Kitabı oku: «Parasiten des 21. Jahrhunderts», sayfa 5

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Nein, im Ernst, mir ist klar, daß ich mit solch vorsintflutlichem Antiautoritarismus mutterseelenallein im digitalen Wald dastehe. Es bleibt mir gar nichts anderes übrig, der Partner zwingt mich zur Bequemlichkeit, und so lasse ich mich in „meiner“ Sprache, die mir von personalisierten Algorithmen angedichtet wird, durch die grenzenlose Welt der Entscheidungsmöglichkeiten treiben, ohne noch eigenen Willens darüber zu verfügen. Nach ein paar Minuten googeln weiß ich nicht mehr, wonach ich „ursprünglich“ gesucht habe. Das Ziel, wenn es eines gegeben hat, ist mir aus dem Blick- und Denkfeld gerückt. Ich gehe, gleite, springe von Reizpunkt zu Reizpunkt. Das nennt man Ablenkung, Aufmerksamkeitszerstreuung, pandemisch und unausrottbar, so daß man guten Gewissens von ADHS als Zeitkrankheit des 21. Jahrhunderts sprechen kann, sofern man das Phänomen als Krankheit definieren will und nicht als Stärke, als Fähigkeit zum multitasking, als digitale Denkweise, Symptom einer neuen Gesundheit, aufgrund deren nicht mehr linear, also zielorientiert, vorgegangen wird, sondern sprunghaft, ohne feste Ordnung, regellos, rhizomatisch, von Ebene zu Ebene, von Punkt zu Punkt. Eine Hyperkultur, geprägt durch intertwingularity, früher auch Chaosmos genannt (Deleuze, CCC, ein paar libertäre Nerds), oder Transversalität (® LF/). Konnektivität als personal-depersonalisierender Dauerzustand bis hinein in die Träume, die ohnedies schon seit unvordenklichen Zeiten hyperkulturell funktionieren. Man könnte andersrum formulieren: Die digitale Welt ist eine Art Traumwelt, die passende Gangart schlafwandlerisch.

ADHS? Heute früh habe ich mich aus dem Netz ausgeklinkt, schreibe derzeit von Hand in ein schlichtes, unintelligentes, geradezu dummes Schulheft, das mir zwar nicht weiterhilft, aber auch – ein Vorteil? – meine Bewegungen nicht aufzeichnet, abgesehen von dieser einen, der linearen Spur meiner Buchstaben auf den weißen, blaßblau linierten Seiten. Das Schulheft redet mich nicht an, fordert mich zu nichts auf, weiß nichts besser als ich. Es ist auf andere Art bequem. Ich könnte hier sitzen, in die Luft schauen, auf den Hintern der Kellnerin schauen, die Seiten weiß lassen. Nachdenken. Nicht Angst vor der Leere, sondern Freude darüber! ADHS? Etwas mit Aufmerksamkeitszerstreuung und Hyperaktivität, weil digital natives immer tausend Fenster offenhalten und viele Dinge gleichzeitig tun müssen. Krankheit, Lebensweise, Hyperkompetenz? Sucht es euch aus, oder fragt Alexa! Ihr müßt nichts mehr wissen, nichts erinnern, müßt dieses Buch nicht lesen. Fragt euer Smartphone, euren digidude! Ich aber – was wollte ich jetzt eigentlich wissen? Richtig, ADHS. Wenigstens daran erinnere ich mich, meine Historie, die Geschichte der vergangenen fünf Minuten (der Rest ist schon unendlich fern). Auch ohne Computer verhalte ich mich so, als säße ich davor. Als wäre ich vernetzt.

Wirklich wunderbar, und das meine ich nicht ironisch, sind die Programme, die übersichtliche Computer-Schreibtastaturen mit der Gesamtheit der chinesischen bzw. japanischen Zeichen in Verbindung setzen und eine sekundenschnelle Auswahl ermöglichen. Dazu muß man dem europäischen Leser erst einmal erklären, daß es aus räumlichen und motorischen Gründen nicht möglich war, alle beim schriftlichen Ausdruck nötigen Zeichen auf die Tastatur und in die Mechanik einer herkömmlichen Schreibmaschine zu verfrachten. Bis in die neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts wurden akademische Arbeiten einschließlich Dissertationen mit der Hand geschrieben.40 Dann aber wurden jene Programme entwickelt, die ausgehend von einer Tastatur mit lateinischen Buchstaben (oder auch mit dem relativ einfachen Hiragana-Zeichensystem), die der japanische oder chinesische Schreiber kaum anders als der europäische benutzt, das Eingetippte augenblicklich in chinesische bzw. japanisch-chinesische Zeichen übersetzen, die ohne nennenswerte Verzögerung, sozusagen in „Echtzeit“, auf dem Bildschirm erscheinen. Da viele Zeichen aber mehrere Bedeutungen und Lesarten haben und einzelne Laute je nach Kombination, Kontext und Gebrauch auf sehr verschiedene Art schriftlich fixiert werden, gibt das Programm in der Regel eine – oft ziemlich lange – Reihe von Alternativen an, die der Nutzer abrufen kann (was er auch ständig tut), um die passende Form auszuwählen. Das alles, wie gesagt, in Windeseile. Japaner und Chinesen sind an der Computertastatur nicht langsamer als Europäer, die es ausschließlich mit ihrem abstrakten, überschaubaren, supereinfachen Zeichensystem zu tun haben. Sogar ich bin imstande, am Computer japanisch zu schreiben, obwohl ich trotz jahrelangem Bemühen – immer nur nebenher, il est vrai – nicht einmal einfache Sätze zufriedenstellend mit der Hand schreiben kann. Aufgrund meiner in mündlicher Kommunikation erlernten und erprobten Sprachkenntnisse kann ich das Auszudrückende mit lateinischen Buchstaben in die Maschine eingeben. Input-Output, dazwischen eine gewaltige Kluft, vor der ich stehe und in die ich hinabsehe, die der Algorithmus aber im Nu – und in jeder Sekunde aufs neue – überwindet. Der Rechner, gern würde ich ihn „Superrechner“ nennen, doch er ist nur ein für heutige Verhältnisse recht simples Maschinchen, der liebe Rechner mildert meine japanische Dummheit ein wenig. Dafür bin ich ihm dankbar. Ich verehre ihn nicht als meinen Gott, und ich sehe ihn auch nicht als Sklaven.

Aus dieser bequemen Nützlichkeit41 entsteht ein typisches Digitalisierungsproblem, insofern die Notwendigkeit, chinesische Zeichen nicht nur zu lesen, sondern auch eigenhändig zu schreiben oder zu tippen, bei den Usern schwindet. Langfristig könnte darunter auch die Lesefähigkeit der Japaner leiden. Die wunderbaren Rechner ersparen uns eine wachsende Zahl von Anstrengungen. Die Klagen über die Unfähigkeit einer wachsenden Zahl von Schülern, den Sinn einfacher Texte zu verstehen, werden in Japan gern von der Bemerkung begleitet, daß ein steigender Prozentsatz – alles statistisch erhoben! – auch nicht imstande ist, einen Computer zum Schreiben von längeren Texten zu gebrauchen. Ich nehme an, damit ist gemeint, ihn als Schreib- und Lesegerät zu bedienen, denn gleichzeitig wird der negative Einfluß von Social Media beklagt, und dazu braucht es einen Rechner, nenne er sich auch i- oder Smartphone. Ganz ohne Schrift kommt man dabei nicht aus, doch im Prinzip bewegt man sich eher von Bild zu Bild als von Satz zu Satz, und man drückt sich auch in Bildern aus: Handy-Fotos. Diese parallel laufenden Klagen über mangelnde Computerkompetenzen und Lesekompetenzen sind widersprüchlich, weil eben der Gebrauch des Computers die schreiberischen Fähigkeiten unnötig macht und dezimiert. Deshalb die Tendenz von Information im Internet, auf einzelne Sensationen, konzentrierte Bilder, schnelle Reize zu setzen und die User in diesem Sinn zu steuern. Sie springen auf einzelne, besonders wirkungsmächtige Elemente an, der Rest interessiert sie nicht. In den Gratiszeitungen im Internet lesen die „Leser“ oft nur die Überschrift eines Artikels (was man in prädigitalen Zeiten auch getan hat, aber niemals in diesem Ausmaß und mit dieser Ausschließlichkeit), geben in der Kommentarspalte ihren Senf dazu – Selbstdarstellung ist wichtiger als Verständnis für ein Thema oder eine Person – und springen weiter. Klar geht auf diese Weise auch die Lesefähigkeit verloren!

Aber wir waren bei der Schreibfähigkeit, die angesichts der Vielzahl chinesischer Zeichen und ihrer Lesarten mehr gefährdet ist als etwa in den europäischen Ländern (wo das Phänomen auch nicht unbekannt ist). Der Computer schreibt für dich, du mußt nur das einfache System beherrschen, der Rest wird von ihm übernommen. Declining kanji-writing skill of Japanese blamed on cell phones, computers titelte eine englischsprachige japanische Zeitung. Es gibt zu dem Thema sogar einen recht ausführlichen englischsprachigen Eintrag in Wikipedia unter dem Stichwort Character amnesia: Das kühle, fehlerlose Erinnern des Computers führe zum Vergessen bei seinen menschlichen „Nutzern“. Eine höchst seriöse neue Studie über Kanji-Schreibfähigkeiten stellt ebenfalls eine reduzierte Kompetenz bei Jugendlichen fest und sieht eine mögliche Erklärung in „the rapid spread of digital writing devices, such as PCs and smartphones that provide the correct kanji or at least options from which to select them“.42

Ohne Erinnerungsfähigkeit aber gibt es kein Lernen, kein Assimilieren von Wissen, kein Können. Allein schon aus diesem Grund sind die prädigitale, humane, ohne viel Technik auskommende humanistische Kultur und die entsprechende Pädagogik auf Dauer unverzichtbar: nicht zuletzt, um die Rechenmaschinen unseres Alltags sinnvoll bedienen zu können. Die Bedienbarkeit wird in Zukunft noch leichter werden und noch mehr auf Bilder statt auf Text setzen, und so werden 99 Prozent der Weltbevölkerung, sofern der Entwicklung nicht gegengesteuert wird, die allgegenwärtigen Rechner ausschließlich als Unterhaltungsgadgets verwenden und den von diesen ausgehenden, oftmals aggressiv angebotenen Suchtmöglichkeiten erliegen. Ein Konsumentenweltvolk von Süchtigen …

Das Schreiben von Zeichen, eigenständiges, „assimiliertes“, in den Körper, den Kopf aufgenommenes Wissen, bloßes Schauen, Betrachten, Orientierung in der Welt, bis zu einem gewissen Grad auch Denken, handwerkliche Fähigkeiten, Autofahren: Das alles wird unnötig, der Rechner und seine Sensoren, seine Video- und Audioaufnahmen erledigen es für uns, und wer hat schon die Kraft zu sagen, egal, ich fahre in der Ausübung meiner oft so mühsamen Menschlichkeit fort? Ähnliches hatte sich schon vor der allgemeinen Digitalisierung mit dem Kopfrechnen abgezeichnet; in den Schulen wird es nach wie vor eingeübt, obwohl es im Alltag längst vom einfachen Rechner bzw. heutzutage vom Handy, der handlichen Allzweckmaschine, übernommen worden ist. Sollen wir das Kopfrechnen abschaffen? Oder, sagen wir, auf mehrstellige Zahlen über 31 verzichten? Man will es den armen Schülern doch nicht zu schwer machen! Das Problem – und der Grund, weshalb es in den Schulen immer noch gelehrt wird – liegt darin, daß man ohne solche Grundkenntnisse nicht einmal die Maschinchen ordentlich bedienen kann. Um sich in der digitalen Welt zurechtfinden zu können, braucht man „analog“ erworbene und ausgeübte Fertigkeiten, die wiederum ein Mindestmaß an Erkenntnisvermögen43 zur Voraussetzung haben. Es sei denn, digitale Sprachassistenten übernehmen ein für allemal die gesamte Koppelung der human units an Computer und Sensoren. Jede Menschenperson hätte dann ihren personalen Sprachassistenten, zunächst noch als Gerät, das sie ständig bei sich führt, später als Implantat. Auf diese Weise können wir uns ganz aufs Befehlen und Gehorchen beschränken, und zwar in beide Richtungen, nur daß wir gar nicht merken, daß wir unablässig Befehle ausführen – wahrscheinlich halten wir uns weiterhin für autonom. Eines schönen Tages werden die Rechner noch viel klüger sein als heute, und es wird sich die Frage erheben, ob Menschen überhaupt noch sprechen lernen müssen, wo es den intelligenten Maschinen doch genügt, die Wünsche und Bedürfnisse ihrer Herren – und Sklaven – an Gehirnströmen abzulesen. Ob die Menschen realiter überhaupt noch die Position des Herrn einnehmen werden? Noch einen Schritt weiter gedacht: Werden mit der Sprache nicht sogar die Wünsche und Bedürfnisse verschwinden?

Es gibt da dieses digitalisierte Spiel – Ernst oder Scherz, schwer zu entscheiden –, bei dem man als User (oder Zocker oder Bürger) einen Katalog von gesellschaftlichen und politischen Fragen durchgeht, deren Beantwortung eine „objektive“ politische Präferenz ergibt, so daß man weiß, welche Partei man bei der nächsten Wahl zu wählen hat. (Man braucht dafür keine digitalen Algorithmen, wohl aber objektivierbare Daten.) Yuval Harari findet Gefallen an der Idee, daß uns Algorithmen derartige Empfehlungen geben, die man in letzter Konsequenz als Handlungsanweisungen verstehen wird: Wir gehorchen Maschinen, nicht umgekehrt. Zu Ende gedacht, gelangt man auf diesem Weg zu der Gewißheit, daß Demokratie im bisher geläufigen Sinn, zu deren Voraussetzungen die Annahme einer Willensfreiheit zählt, nicht mehr nötig und sinnvoll ist. Das hat zahlreiche Aspekte und weitere Folgen, die ich an dieser Stelle nicht erörtern will. Hier geht es mir nur um unsere essentielle Getriebenheit und Bequemlichkeit in den diversen Zonen unseres Verhaltens.

Ich habe nachgesehen im Netz, auf einer der Seiten, die dem demokratiebewußten User einen Wahlautomaten, etwas verschämt Wahl-O-Mat genannt, bieten. Eigentlich ganz harmlos, mit den besten Absichten gegen Ende der prädigitalen Epoche entwickelt. Man braucht dazu nicht einmal einen Computer, obwohl die heutigen Datenvergleiche früher unmöglich oder zumindest aufwändig und langwierig waren. Es ist die alte Technik der Umfrage, der Selbsterforschung, des Beichtspiegels, die hier zur Anwendung kommt. Und zwar durchaus im Ernst, unterstützt von der deutschen Bundeszentrale für politische Bildung, also der Regierung, die sich davon, anscheinend zurecht, eine zunehmende Teilnahme der Bevölkerung an Wahlen und Abstimmungen verspricht. Ich habe nun mein politisches Bewußtsein erforscht bzw. gecheckt, wie man heute sagt, mit jenem leichten Widerwillen, den alle Umfragen bei mir hervorrufen, im konkreten Fall deshalb, weil mir einige Fragen als Fangfragen erschienen, nicht sehr sinnvoll, unterkomplex, nur gestellt, um mein Bewußtsein in ein bestimmtes Kästchen – Wahlkästchen – stecken zu können.

Herausgekommen ist bei mir das Erwartete. Ich bin links. Meine Ansichten stimmen zu einem erheblichen Teil mit dem Wahlprogramm der Linken überein. Zu 79,7 Prozent, alles wird berechnet. Dazu möchte ich in aller Bescheidenheit und jenseits aller Berechnungen folgendes anmerken, d. h. berichten. Was ich berichten werde, ist meine persönliche Geschichte in „politischer“ Perspektive und in einem bestimmten, „unpersönlichen“ zeitgeschichtlichen Kontext. Nur durch solche Geschichten kann ich (und könnt ihr) etwas verstehen. Erstens, mich ärgert dieses Links-Sein. Nach so vielen Jahren, die ich mich mit meinem eigenen Bewußtsein auseinandersetze, um es sinnvoll anzupassen und weiterzubilden, ärgert es mich, aber ich muß es auf mich nehmen, auch dann, wenn ich mich davon distanziere und es mit Befremden ansehe. Dann wieder gibt es Momente, da denke ich, ich bin gar nicht links. In der Zeit, als der Neoliberalismus um sich griff, dem auch Michel Foucault, der freiheitsliebende Schwule, zuletzt huldigte, war ich nicht links, sondern … vielleicht sogar rechts, was weiß ich, che ne so! Irgendwo muß man sich positionieren, oder auch nicht positionieren, aber das erklärtermaßen, damit man in die Statistik Eingang finden kann. Aber ich wollte einen kurzen Überblick geben, denn ich bin, was ich erinnere. Und das heißt, daß ich mich in mir täuschen kann.

Meine Eltern waren katholisch, besonders meine Mutter, die aus der tiefen bäuerlichen Provinz stammte, l’Autriche profonde. Würde sie noch leben, sie wäre über neunzig; die digitale Welt wäre ihr fremd, wahrscheinlich gleichgültig, schon dem Fernseher, als wir ihn bekamen, näherte sie sich ungern, die Bilder waren ihr zu fahrig, sie verwirrten sie (dabei erscheinen sie ruhig im Vergleich zu der Hektik, die Kameraleute und Cutter seit ungefähr 1990 an den Tag legen zu müssen glauben). Ich lese gerade ein Buch über die „dunklen Jahre“, d. h. über die Nazizeit nach dem Anschluß, und erinnere mich an den christlich-katholisch motivierten Antinazismus in meiner Familie. Welch tiefer, fragloser Glaube, welches Feuer; welche Bedeutung diese Welt- und Lebensanschauung im täglichen Leben hatte! Unser tägliches Brot gib uns heute! Es war nicht selbstverständlich, daß welches auf den Tisch kam. Fast erfüllt mich diese Lebensweise, aus dem abgeklärt-ironischen 21. Jahrhundert betrachtet, mit Neid. Dieser Katholizismus existiert nicht mehr, er ist abgestorben, in Österreich wie in anderen Ländern. Als Jugendlicher war mir bald klar, daß ich nicht glauben kann. Und was ist eine Religion ohne Glauben? Diese rhetorische Frage stelle ich heute noch gern, wenn es dazu kommt, zum Beispiel in Japan, wo die meisten Menschen Religion – Shinto und Buddhismus – mit ernster Miene spielen (wie sie übrigens auch Demokratie so ernst wie möglich spielen, in meinen europäischen Augen allerdings grotesk, unfreiwillig komisch). Eine Religion ohne Glauben ist nicht Fisch und nicht Fleisch, darin stimme ich mit meinem Freund Mohamed, einem gläubigen, aber weder strengen noch eifernden Moslem überein – zweifellos eine, nein, nicht eurozentrische (Mohamed stammt aus Nordafrika), aber vom Monotheismus geprägte Aussage. Freilich, mein Unglaube hindert mich nicht daran, einiges an christlichen Gedanken und Werten zu bewahren, ja, in selbstgefällig rationalistischutilitaristischen Zeiten sogar auf meine Fahne zu schreiben.44

Ich wuchs also in einer Zeit auf, als der Generationenkonflikt unvermeidlich war und die meisten meiner Generationsgenossen wenigstens eine Zeitlang zu ihren Eltern auf Distanz gingen, manchmal – nicht immer – auf dramatische Weise. Es war zu einem kulturellen Bruch gekommen, eine Implosion alter, überkommener Werte hatte stattgefunden, neue Lebensweisen, Sinnkonstruktionen und kulturelle Formen hielten Einzug; dagegen stemmten sich die Erwachsenen, Alle-über-Dreißig, mit aller Macht, denn damals hatten sie noch Macht. 1968 war ich elf Jahre alt, die Gründe der Kulturrevolution konnte ich nicht verstehen, doch ihr Einfluß auf die Bildung meines kleinen Bewußtseins war während der folgenden Jahre sicherlich stark.45 Ich habe das am eigenen Leib, nämlich in meinem Kopf, erfahren, was Philipp Felsch als den „langen Sommer der Theorie“ beschrieben hat. Daß theoretisches Denken überhaupt von Wert war, daß es cool, sogar sexy war (heute ist es bestenfalls verwirrend, störend, langweilig). Dieser Sommer war um 1977 noch nicht zu Ende, doch sein Niedergang nicht mehr abzuwenden. Ich war links, zu meiner Eltern Entsetzen, das sie schamvoll verbargen, ebenso wie ich meine vermeintlichen Gewißheiten verbarg: Die katholische Scham hatte all die offenen und schwelenden Konflikte überlebt. Später schrieb ich einen kleinen Essay über Diego Rivera und Frida Kahlo, das kommunistische Künstlerehepaar. Darin zitiere ich Carlos Fuentes, der den Verdacht hegte, „daß viele lateinamerikanische Kommunisten in Wahrheit abtrünnige Katholiken sind, die sich nach Begütigung sehnen. Da sie das katholische Obdach verloren haben, suchen sie bei den Kommunisten Zuflucht. Der Petersdom war schließlich ein Relikt der Vergangenheit, der Kreml ein Vorbote der Zukunft.“46 Das sehe ich noch heute so ähnlich.

Also war meine Entwicklung von vornherein, von Kindheit an, festgelegt? Ist unser Leben, sind unsere Äußerungen, unsere Entscheidungen tatsächlich so determiniert, wie Harari schreibt, immer wieder in dieselbe Kerbe schlagend: Es gibt keinen freien Willen! Der freie Wille ist pure Illusion! Wir tun einfach so, als gäbe es einen, oder genauer: Wir müssen (!) so tun, als ob – daher dann auch die systemische Ironie. Der freie Wille ist eine nützliche und notwendige Fiktion, sofern wir unser Menschsein behaupten wollen (das man natürlich, wie weiland Nietzsche, auch „überwinden“ wollen kann). Festgelegt oder nicht: egal.

Also weiter in der Geschichte, die nun mal so ablief, wie sie ablief: Was war nach 1977? Da habe ich gelebt. Bin mal dahin, mal dorthin gegangen, ein intellektueller Nomade, erst später auch ein physischer. Stille Lektüren haben mich geprägt, in andere Richtungen gezogen, manchmal gegen meinen Widerstand. Ich glaubte, Poppers Liberalismus zu kritisieren, aber Poppers Schriften haben mich kritisiert und geprägt. Sogar Nietzsche-Lektüren haben einen Beitrag geleistet, und Levinas, von dem ich nicht viel gelesen habe, dessen Theorie der Alterität, eher vermittelt durch andere (Derrida, Jean-Luc Nancy), mir aber geblieben ist. Lektüren gegen Marx, gegen Hegel, wider den Geschichtsdeterminismus, der die christliche Linie von Vorsehung und Eschatologie verlängerte. Abweichen von der Linie, und zwar auf der ganzen Linie. Heidegger, Nietzsche und Schopenhauer als Erzieher, alle drei! Dazu die Idee der Fehlbarkeit (Paul Ricoeur!), das einzige Vermächtnis der einzigen Person, die ich als meinen akademischen Lehrer à la limite gelten lassen würde. Und dann, wider das akademische Milieu, die blühenden Phantasien des Theorie-Praxis-Gespanns Deleuze/Guattari. Und so weiter.

Resultat der Selbsterforschung: Ich bin gar nicht links, der Wahlautomat hat unrecht. Ich schätze sogar Ernst Jünger, und zwar nicht nur als Träumer, Metaphoriker, Drogenexperten und subtilen Jäger, sondern auch als Theoretiker. Selbst für Nationalsozialisten kann ich Verständnis aufbringen, zumindest für Nationalbolschewisten und Edelnazis wie Ernst Niekisch, Ernst Jünger, Martin Heidegger – nicht für die Rüpel, Gewalttäter und Mörder (von Rosenberg über Goebbels zu Hitler). Trotzdem legt mich der blöde Algorithmus der Bundesregierung fest: Du bist links und mußt auch so wählen!

Nichts zu machen. Seit mehr als zwanzig Jahren weiß ich nicht, wen und was ich wählen soll, und bin auch gar nicht zu Wahlen gegangen. Habe ich denn eine Wahl? Mein Bewußtsein hat sich gebildet, und ich habe versucht, dazu beizutragen, so gut ich eben konnte. Weitgehend habe ich mich im Alleingang selbst erzogen, geformt, gemacht, auch konstruiert, erfunden und neuerfunden, ganz wie ihr wollt. Autopoiesis, si vous voulez. Das sage ich in Anerkennung von Hararis Determinismusverdikt, das ich in anderem Kontext verwerfe, weil ich glaube, daß es, ernstgenommen und in die Lebenspraxis übersetzt, einen neuen Kollektivismus, einen Technokollektivismus fördern wird, der mir trotz – oder wegen? – all meiner linken Sozialisierung unheimlich ist. Wir stoßen hier wieder einmal auf eine Parallele zu den zwanziger/dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Die wachsten Geister wurden schon damals weniger durch das Hinübergleiten zu den politischen Extremen, zu Autoritarismus und kriegerischem Gehabe aufgeschreckt als durch den Aufschwung kollektivistischer Existenzformen, von antibürgerlichen Lebensmodellen linker oder rechter Couleur, die oft mit Begeisterung angenommen wurden. Robert Musil, 1942 im Schweizer Exil verstorben, hatte ein feines Sensorium dafür, und es schwante ihm nichts Gutes, doch die soziale Stellung dieses neugierigen Teilnehmers am Ersten Weltkrieg (an der Isonzofront) und freiheitsliebenden Individualisten, der sich mit naturwissenschaftlichen Gesetzen auskannte und zur Sachlichkeit neigte, war viel zu schwach, als daß er auch nur im geringsten hätte eingreifen können; wohingegen Ernst Jünger, dieser ewige Soldat (1913 Fremdenlegionär, im Ersten Weltkrieg an der Champagne-Front, verwundet in der zweiten Somme-Schlacht, Eisernes Kreuz usw.), von seiner starken, aber elitären Position aus das Verschwinden des Individuums zugunsten eines roboterhaften Menschentypus schwungvoll und unerbittlich konstatierte. An einer solchen Schwelle stehen wir wieder, doch die Kollektivierung hat andere Ursachen, einen anderen Werdegang und prägt andere Formen aus, sie kommt nicht oder nicht allein von oben, sondern von unten, vom „Nutzer“ und Konsumenten, und bedarf keiner physischen Gewaltanwendung, sie verläuft rhizomartig und viral; die globale Bedrohung durch das reale Virus bestärkt noch diese Entwicklung, die sich mit dem bewußten oder – häufiger – unbewußten Einvernehmen der zu Rezeptoren gewordenen Subjekte vollzieht.

Distanz, Telekommunikation und Teleworking, totale Kontrolle via Handys bringen ein neues, digitales Herdenverhalten hervor. Das Hypernetz breitet sich aus, während die kleinen Netze mit ihren Feeds & Filtern sich zwar vervielfachen, zugleich aber den Einzelnen und die Gruppe einmauern, nicht selten auch gegeneinander stellen. Die von so gut wie allen geteilte Maxime ist das Mehr-und-Mehr, das Schnellerund-Schneller, Besser-und-Besser, was freilich im Widerspruch steht zur bislang unaufhebbaren Tatsache, daß ein Menschenkind schlafen und Nahrung zu sich nehmen muß, daß es sich nur langsam entwickelt und daß seinem Leben früher oder später ein Ende bevorsteht – was dem medientüchtigen Unternehmer Elon Musk ein Dorn im Auge ist, so daß er in seinem bekannten unternehmerischen Elan den Menschen verspricht, ihnen demnächst in Form eines Computer-Implantats – eine Art Link, ein Interface – die Unsterblichkeit verkaufen zu können. Es wäre dies, wenn ich die Sache recht verstehe, eine Existenz ohne Körper, oder mit einem austauschbaren, künstlichen Körper. Eine nicht-leibliche Existenz. Diese Nicht-mehr-Sterblichen würden als künstliche Intelligenz in Verbindung mit einem künstlichen Körper in eine lichtvolle Ewigkeit voranmarschieren.

Aber … Wäre dieses Produkt denn noch „menschlich“ zu nennen? Ist nicht das schwierige, täglich neu anzustrebende Gleichgewicht zwischen Körper und Geist (plus Seele) das eigentlich Menschliche? Wären diese technologisch bewerkstelligten Fortschritte nicht eine andere, von innen her, aus dem menschlichen Bereich, kommende Art, den intelligenten Maschinen gegenüber abzudanken? Überflüssigkeit allenthalben, die Menschheit als Parasit, dessen es sich zu entledigen gilt wie des Ungeziefers in Kafkas Verwandlung zugunsten einer von technogenen Übermenschen bevölkerten, zweifellos strahlenden Zukunft.47 KK-Prinzip: durch die scheinbare Demokratisierung aller Lebensbereiche, wie wir sie in unserer späthumanen Epoche erleben, hinter der sich Marketing, Konsumgier und Monetarisierung verbergen, wird nicht „das Volk“ und nicht die Masse der Einzelnen zum König gekürt, sondern eben der Kunde, der Steuerzahler, der Geldgeber, und diese neuen Verhältnisse lassen sich mit alten Hierarchien, autoritären Methoden und systematischer Demagogie bestens kombinieren. Sanfte Kontrollgesellschaft? Autoritäre Disziplinargesellschaft? Beides! Die Unterschiede, je nach kulturellem Kontext und historischen Einflüssen, bleiben bestehen. Vorerst. Es wird weiterhin eher ängstliche, ängstlich gemachte – und eher offene, risikofreudige Einzelne, Bevölkerungsteile und sogar Nationen geben. In den europäischen Ländern, den Kernländern – wenn ich sie so nennen darf – Deutschland und Frankreich, in diesen Kulturkreisen also, auch im englischen, versteht sich, spielt seit dem 18. Jahrhundert, aber eigentlich schon seit der Renaissance und letztlich seit den Anfängen im alten Griechenland, die Idee der Persönlichkeitsentfaltung und damit die Idee der Erziehung eine wesentliche, zentrale Rolle. Auch Karl Marx nahm diese Idee auf, wollte sie den „großen Massen“ einimpfen, was freilich nur in einer anderen, erst noch zu schaffenden Gesellschaftsordnung möglich sei. Schon in der prädigitalen Epoche gab man sich die – schon damals selbstgefällige – Auszeichnung „Wissensgesellschaft“, und auf diesem Weg glaubt man weiterzugehen. „Deutlicher als bisher wird Wissen als eine sozioökonomische Kategorie gefaßt, dessen vorrangiges Ziel in der wirtschaftlichen Verwertung besteht“, resümierte eine österreichische Erziehungswissenschaftlerin schon 2002.48 Hinzuzufügen wäre dem nur, daß Wissen vom menschlichen Standpunkt aus gesehen mehr und mehr zur technischen Handhabung und Verwaltung von gespeichertem Wissen geworden ist. Klug sind nicht Menschen, die vieles analysieren, verstehen und beurteilen können, und schon gar nicht solche, die in ihrem Kopf Wissen gespeichert haben, sondern solche, die sich in den stetig wachsenden Sektoren des digitalen Datendschungels rasch zurechtfinden und hurtig umtun können. Das ist gemeint, wenn von „Kompetenzen“ anstelle von Allgemeinbildung die Rede ist.

Aber Wissen ist per se noch nicht Bildung, und außerdem wurde das Wissen, das sich im Verlauf der Menschheitsgeschichte angesammelt hat, von den Individuen in einem nie dagewesenen Ausmaß abgetrennt, verfügbar gemacht, die Verfügbarkeit perfektioniert und beschleunigt: In Echtzeit, d. h. im Handumdrehen, d. h. mit einem Fingerwischen oder Mausklick kann man jederzeit ganze Wissensgebiete aktualisieren. Früher mußte man in Bibliotheken gehen und sich durch Bücher lesen, zumindest blättern. Richtig, Wikipedia wird von allen gemacht.49 Aber auch: Was in Wikipedia und überhaupt im ganzen Internet steht, mußt du selbst nicht wissen, es kann eh nicht verloren gehen und bleibt dir jederzeit verfügbar. Einerseits hat sich die Trennung radikalisiert, andererseits die Nähe. Um meine diesbezüglichen Überlegungen abzukürzen: Die Entfaltung einer Persönlichkeit ist heute gar nicht mehr notwendig, und weil sie das nicht ist, werden die Heranwachsenden nicht dazu angeleitet; die Entfaltung wird immer seltener stattfinden. Was wir an den jüngeren Generationen der digital natives beobachten, ist die algorithmisch betriebene, kommunikationstechnisch gestützte Einfaltung der Leerformen des Ichs, das durch Vorlieben, durch – natürlich von Werbung geprägte – Geschmacksimpulse, durch Reize und Anreize, also durch Serien von notwendigen und berechenbaren Zufällen, die per se keine Dauer haben, determiniert worden ist. Die so entstehenden Identitäten sind zugleich vollgestopft und leer; wechselhaft, sprunghaft, ohne eigentliche Kontinuität. Das meint zumindest Harari, der in Homo Deus behauptet, nur Maschinen hätten eine kontinuierliche, unwandelbare Identität. Wahr: Maschinen ändern sich nicht – wenigstens, solange sie nicht lernfähig sind; sie sterben auch nicht, sondern gehen eines Tages kaputt. Definiert man jedoch Identität als etwas Entstehendes und wieder Vergehendes, stets in Veränderung Begriffenes, wenngleich von Erstarrung bedroht – wir beginnen im Leben zu sterben! –, dann haben gerade die Menschen eine besondere Identität. In humanistischer Tradition verstehen wir Identität als offenes, nie ganz „fertiges“ Resultat von Entwicklung, deren Geschichte wir, wenn wir wollen, erinnern können (und auch müssen, sofern wir selbstbestimmt tätig werden wollen); aber nicht in einem formallogischen „A = A“, und auch nicht unbedingt in einem hegelianisch-geschichtsphilosophischen „A vs. B = C“. Manchmal habe ich das Gefühl, Harari, der Darstellungskünstler, stellt sich dumm.

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