Kitabı oku: «Parasiten des 21. Jahrhunderts», sayfa 2

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Ein Aspekt und eine Folge der Bequemlichkeit ist die immer umfassendere Herrschaft von kulturellen Mainstreams. Technisch und ideologisch bestünde die Möglichkeit zunehmender Diversifizierung, tatsächlich ist aber die gegenläufige Tendenz wesentlich stärker. Hinter der sogenannten Personalisierung, auch Singularisierung genannt, verbirgt sich das Gegenteil dessen, was der Begriff aussagt, nämlich Stereotypisierung und Rhetorisierung; das Gegenteil jener Singularitäten, die nach Gilles Deleuze durch menschliche Kreativität hervorgebracht werden.7 Wer hat, dem wird gegeben; was oft angeklickt wird, wird noch öfter angeklickt; nach und nach bleichen die Besonderheiten aus. Dabei klickt man zunächst oft nur, um zu sehen, was da so interessant sein soll: eine Art von ironischem Klicken, augenzwinkerndes Mitmachen, das unmerklich zu distanzlosem Baden im Mainstream werden kann. Technologische Basis des Konventionalismus und Konservativismus der ach so innovationsfreudigen digitalen Welt8 sind ökonomische Quasi-Monopole wie Google und Facebook, es sind die durch Algorithmen erzeugten Spiegelkabinette und Echoräume von sogenannten Feeds, von Empfehlungen des Gleichen oder Ähnlichen, die gedankenlos als Befehle aufgenommen werden. Harari begeistert sich für die Möglichkeit der digitalen Produktion von – vom Konsumenten aus gesehen – „personalisierter Kunst“. Der Kunde ist König, die Produzenten und Vertreiber geben ihm, was er wünscht und braucht, oder zu brauchen glaubt (natürlich beeinflussen sie ihn zugleich durch systematische, im Internet durchaus lückenlose Werbung). Facebook-Algorithmen wissen, wie der Einzelne, d. h. der „User“, der Digitalkonsument, auf Musikstücke reagiert, bzw. andersrum gesagt, sie wissen, in welcher Lage er welche Musik braucht. Um auf solche Weise über Kunst zu sprechen, ist ein etwas beschränkter Begriff davon Voraussetzung: „Oft wird gesagt, daß die Menschen deshalb für Kunst empfänglich sind, weil sie sich selbst darin wiederfinden.“ Das heißt, vor allem ihre Gefühle, und auf diese wirke die Kunst ein, und ein Algorithmus, der genügend neurologisches Datenmaterial über meine psychischen Reaktionen zur Verfügung hat, könne das viel erfolgreicher als ein Komponist, der für ein allgemeines, a priori nicht-personalisiertes Publikum komponiere. „Wenn die Schönheit in den Ohren der Zuhörer liegt, und wenn der Kunde immer recht hat“, dann werden biometrische Algorithmen die „beste Kunst in der Geschichte“ produzieren. Meint Harari.

Natürlich ist das Zukunftsmusik. Es mag Versuche in diese Richtung geben, aber die meisten Leute – Kunden – hören immer noch am liebsten, was gerade en vogue ist, und ein solcher Geschmack ist nicht singulär, sondern stereotyp. Harari konzediert dies, fügt aber sogleich hinzu, daß Algorithmen auch beim Herstellen von „global hits“ besser sein werden. Demnach wären menschliche Komponisten bereits überflüssig … Dabei fällt mir auf, daß der israelische Historiker nicht nur mit einem etwas simplen Kunstbegriff operiert, sondern selbst einen Musik- und überhaupt Kunstgeschmack entwickelt haben dürfte, der über globale Pop-Hits und Klassikschnulzen nicht hinausreicht. Die Künstler, die er an dieser Stelle zitiert, sind Britney Spears und Tschaikowsky (nichts gegen Tschaikowsky!). Die werden von den Kreativrechnern sicher bald übertroffen.

Es scheint ein Zug der gegenwärtigen Epoche zu sein, daß sich auch kluge und besonnene Menschen immer wieder in einen Taumel der Vorwegnahme rasanter technologischer Neuerungen hineinziehen oder -fallen lassen. Unsere Zeit ist paradoxermaßen beides: zukunftsängstlich und zukunftssüchtig. Was als nüchterne Überlegung beginnt, verwandelt sich ziemlich rasch in Science-Fiction. Manch ein Schreiber ist so ein verkappter SF-Autor; erkennen heißt – nicht nur für Algorithmen, sondern auch für menschliche Gehirne – Prognosen anzustellen. Und die Prognosen haben es so an sich, daß sie ihren Agenten immer weiter vorwärtstreiben, ihn beschleunigen und begeistern. Hin und wieder gebieten sich die Klügeren (wie ich) Einhalt – um sich dann von neuem treiben zu lassen. Ich glaube, daß Walter Benjamins geschichtsphilosophische These aus der düstersten Periode der europäischen Geschichte, kurz vor seinem Freitod formuliert, immer noch gilt, bzw. daß sie jetzt erst recht gilt und uns immer stärker beunruhigen sollte. Der Sturm der Geschichte wehe den Engel auf der Zeichnung Paul Klees – oder den Menschen, der (sich) erkennen will – „unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“9 Welche Trümmerhaufen wir in Zukunft auf unsere Vergangenheit zurückblickend sehen werden, kann niemand so genau sagen, aber zu befürchten steht doch, daß nicht alles heil bleiben wird und das, was den Menschen im positiven Sinn auszeichnete, auf dem Spiel steht (oder gestanden haben wird). Der Engel schaut nicht in die Zukunft, sondern in die Vergangenheit, doch er wird in die Zukunft getrieben. Ob im Anfang der Zeiten oder vor diesem wirklich ein Paradies lag, muß uns hier und jetzt nicht kümmern.

Wenn wir uns Klees Bild noch einmal ansehen, werden wir bemerken, daß der Engel schielt, als ginge sein Blick in zwei verschiedene Richtungen – also doch auch in die Zukunft, nicht nur zurück? Er verharrt und bewegt, anders gesagt: er schwebt über der Schwelle, die die Gegenwart darstellt. Außerdem wendet er sich dem Betrachter zu, und gleichzeitig von diesem ab. Sind wir, die Betrachter, die Vergangenheit oder die Zukunft des Engels? Weht der Sturm gar nicht vom Anfang, sondern vom Ende der Zeiten her? Ist es kein Wind, sondern ein Sog, der den Engel – die Menschen – zieht, ein horizontaler Malstrom? Wäre es, zumindest in unserer Zeit, die so oft als eine der beschleunigten Beschleunigung charakterisiert wird, nicht geboten, sich gegen diesen Sturm zu wappnen und öfter in die Vergangenheit zu schauen als in die Zukunft? Vielleicht gibt es aus den Trümmerlandschaften doch mehr zu retten, als die menschlichen und maschinellen Beschleuniger und Science-Fiktionisten uns weismachen wollen.

Ob personalisiert oder globalisiert oder beides, die rechnende Vorgangsweise gepaart mit dem wirtschaftsliberalen Prinzip „Der Kunde hat immer recht“ schafft und stärkt Mainstreams, Malströme. Die Effekte dessen lassen sich auch im politischen Bereich feststellen, oder im antipolitischen der Empörungs(un)kultur, die in jüngster Vergangenheit um sich gegriffen hat und in den USA einen Staatspräsidenten auf den Thron gespült hat, den seine Wähler für einen Feind des sogenannten Establishments hielten und immer noch halten (dabei war er allenfalls ein Feind der Demokratie). Die technologisch bewirkte Festlegung aufs Immergleiche, das Immerähnliche, um genau zu sein, schafft einen hervorragenden Nährboden für Simplifizierungen, Verschwörungstheorien und populistische Politik, die ich, wenn ich nun meinerseits vereinfachen darf, als Transponierung des KK-Prinzips (Kunde = König) ins Politische auffassen würde. Im Milieu der sogenannten Sozialen Medien kann der Antipluralismus der populistischen Bewegungen bestens gedeihen. Die „segmentierten Mikroöffentlichkeiten im Internet – in denen sich Mitglieder politischer Völkchen gegenseitig in ihrer moralischen Überlegenheit bestätigen – begünstigt die Logik des Populismus.“10 Die global vernetzte Kultur ist theoretisch in nie dagewesenem Ausmaß pluralistisch, der Überbau einer offenen Gesellschaft. Bei näherem Hinsehen besteht sie jedoch aus einer Anzahl von monistischen, geschlossenen Räumen, und parallel dazu breiten sich unverbindliche, aber wirkungsvolle Mainstreams aus.

Anfang der siebziger Jahre, in der Zeit, als Rolf Dieter Brinkmann in Rom weilte, verbreitete Pier Paolo Pasolini seinen Befund einer „anthropologischen Mutation“, welche die italienische – man kann extrapolieren: die europäische Gesellschaft erfaßt habe. Durch täglichen, bis in die hintersten Provinznester verbreiteten Massenkonsum und durch die Kulturindustrie (die er nicht so nannte: der Filmregisseur bezog sich auf das Fernsehen), sei das Wesen des (italienischen) Volks dabei, sich zu ändern, und zwar nicht gerade zum Besseren. Als ich damals, noch in den siebziger Jahren, das erste Mal davon hörte, war ich wie Pasolini bestürzt. Heute scheinen mir solche Wesensveränderungen, wenn wir annehmen wollen, daß es so etwas wie ein Wesen überhaupt gibt, unvermeidlich, normal, mitunter wohl auch begrüßenswert. Nach der Jahrtausendwende schlug in Österreich das von einem rechtsextremen Politiker geschmiedete Wort von der drohenden „Umvolkung“ hohe Wellen. Gemeint waren nicht Konsumismus und Infantilisierung, sondern der Zuzug von Fremden, die die ethnische Substanz der Heimat gefährden würden. Zwanzig Jahre später ist klar, daß die Mutation viel tiefer geht, daß der Wind wiederum aus einer anderen Richtung weht und überall auf der Welt zu spüren, also von globaler Natur ist. Die Digitalisierung sämtlicher Lebensbereiche von Arbeitsorganisation und Verwaltung über Bildungs- und Gesundheitswesen bis hin zu Küche, Schule und Verkehr, Freizeit, Unterhaltung und Sport, und die weltweite Vernetzung, zuletzt und besonders die Sozialen Medien, beeinflussen – meist ohne daß es den Subjekten bewußt wird – das tägliche Verhalten, die Denkweisen und Kommunikationsformen, die Erinnerungs- und Projektionsweisen, die Art des Wahrnehmens, des Sich-Konzentrierens und -Zerstreuens, also grundlegende menschliche Eigenschaften und Fähigkeiten, die unser Wesen ausmachen oder ausgemacht haben. Nicht von einem oberflächlichen Einfluß ist die Rede, sondern von einer Umkrempelung, nicht von Revolution, sondern von Mutation. In der Zeitspanne seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts, schreibt Michel Serres, sei „ein neuer Mensch geboren worden“.11 Wir passen uns der Funktionsweise und den Kriterien der Algorithmen an, die uns via Display gegenübertreten. Wer sich bei einer großen Firma um eine Stelle bewirbt, schreibt seine Bewerbung algorithmenkonform, weil er weiß, daß sie zunächst nicht von einem Firmenmitarbeiter gelesen wird, sondern von einem Bewerberbewertungsalgorithmus. Hat einer die Stelle bekommen, ist er gehalten, sich selbst zu quantifizieren, vergleichbar zu machen, zu optimieren.12 So ticken wir mehr und mehr wie die Maschinen, von denen wir abhängig sind. Der personalisierte und personalisierende Universalratgeber ist längst zum ständigen Begleiter geworden, zum Alter Ego, das uns beherrscht, auch wenn wir glauben, es zu beherrschen; ein neuer Typus von Über-Ich, nachdem die alten Instanzen wie Moral und Gewissen an Bedeutung verloren haben. Diese Entwicklung ist unaufhaltsam, aber wir können sie durch unser Bewußtsein und unseren kollektiven Willen mitgestalten. Wir können … Das heißt nicht, daß es wirklich geschieht. Die Betroffenen und die Zuständigen, soweit sich überhaupt jemand zuständig fühlt, lassen den Dingen ihren Lauf.

Auch Gilles Deleuze hatte, ein Konzept seines zu früh verstorbenen Freundes Michel Foucault aufgreifend, von Mutation gesprochen, diese aber zunächst sozioökonomisch bestimmt. Das nahezu Visionäre seines kurzen Textes über die Kontrollgesellschaften13 liegt darin, daß er erkannte, wie eng diese fundamentale Mutation mit technologischen Entwicklungen zusammenhängt, so daß der neue, postindustrielle und postmoderne Kapitalismus zunehmend kognitiv, virtuell und kulturell ausgerichtet ist und die alte Unterscheidung von Basis und Überbau obsolet wird (was schon Adorno in seinen Schriften zur Kulturindustrie vorausahnte). Was zunächst als Wortspiel erscheint, trifft als Diagnose ins Herz unserer Gegenwart: Die Individuen sind dividuell geworden, die Rechenmaschinen zerlegen mit ihren Funktionsprogrammen den Einzelnen in Daten und immer mehr Daten, zwischen denen Korrelationen gesucht und gefunden werden; er ist kein Kondensat mehr, sondern ein Dezentrat. Die alten Disziplinargesellschaften arbeiteten mit einfachen Maschinen, mit Zahnrädern, Hebeln, Flaschenzügen; die moderneren des 20. Jahrhunderts mit Energiemaschinen (Dampf, Elektrizität); die Kontrollgesellschaften, die Foucault und Deleuze heraufkommen sahen, operieren mit informatischen Maschinen, machines informatiques, mit Datenspeicherung und -verarbeitung, deren Ausmaß und Reichweite erst in den letzten Jahren klar geworden ist. Das Panoptikum des 18. Jahrhunderts, das Foucault ins Zentrum seiner Analyse der Disziplinargesellschaft gestellt hatte, hat sich der veränderten Realität angepaßt und verfeinert, es wirkt nicht mehr bedrohlich, weil es der anonymen Technik überlassen wird und uns die winzig und zahllos gewordenen Überwachungskameras ebensowenig auffallen wie die Tatsache, daß wir ständig Spuren hinterlassen und unsere Daten preisgeben, sobald wir uns im Internet bewegen oder unser Handy eingeschaltet haben, und das tun die meisten von uns ständig. Wir wissen zwar nicht in jedem Augenblick, aber doch im Prinzip, daß alles, was wir tun, denken und wünschen, gewußt, gespeichert und korreliert werden kann und wahrscheinlich wird, und so verinnerlichen wir die Überwachung, sie nistet sich im neuen Über-Ich ein.

Durch diese anthropologische Mutation sind wir in eine Epoche eingetreten, die man als „posthuman“ bezeichnen könnte; Nietzsches Rede vom Übermenschentum zielt in dieselbe Richtung, mit der Einschränkung, daß die Mutation nicht eine Elite, sondern die Masse betrifft, während es eher die Eliten sind, die am Alt-Menschlichen festhalten. Glaubt man Yuval Harari, so haben die Menschenrechte ausgedient. Im Jahrhundert der Totalitarismen seien sie vielleicht nützlich gewesen, um Gewaltherrschaft zu bekämpfen, doch heute gehe die Berufung auf angebliche Menschenrechte an den Realitäten vorbei. Biotechnologie und Künstliche Intelligenz, schreibt Harari, würden den herkömmlichen Sinn des Menschlichen umdeuten („…now seek to change the very meaning of humanity“). Freiheit habe sich durch den Fortschritt der betreffenden Wissenschaften – Mathematik und Statistik – als Chimäre entpuppt: Wozu sie noch verteidigen?

Andere versuchen genau dies, eine „Verteidigung des Menschen“, und bestehen auf den fundamentalen, unauflöslichen Unterschieden zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz, wobei trotz allem – machine learning usw. – erstere letzterer zugrundeliege und ihr Sinn und Ziel verleihe.14 Der herkömmlichen Humanität bleibt nichts anderes übrig, als mit der digitalisierten Gesellschaft, den digital humanities, zu koexistieren. Wenn sie abdankt und der exponentiell steigenden Digitalisierung einfach nur freien Lauf läßt, könnte dies fatale Folgen zeitigen. Ein hierzu bloß komplementärer Gedanke: Wäre es nicht sinnvoll, in der Gesellschaft nichtdigitale Zonen und Zeiträume einzurichten und zu verteidigen? Handyfreie Schulen, Cafés, Seminare? Um 1990, als Handys langsam zum Massengerät und Massenkonsumartikel wurden, waren diese in manchen Wiener Kaffeehäusern untersagt. Als einmal trotzdem jemand telephonierte, meinte der Ober empört: „Wir sind doch kein Großraumbüro!“ Wenige Jahre später erschien die Welt als ein einziges Großraumbüro; oder genauer, als globales Gebiet, das sich restlos in Büro- und Privat-Blabla aufteilte. Noch ein paar Jahre später ist das stimmliche Sprechen überflüssig geworden, Büro und Blabla werden „getextet“, die Finger sind flink geworden, die Kunden/User/Gäste starren ins Gesicht ihres Geräts und wischen darin herum. In den Kaffeehäusern, soweit sie musikalische Beschallung ablehnen, herrscht nun eine andere Art von Schweigen.

Freiheit wird Notwendigkeit

Eine der wiederkehrenden Obsessionen der älteren abendländischen Philosophie war es festzulegen, welche besonderen Eigenschaften den Menschen vor den Tieren auszeichneten. Der Mensch als zoon politikon, ein ganz spezielles Tier. Die Denker hatten ein starkes Bedürfnis, den Begriff des Menschen abzugrenzen und seine höhere Stellung zu behaupten. Der Mensch war sprachbegabt (obwohl es auch bei vielen Tierarten Kommunikation gab), er konnte denken (obwohl manchen Tieren Intelligenz nicht abzusprechen ist), er formte immer komplexere Gesellschaften, war also ein „soziales Tier“ (obwohl genaugenommen jede Rudel- und Schwarmbildung eine Art von Gesellschaft ist), in seinen ersten Lebensjahren unselbständig (aber auch Tiere haben Lernphasen) … Negative Charakteristika wie zum Beispiel, daß sich die Menschen untereinander bekriegen, während in der Tierwelt weithin eine unproblematische Solidarität innerhalb jeder Spezies zu beobachten ist und die Kämpfe sich nach außen richten, fielen dabei unter den Tisch. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts schwindet dieses Bedürfnis, die eigene Identität durch Abgrenzung von Tieren zu bestätigen, während gleichzeitig das Bedürfnis wächst zu erkennen, was wir den Maschinen voraushaben, worin sie uns überlegen sind und wie wir mit beidem, Über- und Unterlegenheit, zurechtkommen können.

Um die Menschen von intelligenten Maschinen zu unterscheiden, verwendet der bereits mehrfach zitierte Harari gern den Begriff „Bewußtsein“. Dieses allein zeichne den menschlichen Geist aus. Selbstbewußtsein ist dabei ein weiteres Spezifikum, das zur Abgrenzung dienen kann. Allerdings gibt Harari auch zu: „We don’t really understand the mind.“ Jeder von uns gebraucht unentwegt seinen Geist, jeder setzt sein Bewußtsein ein und bildet es aus und verliert es am Lebensende wieder. Ein gewaltiger Denker hat versucht, Geist und Bewußtsein in einem dicken Buch – zweibis dreimal so dick wie das ebenfalls nicht dünne von Harari über den Homo deus, dem Leser jedoch viel schwerer zugänglich – zu ergründen, zu durchleuchten und systematisch zu beschreiben, und dennoch bleibt auch diese Kritik der reinen Vernunft mit ihrem abstrakten Kategoriengerüst, das zu einem erheblichen Teil triviale Vorgänge in vorsichtiger Begriffssprache abtastet und sichert, d. h. formalisiert, unbefriedigend, sobald wir introspektiv überlegen, was eigentlich in uns abläuft, wenn wir denken. Sicher nicht dasselbe wie in einem Computer, oder? Jeder hat Zugang zu seiner inneren Welt (ein Computer nicht?), durch Introspektion, die dem Selbstbewußtsein eine Vielzahl von Bahnen schafft. Wir glauben daher intuitiv zu wissen, was uns auszeichnet, und zwar als Individuen ebenso wie als Exemplare unserer Gattung.15 Und wir ziehen ausgehend von dieser Selbsterfahrung Schlüsse in Bezug auf Maschinenwesen und Tiere, in die wir freilich nicht hineinsehen können und die uns ihr Innenleben, sollten sie eines besitzen, nicht mitteilen. So daß wir zwangsläufig auf Beobachtung und Spekulation angewiesen sind. Tiere und Computer sind Black Boxes. Wenn sie uns etwas mitteilen, dann das, was wir in sie hineingelegt haben: Ihre Botschaften sind anthropomorph.

Harari neigt dazu, nichtmenschlichen Wesen eigene, geistige Fähigkeiten zuzuschreiben, wenn auch oft nur hypothetisch, im Modus der Vermutung. Er tut es zugleich auf ironische Weise, wobei der Grad seiner Ironie schwer bestimmbar bleibt, dem Urteil der Leser überlassen, von denen manche die Ironie gar nicht wahrnehmen werden. Vielleicht ist es gar nicht nötig, (Selbst-)Bewußtsein zu haben, um intelligente Leistungen hervorzubringen, die jene der Menschen immer weiter und bald auch immer schneller übertreffen. Computer, Rechenmaschinen, Algorithmen, körperlose, in gewisser Weise rein „geistige“ Programme, Gespenster sozusagen, könnten in nicht allzu ferner Zukunft die Dinge dieser Welt und auch die Menschen und ihre Angelegenheiten (z. B. wirtschaftlicher, medizinischer, moralischer Natur) besser verwalten, als die Menschen dies im Hinblick auf Tiere, Maschinen und sich selbst zu tun imstande sind. Jene intelligenten Maschinen könnten selbsttätig ein Innenleben entwickeln, das nicht zwangsläufig anthropomorph sein oder bleiben muß, und immer mehr, immer weiter lernen, damit aber eigene, unvorhergesehene Identitäten ausbilden, sich selbst auf eine Weise perfektionierend, wie es Menschen versagt ist. Es klingt nach den features eines Science-Fiction-Romans, aber die Maschinenwesen könnten die Macht ergreifen und eines schönen Tages beschließen, daß die Menschen nicht nur überflüssig sind, sondern stören; daß sie für ihre eigene „Gesellschaft“, ihre vernetzten Strukturen eher schädlich als nützlich sind und man sie deshalb am besten entsorgt, wie man es mit Parasiten eben so macht. Aber vielleicht sind die intelligenten Maschinen ja, im Unterschied zu den Menschen in diversen Epochen ihrer Geschichte, zu einem sanfteren Schluß gekommen: Jene Menschen, die Urväter der ersten Computergenerationen, sind gar nicht so schädlich, wie es einst den Anschein hatte; man kann ihnen problemlos eine Existenz in sorgloser Muße ermöglichen, solange sie sich nicht in die Belange der eigentlichen, der rationalen und rationellen Gesellschaft einmischen. Die Menscheit wird gewissermaßen ornamental, sie dient zur nostalgischen Verschönerung.

Vielleicht ist es also nichts als vergebliche, d. h. nostalgische und folglich überflüssige Liebesmüh, wenn ich versuche, eine kurze, ganz und gar provisorische Liste von Aspekten und Dynamiken, von Freuden und Leiden des Bewußtseins zu erstellen, und zwar mithilfe der methodenlosen Methode – alias Heuristik – des Brainstormings, des ungeregelten, frei assoziierenden Stöberns in meinem Gedächtnis, das sich durch eine inzwischen beträchtliche Erfahrung des Denkens und Beobachtens im Lauf der Jahre ausgebildet hat, ein wenig wie ein Tuchverkäufer in alten Zeiten, der seine Stoffe ausrollt und umlegt, faltet und entfaltet und glattstreift und gegen das Licht hält, und auch wieder einrollt (wie es die aus den Bergdörfern in die Stadt gekommenen indianischen Verkäuferinnen in Mexiko heute noch praktizieren). Fenster auf und durchlüften! Das Abgelagerte anheben, wenden, fliegen lassen! Vieles verwerfen, beiseitelassen, nicht einmal ignorieren.

Diesen Gedanken der menschheitlichen Überflüssigkeit, der Antiquiertheit des Menschen, findet man schon bei Günther Anders in dessen Nachkriegsphilosophie. Er selbst hat ihn nicht nur aus der kollektiven Erfahrung der Verwüstungen durch die Atombomben abgeleitet, sondern als Folge der immer umfassenderen Technisierung der Welt gesehen. Angesichts der für Menschen unerreichbaren Perfektion der Maschinen, wie man sie heute zum Beispiel an Schachcomputern, aber im Grunde genommen an jeder Rechenoperation sieht, muß der Mensch etwas wie „prometheische Scham“ empfinden, also das Gegenteil der klassischen und aufklärerischen Hybris.16 Unter diesen – immer noch neuen – Bedingungen käme es darauf an, nicht etwa „besser“ zu werden als die Maschinen oder mit ihnen gleichzuziehen, indem wir z. B. die Ausbildungsstätten durchdigitalisieren, sondern die besonderen Fähigkeiten des Menschen jenseits der Technik zu sehen, herauszuarbeiten und zu stärken: freie Zielsetzungen, Bewertung von Sachverhalten, Sinngebung, Interpretation, Geschichtsschreibung, einfühlsames Erzählen, ästhetisches Genießen, spielerisches Vergnügen.

Ich weiß nicht, ob eine Rechenmaschine oder eines ihrer Subsysteme Verantwortung übernehmen kann für eine andere: für andere Maschinen oder für das große Ganze, das Hypersystem, das im Unterschied zum großen Ganzen der Menschen, wie wir es in diversen Ausformungen aus der bisherigen Geschichte kennen, genau definiert und bezeichnet werden kann. Warum nicht: eine Verantwortungs- und Koordinationsmaschine, auf das Allgemeine – die Gemeinschaft – gewissermaßen spezialisiert. Diese Frage soll uns hier und jetzt nicht weiter kümmern, denn es geht mir immer noch in erster Linie um den Menschen, die Menschen in ihrer irreduziblen Vielheit. Ich frage mich, wie es um die Verantwortungsfähigkeit der jungen Menschen im Land, in dem ich lebe, bestellt ist, die zwar die Regeln, die man ihnen eingetrichtert hat, befolgen (und niemals auf ihre Sinnhaftigkeit hin befragen, ganz im Sinn von Wittgensteins Theorie des „Regelfolgens“17), vor allem dann, wenn möglicherweise Kontrollagenten zugegen sind, aus freien Stücken und nach eigenem Ermessen aber so gut wie nichts zu tun imstande sind, die Bedürfnisse anderer Gruppen, z. B. von Behinderten, nicht einmal erkennen, geschweige denn, daß sie diese in ihrem fremdbestimmten Handeln berücksichtigen. Ich spreche von Japan, hier mache ich diese Erfahrung tagtäglich und habe für mich den Schluß gezogen, daß die Einübung in ein äußerst rigides, detailverliebtes Regelsystem persönliche Verantwortung nicht fördert, sondern abtötet. In Europa mag das anders sein. Oder auch nicht. Jedenfalls wird in dieser stillen, nur sehr selten lautwerdenden Opposition, die hier durchwegs auf Unverständnis stößt, meine Sicht auf die menschliche Geistesmöglichkeit der Verantwortung geschärft. So sehr geschärft, daß mir ihre Erhaltung ein vordringliches Anliegen geworden ist, auch wenn ich mir oft genug sage: Du bist doch kein Aufpasser, kein Polizist, kein Moralapostel! Tatsächlich schauen mich die mit den üblichen Formeln um Entschuldigung ersuchenden, zustimmend nickenden Gesichter mit einem Blick an, der diese stumme Botschaft enthält: Du bist doch hier gar nicht zuständig!

Aber wer, wenn nicht ich, ist hier zuständig? Denke ich mir und verschweige diesen so seltsamen Gedanken.

Verantwortung. Antwort geben. Erst einmal sprechen. Nachdenken. Den Mund auftun. Und dann vielleicht handeln: ent-sprechend. Wem oder was antworten, entsprechen, tun? Aufgrund wovon? Von Werten, die man bedacht, abgewogen, gewählt hat; nicht von Regeln, zu denen man angewiesen wurde. Welche Werte? Es gibt deren viele (manchmal widersprechen sie einander, drängen sich vor oder verdrängen andere), und es gibt unterschiedliche Zusammenstellungen, Wertegebäude, Kodizes. Viele alte, selten neue Werte. Erweitere deinen Besitz, dein Vermögen, dein Einkommen. Steigere deine Macht. So steht es geschrieben: „Da kam der, der die fünf Talente erhalten hatte, brachte fünf weitere und sagte: Herr, fünf Talente hast du mir gegeben; sieh her, ich habe noch fünf dazugewonnen. Sein Herr sagte zu ihm: Sehr gut, du bist ein tüchtiger und treuer Diener.“ Die frohe Botschaft in kapitalistischem Geiste. Des Antichristen Nietzsche Zerbrechen an der selbstgestellten Aufgabe, neue Werte zu schaffen: Wen interessieren solche Hasardstücke heute noch?

Mich!

Alte Werte: Macht, Reichtum. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Unterwirf dir deinen Nächsten mit allen Mitteln. Denk stets, in jedem Einzelfall, an die allgemeinen Gesetze, die für jeden gleichermaßen gelten. Memento mori: Denk an den Tod, zieh aus diesem Gedanken den Schluß, daß es gilt, sich auf das Jetzt zu konzentrieren, oder auf das Ganze, auf deine oder die Geschichte, die Mit- und Nachwelt. Das Leben an sich sei der höchste Wert. Nicht immer. Es gibt keinen absoluten Wert. Oder? Aber Junge, Mädchen, überleg dir zumindest das, was du jetzt tust oder unterläßt (besonders letzteres!); fang etwas an, such dir was aus, du selbst bist der Mann, die Frau. Bediene dich deines Verstandes, der anders, unsicherer, tastend, aber auch vielfältiger und vielseitiger funktioniert als das allwissende Gerät, das du stets mit dir führst wie eine Prothese (wie es mittlerweile Pflicht ist), dein Schutzschild vor der Wirklichkeit. Durchdringe die Wirklichkeit und nimm sie auf, spüre sie und errichte sie, konstruiere, bessere aus, ändere! Definiere, was wirklich ist, bestimme die Wirklichkeit neu, werte sie um. Zum Beispiel: „Das Bergblau ist – das Braun der Pistolentasche ist nicht!“ Auch dies ein Wert, und zwar ein fundamentaler: Tu was! Oder tu nix, aber bekenne dich dazu!

Ich habe mich nie mit den Grundlagen der Statistik beschäftigt und verspüre auch jetzt, in Zeiten der Pandemie, da die Infektions- und Sterblichkeitskurven ins Kraut schießen, nicht die geringste Lust dazu, aber wie so viele klappere auch ich seit dreißig Jahren am Computer herum und tummele mich seit fünfzehn oder zwanzig Jahren in virtuellen Welten, und so sagt mir mein digitales Gefühl, daß das Denken meines maschinell-personalen Gegenübers, das in all den Jahren wirklich viel besser und umfassender geworden ist und sich unaufhaltsam perfektioniert, im wesentlichen ein mathematisch-statistisches ist, auch dann, wenn auf der Benutzeroberfläche gar keine Zahlen erscheinen. Daran bin ich gewöhnt, an das Denken meines ewigen Gegenübers – oder muß ich sagen: meiner Geistesprothese? –, an seine immer häufigeren Einflüsterungen und Einmischungen, zum Beispiel wie meine Rechtschreibung in diesem Text hier auszusehen habe oder wie der oder jener fremdsprachige Text zu übersetzen sei; ja, er nimmt mir dieses Denken neuerdings sogar ab und erledigt die Korrekturen, die Umwandlungen selbst, und in Zukunft vielleicht auch die Entwürfe, die ganze Schreibarbeit, ich muß nur noch das Thema entscheiden und ein paar Wünsche hinsichtlich subjektiver Färbungen äußern. Will ich das? Nein, ich will es nicht, aber ich vermute, daß die meisten es bequem finden werden.18 Ich will diese mich und uns selbst betreffende Automatisierung vermeiden, auch im Hinblick auf eine allgemeine Gesetzgebung, denn das mathematisch-statistisch-korrelationale Denken scheint mir für unsere menschlichen Zwecke bei weitem nicht ausreichend, letzten Endes zu primitiv, reduktiv, vereinfachend bei aller scheinbaren Komplexität.

Wo ich mich erinnere, d. h. auswähle im Wechselspiel mit dem nicht immer endgültigen, oft provisorischen Vergessen, speichert die Maschine, ohne auszuwählen: allenfalls kann ich nachträglich etwas löschen – und muß höllisch achtgeben, nicht zuviel oder das Falsche zu löschen – bzw. eine Kopie anzufertigen. Der Computer speichert oder kopiert, es ist dasselbe, er speichert-kopiert einfach ALLES.19 Und in den riesigen Heuhaufen, die er mit der Zeit anhäuft, findet er alles wieder, jede Stecknadel, jede kleinste Kleinigkeit. Der Search-and-find-Professional „erinnert“ sich unverzüglich an ALLES, oder genauer, an die Summe der Details. Und zwar ebenfalls auf Knopfdruck, Mausklick, durch Feld- oder Kreisberührung eines meiner Finger. Super! Und dann, noch besser: Die Maschine kann gleichzeitiges (bzw. zeitloses) Vorkommen von Daten in unterschiedlichen Dateien eruieren, man braucht nur zwei Suchstränge, oft endlos lange, spielt keine Rolle, miteinander zu kombinieren, zu kreuzen. Schnittmengen! Korrelationen! Was korreliert womit? Bildungsniveau mit Geburtenrate. Ach, das haben wir längst gewußt? Einfach durch Erfahrung – intelligente Maschinen bekommen auch „Erfahrungen“ eingespeichert! –, durch Fragenstellen, durch den Gebrauch des Verstandes sind wir zu demselben, vielleicht besseren, weil sinn- und wertvollen Resultat gekommen. Allerdings sind die Rechner schneller. Und genauer. Sie spucken Zahlen aus. Ohne Umschweife stellt ein Programm fest, daß die Zahl der Personen, die in einem Schwimmbecken ertrinken, mit der Zahl der Filme korreliert, in denen Nicolas Cage auftritt. Und daß die Scheidungsrate im US-Bundesstaat Maine vergleichbar ist mit dem Jahreskonsum von Margarine in diesem Staat. Und daß der Verzehr von Hühnerfleisch eine ähnliche Kurve aufweist wie die Einfuhr von Erdöl in die USA. Eine Fülle von Scherzen, erstellt von einem Harvard-Absolventen, der diese und zahllose andere Korrelationen auf seiner Homepage und schließlich in einem (durchaus überflüssigen) Buch kundgetan hat. Ist Nicolas Cage Schuld am Ertrinken im Swimmingpool? Halten Ehen länger, wenn Margarine vermieden wird? Werden die Hühner aussterben, wenn das Erdöl endgültig versiegt? Ach ja, Korrelationen sind noch lange keine Kausal- oder sonstigen Zusammenhänge. Dazu braucht es mehr, zum Beispiel Urteilsvermögen und Umsichtigkeit. Nicht nur Ausdauer, auch Spontaneität. Muße. Intuition.