er, nun schon ein wenig interessierter.
„Nichts“, entgegne ich, „Niemand sucht bisher nach mir. Aber der Arzt hat gesagt, dass ich wohl einen Schlag auf den Hinterkopf bekommen, und deshalb mein Gedächtnis verloren habe.“
„Oh, krass“, meint Lukas, „Wer könnte das gemacht haben?“
„Keine Ahnung“, erwidere ich, „Aber immerhin hat er gesagt, dass die Erinnerungen bald zurückkommen werden – spätestens in ein paar Wochen.“
„Wir sollten unsere Eltern fragen, ob du solange bei uns wohnen kannst“, meint Lukas.
Ich schlucke hart. Was, wenn die Eltern der beiden das nicht wollen? Wo kann ich denn schon wohnen, ohne Geld und ohne Identität?
Jakob muss meine plötzliche Anspannung bemerkt haben, denn er legt seine Hand auf meine.
Überrascht schaue ich ihn an, doch sein Blick ruht auf der Straße. Wir stehen an einer Kreuzung und er wartet, bis kein Auto kommt. Seine Hand ist groß und warm.
„Keine Angst“, sagt er mit ruhiger Stimme, „Du kannst bei uns bleiben, da bin ich mir sicher.“
Nun ist die Straße frei und er nimmt seine Hand wieder von meiner, doch das Gefühl der Wärme bleibt noch für einen Moment und verdrängt die Angst, die ich eben noch empfunden habe. Ich atme aus. Mir war gar nicht aufgefallen, dass ich die Luft angehalten hatte.
Jakob klang so überzeugt, dass ich mir tatsächlich fast keine Sorgen mehr mache. Stattdessen bin ich immer noch etwas verwirrt wegen eben.
Für den Rest der Fahrt redet niemand mehr. Jakob dreht das Radio etwas lauter, um die Stille zu übertönen. Es war angenehmer, als wir noch allein waren.
Ich schaue nach draußen und bin immer noch erstaunt darüber, von wie viel Wald sowohl Völkersweiler als auch Annweiler umgeben sind. Die Landschaft ist wirklich schön, aber gleichzeitig verängstigt sie mich auch, weil ich gestern eben aus genau diesem Wald gekommen bin, ohne Erinnerungen an mein altes Leben. Jetzt bin ich Clara, ein Mädchen mit einem Namen und sonst nichts.
Erneut fällt mir auf, wie schön und wie groß das Haus der Sommers ist, als wir dort ankommen. Jakob schließt das Auto ab, nimmt einen Stapel Briefe und Prospekte aus dem Briefkasten und schließt die Haustür auf.
„Jakob?“, fragt eine Stimme aus der Küche.
„Ja“, erwidert er, während wir drei unsere Schuhe ausziehen und dann in die Küche gehen, wo seine Mutter gerade Kartoffeln schält.
„Sind das Johannas Sachen?“, fragt sie, als sie mich sieht.
„Sie hatte nichts anderes“, erwidert Jakob an meiner Stelle.
„Steht dir gut“, erwidert sie schulterzuckend, „Johanna zieht das eh nicht mehr an.“
Erneut fällt mir auf, dass ihr Hochdeutsch im Gegensatz zu dem von Jakob und Lukas doch ein wenig von ihrem pfälzischen Akzent gefärbt ist. Ich finde es charmant.
„Was gibt’s Neues?“, fragt sie, während sie sich die Hände an einem Geschirrtuch abwischt, Jakob die Briefe aus der Hand nimmt und sie durchsieht. Ihr Haar hat die gleiche Farbe wie das von Lukas. Sein Bruder scheint eher nach seinem Vater zu kommen.
„Leider nichts Gutes“, entgegnet er.
„Der Arzt hat gesagt, dass ich einen Schlag auf den Hinterkopf bekommen habe und mein Gedächtnis vielleicht erst in ein paar Wochen zurückkommt“, sage ich.
Sie hält inne und blickt mich erschrocken an. „Ein Schlag? Aber wer tut denn sowas?“
„Keine Ahnung“, erwidere ich und senke meinen Blick.
„Kann Clara denn solange bei uns bleiben?“, fragt Jakob.
„Aber natürlich, das ist doch gar keine Frage!“, erwidert seine Mutter sofort.
Ich blicke auf und sehe, dass Jakob mir aufmunternd zulächelt, wie um zu sagen: „Siehst du, ich hab’s doch gewusst!“
„Danke“, sage ich nun an seine Mutter gewandt, „Das ist wirklich wahnsinnig nett. Sobald ich wieder weiß, wer ich bin und wo ich mein Konto habe, werde ich euch Geld geben, für die Miete und…“
Doch sie winkt nur ab. „Mach dir darum keine Sorgen. Jetzt zählt erst mal, dass du wieder gesund wirst.“
Ich nicke. Ich bin krank. So habe ich die Sache bisher noch gar nicht betrachtet. Ist Gedächtnisverlust überhaupt eine Krankheit?
„Wir waren auch bei der Polizei, aber bisher hat keiner eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Aber sie geben uns Bescheid, wenn sich daran was ändert“, sagt Jakob.
Mir fällt auf, dass er mit seiner Mutter hochdeutsch redet, um Rücksicht auf mich zu nehmen.
„Hey Mum, gibt’s noch…?“
Wir alle drehen uns um und sehen Johanna, die jetzt in der Tür steht.
„Sind das etwa meine Sachen?“, fragt sie, als sie mich sieht.
„Ähm…“ Ich weiß nicht, was ich sagen soll; sie war gestern schon so wütend auf mich…
„Was hätte sie denn sonst anziehen sollen?“, erwidert Jakob an meiner Stelle, „Ich habe ihr die Sachen gegeben. Dachte, das stört dich nicht, solange nichts in schwarz oder lila dabei ist?“
„Soll das heißen, du warst an meinem Schrank?!“
Sowohl Jakob als auch Johanna sind wieder zurück in ihr Pfälzisch verfallen. Unbehaglich blicke ich zwischen den beiden hin und her.
„Nein, die Sachen sind mir zugeflogen. Also echt Johanna, was ist dein Problem?“
„Dass du nicht einfach meine Sachen durchwühlen sollst! Du hättest mich fragen sollen und ich hätte dir was gegeben!“
„Du warst aber zufällig gerade nicht da, und wir mussten zum Arzt!“
„Hey, beruhigt euch!“, ihre Mutter dazwischen.
„Frag sie das nächste Mal“, sagt sie dann an Jakob gewandt, „Und du“, sie schaut zu Johanna, „macht nicht immer so ein Drama aus allem.“
Johanna ringt empört nach Luft.
„Abgesehen davon muss heute noch einer von euch nach Opa sehen. Das gilt auch für dich Lukas!“
Lukas, der am Küchentisch auf seinem Handy herumgetippt hat, blickt genervt auf.
„Ich war erst letzte Woche!“, sagt er.
„Und ich war erst gestern“, erwidert seine Mutter.
Lukas seufzt auf. Johanna setzt sich zu ihm, während Jakob neben mir stehen bleibt und die Mutter der drei sich wieder dem Briefkasteninhalt widmet.
„Also ich war vorgestern mit Vanessa dort“, sagt Johanna.
Inzwischen scheint mich niemand mehr zu beachten, sodass alle wieder ausnahmslos Pfälzisch reden. Mir egal, ich verstehe es mittlerweile ganz gut – zumindest viel besser als gestern.
„Du sollst keine Freunde mit zu Opa nehmen“, sagt Jakob.
Ich blicke zurück zu seiner Mutter, damit ich mich nicht ganz so fehl am Platz fühle.
„Wieso, er kennt sie doch!“, erwidert Johanna.
Mittlerweile hat ihre Mutter einen Brief geöffnet.
„Er ist dement, er tut so, als würde er jeden kennen“, meint Jakob.
Sie überfliegt den Brief und ich kann sehen, wie sich ihre Finger um das Papier zusammenkrampfen.
„Vanessa gehört sowieso fast zur Familie!“
Plötzlich sieht sie mich an. Sie hat gemerkt, wie ich sie beobachtet habe. Ich fühle mich ertappt und senke schnell den Blick
„Leute!“, fährt Lukas dazwischen und seufzt. „Wann warst du das letzte Mal?“, fragt er an Jakob gewandt.
„Sonntag“, sagt dieser.
Ich höre das Rascheln von Papier. Die Mutter der drei stapelt die Briefe und Werbeprospekte und wirft sie in den Müll. Der Brief von eben muss auch dabei sein.
„Dann bin wohl doch ich dran. Super.“ Mit diesen Worten erhebt sich Lukas und stapft aus der Küche.
„Ich bin dann auch mal wieder oben“, sagt Johanna und verschwindet ebenfalls.
„Jemand müsste noch mit Luchsi rausgehen“, sagt ihre Mutter.
„Okay, ich mache das“, erwidert Jakob unnötigerweise. Da wir als einzige noch da sind, ist es offensichtlich, dass es eher eine Aufforderung als eine Frage war.
„Ich komme mit, wenn das okay ist“, sage ich.
Jakob sieht mich an, als ob ihm eben erst wieder bewusst geworden ist, dass ich ja auch noch da bin.
„Also, nur wenn du willst.“
„Doch, klar“, meint er.
„Gut, aber bleibt nicht zu lange weg. Anna kommt heute Abend zum Essen“, sagt seine Mutter und wendet sich wieder den Kartoffeln zu. Anna, Jakobs Tante, die Bürgermeisterin. Immerhin funktioniert mein Kurzzeitgedächtnis noch.
Jakob verlässt die Küche und ich laufe ihm hinterher. Was habe ich da eben nur gesehen?
Ich würde gerne den Brief aus dem Müll holen und nachschauen, was drin steht, aber dafür müsste ich schon ziemlich unhöflich sein. Und außerdem hat sie mir gerade erlaubt, zu bleiben bis ich mein Gedächtnis zurückhabe. Da kann ich nicht riskieren, mit so einer Aktion alles zu zerstören.
„Luchsi!“, ruft Jakob, als wir im Flur stehen.
Sofort kommt der Hund angerannt und springt freudig an ihm hoch.
„Ja, das ist mein Mädchen!“, sagt er lächelnd und streichelt ihn.
Nun wendet Luchsi sich mir zu und ich zucke zurück.
„Nein, schön bei mir bleiben!“, sagt Jakob und zieht die Hundedame von mir weg. Er geht in die Hocke und streichelt ihr über den Kopf.
„Du musst keine Angst vor ihr haben, sie tut nichts“, sagt er dabei an mich gewandt.
„Sagen das nicht alle Hundebesitzer?“, erwidere ich zögernd.
„Da hast du wahrscheinlich Recht“, lacht er und blickt mich jetzt zum ersten Mal wieder an. Seine Augen sind ganz dunkel in diesem Licht, und sie glänzen wie polierte Onyxe.
„Komm, ich zeig’s dir!“
Zögernd gehe ich ebenfalls in die Hocke.
„Und jetzt streichle ihr mal über den Kopf.“ Jakob nimmt seine Hand weg und ich hebe zögernd meine Finger.
Als ich kurz davor bin, den Hundekopf zu berühren, schaue ich noch einmal zu ihm. Er nickt mir ermutigend zu. Langsam lasse ich meine Hand sinken und spüre sogleich Luchsis Fell unter meinen Fingern. Es ist weicher als ich gedacht hätte. Vorsichtig bewege ich meine Finger zurück und wiederhole die Bewegung noch ein paarmal. Die Hundedame hat ihre Augen geschlossen und scheint meine Streicheleinheiten richtig zu genießen. Überrascht lächele ich Jakob zu.
„Siehst du, sie mag dich“, meint er, erwidert mein Lächeln und steht wieder auf. Er nimmt eine Hundeleine von der Garderobe, legt sie Luchsi an und wir gehen zusammen nach draußen. Es ist immer noch perfektes Wetter und Luchsis Gegenwart hält uns zumindest nicht davon ab, uns alleine zu unterhalten. Einen Moment lang überlege ich, ob ich Jakob von dem Brief, der seine Mutter eben so schockiert zu haben scheint, erzählen sollte, oder von dem Menschen, den ich gestern im Garten gesehen habe. Doch dann wird mir wieder bewusst, dass ich ihn eigentlich gar nicht richtig kenne, und nur weil er nett zu mir war, bedeutet das nicht, dass wir Freunde sind.
„Wir können ja dorthin gehen, wo Lukas dich gestern gefunden hat und schauen, ob wir dein Handy oder deinen Geldbeutel finden“, meint er in diesem Moment.
„Das ist eine super Idee!“, erwidere ich. Daran hatte ich schon gar nicht mehr gedacht.
Wir laufen denselben Weg zurück, den ich gestern mit Lukas gekommen bin und es ist komisch, nun alles im Tageslicht zu sehen. Zudem wird mir jetzt erst so richtig bewusst, wie hügelig das Dorf ist. Die Straße zum Haus der Sommers ist so steil, dass Fahrrad fahren hier der reinste Albtraum sein muss…
„Tut mir leid, dass du das eben mitbekommen musstest“, sagt Jakob plötzlich und für einen Moment glaube ich, er meint die Sache mit dem Brief, bevor mir bewusst wird, dass er sich auf die Zankerei zwischen ihm und seinen Geschwistern bezieht.
„Ach, ich glaube zwischen Geschwistern ist das normal, dass man nicht immer einer Meinung ist“, winke ich ab.
„Ich wünschte nur, sie würden sich nicht ständig beschweren, wenn sie bei irgendwas helfen müssen. Unsere Eltern haben es schwer genug mit drei Kindern und dem Haus…“
„Kann ich mir vorstellen“, erwidere ich leise und blicke zu Luchsi, die fröhlich vor uns her trottet. „Wie lange habt ihr Luchsi eigentlich schon?“, frage ich, um ihn ein wenig abzulenken.
„Seit sieben Jahren“, entgegnet er, „Wir haben sie damals als Welpen bekommen und sie ist bei uns aufgewachsen.“