Kitabı oku: «Parasiten des 21. Jahrhunderts», sayfa 4

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Die Berechnung der Liebe

Ein sogenanntes Landkind, wuchs ich in einem anfangs noch wenig, doch bald immer stärker motorisierten Umfeld auf, an einer Auf- und Abfahrt der in jenen Jahren erst fertiggestellten Autobahn, in einem Gasthaus gegenüber der ebenfalls neu errichteten Tankstelle. Zu dieser Tankstelle gehörte eine kleine Werkstatt, die mich als Kind zwar anzog und faszinierte – die Düfte von Schmieröl, Reifen, Benzin –, aber wohl doch nicht stark genug, als daß ich Lust bekommen hätte, mich selbst an so einem Personenkraftfahrzeug zu schaffen zu machen, etwa indem ich in die Grube gestiegen wäre, über der ein detektivisch zu untersuchendes und zu reparierendes Auto schwebte. Ich bewunderte den Mann im Overall, dessen Schultern die Bodenfläche knapp überragten, den Kopf in den Nacken gelegt, das forschende Gesicht zur (für mich) unverständlichen und geheimnisvollen Unterseite des Wagens gehoben. Ich bewunderte ihn, aber doch immer nur mit einer gewissen, mir selbst damals gar nicht bewußten Distanz, so daß ich mich nie, im Unterschied zu meinem Bruder, mit diesem oder einem anderen Mechaniker anfreunden konnte. Wohl aber freundete ich mich mit dem Tankwart an, der nichts anderes tat, als den Schnabel des Benzinschlauchs in den Tank zu stecken, zu kassieren und manchmal, oft unwillig, „lässig“, wie ich damals meinte, dann wieder beflissen, wenn er ein gutes Trinkgeld erwarten konnte, oder scherzend, wenn der Verkehrsteilnehmer eine Frau war (was selten vorkam), den Ölstand maß und die Windschutzscheibe mit Lappen und Wischer reinigte: Oft lehnte er am Kasten, schaute in die Luft und lächelte mir zu, wenn er mich über die Straße kommen sah.

Seit damals, gewissermaßen von Anfang an, war es mir gleichgültig, wie so ein Auto, wie das Herz eines Gefährts, sein Kreislauf, seine Verdauung, sein Gerippe eigentlich funktionierten. Man fährt in diesem Gerät, das zugleich ein Gebäude ist, man geht davon aus, daß der Motor anspringt, wenn man den Startschlüssel dreht und das Ding in Bewegung kommt, wenn man kuppelt und Gas gibt, doch über das Wie und Warum macht man sich keine Gedanken. Wozu auch? Bei einer Panne ruft man den Automobilclub – auf der Autobahn stand dafür alle ein, zwei Kilometer ein Telephon; heute hat man ein Smartphone und läßt sich vom GPS orten – oder fährt selbst in die Werkstatt, bringt das Gefährt zur Reparatur, trinkt unterdessen, wenn es sich um eine Kleinigkeit handelt, einen Kaffee im Gasthaus gegenüber, das sich seit seiner Vergrößerung „Rasthaus“ nennt, weil es ein paar Fremdenzimmer hat, oder man nimmt ein Fremdenzimmer, wenn es schon spätabends ist. Werkstätte – Raststätte, das perfekte Paar. Der Körper, die Augen, der Geist dürfen ruhen, während ein anderer für dich werkt.

Als die Personalcomputer aufkamen, lief das ein wenig anders. Erstens war ich schon erwachsen und die Dinger waren vollkommen neu. Zweitens gab es noch keinen – inzwischen auch schon wieder verschwundenen – Berufsstand der digitalen Reparateure und Pannenhelfer, der Sachverständigen für Hard- und Software. Meistens mußte man irgendwie selbst zurechtkommen, das Internet war noch nicht entwickelt, Programme konnte man sich nicht einfach so herunterladen, man holte vielleicht den Rat von Freunden oder Kollegen ein, nicht vom Computer aus, sondern per Telephon (Festnetz). Den PC kaufte man zusammen mit einem dicken Handbuch, das der Benutzer wohl oder übel zu studieren hatte – dachte ich wenigstens. Als reflektierender, mehr oder minder selbstbewußter junger Mensch, auf die eigene Bildung und Fortbildung bedacht, studierte ich nicht nur das Handbuch (erfolglos, wie ein paar Jahre vorher Das Kapital), sondern versuchte zu verstehen, welches die Grundlagen und zu erwartenden gesellschaftlichen Folgen der kybernetischen – damals ein Zauberkürzel: Cyber – Umwälzung waren. Alles umsonst, ich habe keinerlei mathematisches, rechnerisches, ingenieursmäßiges Talent, bin zu sowas genauso wenig begabt wie für die Kfz-Mechanik (heute: Mechatronik). Bis heute ist Null-Punkt-Eins für mich ein großes Geheimnis (oder war’s andersrum, Eins-Punkt-Null? Ist das nicht egal?), das unsere Gesellschaft und unser eigenes kleines Leben durchdringt. Ich starre immer noch auf die Zauberformel, habe aber mit den Jahren zu akzeptieren gelernt, daß ich die Sache und ihre Grundlagen nicht verstehe und trotzdem weitgehend problemfrei damit umgehen kann. So ist es Tausenden, ja, Millionen Angehörigen meiner Generation ergangen, während Jüngere in die cyberworld hineingeboren und hineingewachsen sind und sich die Frage, ob man so etwas verstehen muß oder nicht, gar nicht mehr stellen, ja, nicht einmal ihren Sinn verstehen: Es gibt Hacker und Nerds, die kennen sich aus, das ist ihre Obsession, ihr Job, ihr Hobby, ein bißchen schräg …

Null-Punkt-Eins. Ich werde mich nicht daran machen, das Geheimnis für mich aufzuklären. Ich habe mir, mehr im Unterbewußtsein, einen Reim darauf gemacht, führe eine mehr oder minder unaufgeregte Koexistenz mit dieser endlos variierten Zahlenkombination. (Noch etwas, das mich gegenüber meinen Maschinen auszeichnet: Mein Unterbewußtsein. Träumt ein Computer, eine Maschine, ein Hubot, wenn er ausgeschaltet ist?) Unablässige, in rasender Geschwindigkeit erfolgende Entscheidungen, zwischen zwei und nur zwei möglichen Positionen. Auf dieser Basis sollen hochkomplexe Steuerungsprozesse möglich sein, die die menschlichen Steuerungsfähigkeiten (eines Mercedes, eines Flugzeugs, einer Firma …) weit übersteigen, weil Menschen Grenzen haben und langsam sind? Mag sein. Soll sein. Aber die Basis ist und bleibt doch reichlich primitiv, oder? Dieses ewige Null-Eins, Eins-Null, wie das Läuten der Verkehrsschranke oder ein langweiliges Fußballspiel oder die Trillerpfeife auf japanischen Schulhöfen, eins-zwei eins-zwei, dieses schlichte Metrum, das nicht einmal der Struktur eines Volkslieds das Wasser reichen kann. Hat dieser Gedanke nie in euren Köpfen rumort? Und jetzt, schon lange gewöhnt an die totale Vernetzung und die sogenannten Sozialen Medien und die ganze oberflächliche Kommunikationswut, springt mir die Parallele ins Auge und in den Kopf, daß das Entscheidungsverhalten, der Entscheidungszwang, der sich da eingespielt hat, keine andere Form hat als dieses alte Null-Eins: Rot-Grün, Plus-Minus, Daumenrauf-Daumenrunter.

Äußerlichkeiten, werdet ihr sagen. Eben. Vielleicht hat die Parallele doch einen tieferen Grund. Konditioniert nicht schon die Herrschaft der Computer, anders gesagt: die fortschreitende Digitalisierung, unser moralisches Verhalten? Ist dieses Verhalten dann nicht, weil den digitalen Forderungen angepaßt, zwangsläufig primitiv, primitiviert, und zwar, wie es aussieht, für alle Zeiten, für den Rest des Lebens der Menschheit? So daß es, wie Hans Magnus Enzensberger, einstmals Medienkritiker und -euphoriker, nunmehr ins Alter der Weisheit vorgerückt, in aller Deutlichkeit sagte, keine andere Möglichkeit für vernünftig bleiben wollende Menschen gibt, als sich von der digitalen Welt radikal fernzuhalten, sofern man überhaupt noch alternativen Lebensentwürfen nachstreben will. „Dem Aberwitz, alle denkbaren Gebrauchsgegenstände, von der Zahnbürste bis zum Fernseher, vom Auto bis zum Kühlschrank über das Internet zu vernetzen, ist nur mit einem totalen Boykott zu begegnen“, heißt es in seinem nur leicht ironisch angehauchten Manifest. Am Ende ruft er den Leuten „Wehrt euch!“ zu, aber da ist keiner, der sich wehren will.27

Kann sein, daß der neue, digital façonnierte Mensch schon Wirklichkeit ist. Mehrheitswirklichkeit, der Nachahmungstrieb drängt die Leute zum Malstrom und bewirkt, daß Alternativen und Nischen schwinden, obwohl sie theoretisch immer mehr werden müßten. Vorgestern28, nach dem Lustspiel, wollte ich in einem Straßenlokal, einer Art Imbißstand, vom Strom der Passanten durch violette, vom Vordach herabhängende Tücher getrennt, Ramen essen und mußte meinen Platz gegen einen Trupp chinesischer Touristen behaupten, die die Küche, den Koch, sich selbst, ihre Mittouristen und vor allem die großen, vollen Suppenschüsseln abphotographierten. Die Kameraaugen der Handys schienen anstelle der zugehörigen Menschen die Füllung der Schüsseln – Nudeln, Sojasprossen, Schweinefleisch – in sich hineinsaugen und -schlürfen zu wollen, und die rechte Hand des zugehörigen Menschen beeilte sich, während seine Linke nachlässig zu den Stäbchen griff, das Abgelichtete, also die augenblickliche Wirklichkeit, durch Herumfingern auf dem Bildschirm dort- und dahin zu verschicken, zweifellos nach China, in die USA, nach Chinatown, in alle Chinatowns dieser Erde. Done? Erledigt? Dekimashita. Vielleicht ein paar Likes erzielt. Oder auch nicht. Gegessen? Nicht so wichtig. Die Schar nickt sich freudig zu, der nächste Programmpunkt ruft. Mit an den Körper gepreßten Armen beugte ich mich über die Schüssel, die meine Hände zum Gesicht hoben.29

Leute dieser Art läßt Yuval Harari gern in seinem dicken Buch über den Menschengott vorkommen, und ebenso Michel Serres in seiner dünnen Liebeserklärung an die vernetzte Generation. Karikaturen von dem, was man früher als „Mensch“ bezeichnete. Immer wieder, wie Wellen, beschleicht mich das Gefühl, daß das alles nicht ironisch, sondern ernstgemeint ist, die ganze neue Wirklichkeit ernstgemeint, die Ironie gar nicht schwach oder mißglückt, wie es in den Internetforen unter all den sprachunbegabten Usern dauernd passiert, sondern einfach nicht vorhanden. Scheiternde Ironie ist keine. Das „objektive“ System selbst kennt ohnehin nur einen Modus; die Subjekte glauben, einen freien Spielraum zu haben, und drücken mal diesen, mal den anderen button („Ironie off“). So auch bei zahllosen anderen Forschern, Rechercheuren, Theoretikern. Hanna Rosin zum Beispiel, wenn sie von der angeblichen Machtübernahme der Frauen in den USA (vor der Trump-Wahl 2016!) berichtet.30 Wunschdenken? Das posthumanistische Menschenbild bezieht sie aus Fernsehserien, spiegeln die nicht die Gesellschaft? Wie Menschen sind oder sein sollten: soap opera. Das, wofür einst Romanciers wie Balzac zuständig waren, die menschliche Komödie. TVisiert, zur Show gemacht und gestreamt. So ist das nun mal, ganz normal. Wahrscheinlich hatte der Literaturkritiker Richard Kämmerlings recht, als er vor zehn Jahren unter dem griffigen Titel „Ein Balzac für unsere Zeit“ die epischen Qualitäten einer Netflix-Serie lobte. Technologie des 21. Jahrhunderts, Erzählformen des neunzehnten; Widerspiegelungsfunktion. Auf das 20. Jahrhundert mit seinen Modernismen können wir verzichten. (Ähnliches glaube ich bei interaktiven Videogames festgestellt zu haben, Widerspiegelung einmal beiseite: Sie funktionieren nicht anders als die Abenteuerromane von Alexandre Dumas.) Letzten Endes ist die entscheidende Frage immer noch, ob ein Werk gut oder schlecht ist. Das Problem ist, daß die zahllosen virtuellen und Show-Welten mit der Wirklichkeit verwechselt werden, auch von seriösen Journalisten und Forschern. Damit geht der Sinn für Nuancen, Vermischungen und Komplexitäten verloren. Oder täusche ich mich? Yuval Noah Harari, ein noch junger, homosexueller, mit einem Mann verheirateter Mann, vegan und tierlieb (lauter Eigenschaften, die mir privatim gefallen), spricht in seinem ernsten, ernst-ironischen Buch des öfteren von der Liebe, indem er den alten Begriff, die alte Vorstellung davon, mit dem Kontext neuer, rationalistisch quantifizierender Erklärungsformen- und Evaluierungsformen des Phänomens konfrontiert. In einer flüchtig ausgedachten Szene bekommt es sein fiktionales Ich mit zwei Männern zu tun, die als Liebespartner in Frage kommen: John und Paul. Like? Dislike? Love, or better not? Er liebt mich, er liebt mich nicht. Null-Punkt-Eins. Für wen soll er sich entscheiden? Geh, wohin das Herz dich trägt, hieß es früher in „romantischen“ Situationen dieser Art; heute wird die Entscheidungsfrage statistischer Logik unterworfen: A oder B? Welche Argumente liegen vor? Welche Kompatibilitäten? Überschneidungen? Korrelationen? Pros und Contras? Welche Zahl kommt am Ende heraus? Die Antwort gibt die intelligente Maschine mit ihren Wahrscheinlichkeitsrechnungen, ihrem biologischen, biographischen und biometrischen Input, den DNA-Analysen, der vermessenen und gespeicherten, in Korrelationen und Paradigmen gebrachten Geschichte der Herzen. Bloß keine Überraschungen! Das Glück ist berechenbar, prognostizierbar, steuerbar. To fall in love, urplötzlich, wie der Ausdruck suggeriert, dieses Phänomen ist hier nicht vorgesehen und wäre in einer Dys- oder Utopie, der wir uns nähern, nicht erlaubt. Ein älterer Mann liebt eine viel jüngere Frau und umgekehrt; ein Gesunder liebt eine Behinderte; ein Mann entdeckt, daß er nicht nur, aber auch Männer liebt: Alle diese Fälle, man kann sie sich beliebig ausdenken, haben keinen Platz in den Dispositiven der statistischen Intelligenz. It’s the end of love as we know it.

Was mich selbst betrifft, so neige ich immer noch zur Selbst- und Fremdbetrachtung ohne technische Unterstützung. Für die Erfahrung, daß mein Herz in gewissen Situationen schneller schlägt, brauche ich kein Elektrokardiogramm. Google ist mittlerweile – die Entwicklungen gehen rasend schnell, ständig muß man sich mit seinem PC oder Handy updaten lassen – Google ist nicht nur eine Suchmaschine, sondern eine personalisierte Antwort- und Entscheidungsvorrichtung, die dir bis zu einem gewissen Grad vorgibt, was du suchen willst, also unmittelbar in die sogenannte Willensfreiheit des Einzelnen eingreift und ihm die eigenen Antworten und Entscheidungen abnimmt. Genauso, wie dir Netflix die Entscheidung abnimmt, welchen Streifen du dir als nächstes reinziehen sollst, Spotify, welches Musikstück du hören wirst (und willst), YouTube oder, noch radikaler, Tik-Tok, welcher Videoclip als nächster dein Bewußtsein streifen soll.31 Einer Umfrage zufolge ziehen junge Leute diese sanfte und bequeme Automatik digitaler Angebote, die rasch zu Gewohnheiten werden, eigenen Entscheidungen, die oft mit einem, wenn auch geringen, intellektuellen Aufwand verbunden sind, vor. Den Fernseher ein- oder ausschalten, einen Kanal auswählen, das Sendeprogramm studieren, eine Platte auf- oder eine CD einlegen – solche Handlungen sind passé. Dabei ist es durchaus fraglich, ob diese Art der freiwilligen Unselbständigkeit allein für die digitale Existenzweise charakteristisch ist. Günther Anders erkennt sie bereits am Typus des Massenmenschen Mitte des 20. Jahrhunderts, der sich vom „Fließband des Radios“ umspülen läßt, um sich die Zeit zu vertreiben.32 Das Fernsehen wäre, so betrachtet, nur ein weiterer Schritt zur Deautonomisierung des Menschen. Unablässige Berieselung (mit Musik, mit Werbung, mit Bildern) ist seit den siebziger/achtziger Jahren zu einem omnipräsenten Alltagsphänomen geworden. Das Internet mit seiner multiplen Dauerunterhaltung und Scheinkommunikativität erscheint nun als die vorläufig letzte Stufe dieser Entwicklung, von der wir uns zwar vorstellen können, daß sie weiter perfektioniert, aber kaum, daß sie noch einmal überboten werden wird. Doch wer weiß …

„Willst du wissen, wer du wirklich bist?“ Auch so eine Frage! Oder Unterstellung. Daß man sein Selbst vollständig ausloten könne: der sogenannte gläserne Mensch, durchsichtig für den Blick nach innen wie für den von außen. Was mich betrifft, ich ziehe es immer noch vor, mich nicht vollständig zu verstehen und ein paar Geheimnisse zu wahren, nicht nur anderen, auch mir selbst gegenüber. Will mich zwar, der alten Maxime folgend, erkennen, will mich auch verbessern, aber nicht „optimieren“. Optimal nach welchen – statistischen? – Kriterien und Zielen? „Wir berechnen Ihr persönliches Ideal-Ich!“ In fernen, mythischen, d. h. zeitlosen Zeiten ging man zu einer Antwortmaschine, und im Augenblick, in dem man mit seiner Frage anhub, sprang einem die Mitteilung ins Auge: Erkenne dich selbst! Hätte man sich die lange Reise sparen können? Nein, sie war und bleibt heilsam und wegweisend. Und jetzt das Versprechen, mit seinem idealen gläsernen Selbst ewig dahinzumachen. Grauenhafte Vorstellung, daß niemand mehr kommt, um mich abzulösen! Nein, ich will nicht ewig leben; hundert Jahre sind genug, sind schon zuviel. Nach sechzig Lebensjahren bin ich froh, daß es langsam, ohne Eile, mit mir zu Ende geht. Will Harari selbst, will sein Gatte, will der Menschentypus, den er vor Augen hat, denn so vollkommen sein? Beschreiben (ironische?) Enthusiasten wie er eine Dystopie oder eine um sich greifende, zur Unvergänglichkeit neigende Gegenwartswirklichkeit? Oder doch nur die Illusion einer techno-religiösen Bewegung, die sie nicht teilen? Nur manchmal, eher in Interviews und Meinungsartikeln als in den Büchern, dringt bei Harari etwas wie Sorge durch. In solchen Momenten weicht die Ironie. In Homo Deus aber, dem dicken Bestseller, ist der Tonfall bis zum luftigen Ende: „If you do all that“ – liken, chatten, messen, posten usw. – „then the great algorithms of the Internet-of-ALL-Things will tell you whom to marry, which career to pursue and whether to start a war.“33 Und, was sollen wir tun, lieber Yuval? To like or not to like, that is the question.34 Eine Antwort bekommen wir nicht. Okay, die mußt du dir selbst geben.

„Die Ironie tyrannisiert uns“, schrieb David Foster Wallace schon 1993.35 Das Problem ist nicht, daß wir hier und da ironisch sind, und auch nicht, daß sie hin und wieder mißlingt, sondern daß sie zum Dauerzustand und zur Lebensweise geworden ist. So leben, als ob. Als ob was? Egal was. Ursprünglich ist Ironie ein Register der Ausnahme. Und wenn sie systematisch wird, dann baut sie so wie in den Romanen Thomas Manns, zum Beispiel im Zauberberg, ein ständiges Gewicht-und-Gegengewicht auf, wo die Schalen einander die Waage halten. Aber die einzelnen Aussagen, auch in ihrer Summe, sind durchaus ernst gemeint, manchmal sogar so bitter ernst, daß es fast zum Duell zwischen den Kontrahenten kommt, zwischen Settembrini und Naphta, dem Rationalisten und dem Mystiker. Heute aber, im 21. Jahrhundert, was wird heute schon noch ernst genommen – abgesehen vom hedonistischen Ich, dem Agenten der Ironie? Eine „institutionalisierte“ Ironie kann es nicht anders geben denn als Last; und zwar eine, die die meisten als leicht empfinden.

Unsere personalisierten Rechner zwingen uns zu Entscheidungen und nehmen sie uns gleichzeitig ab. Es gibt für sie kein Zögern, keine Grauzone, keine Übergänge, keine Ambivalenz, nur ein ständiges minutiöses, sekundäres, augenblickliches, pointillistisches Entweder-Oder, das den ganzen Stoff – unseren Input, unser Leben – perforiert. Dies betrifft unsere alltäglichsten Handlungen, und es ist uns zumeist nicht bewußt. Es sind durchaus triviale Phänomene, die ich hier zu benennen versuche; hochgestochen könnte ich sagen: digital-existentielle Phänomene. Jeder hat sie erfahren, jeder kennt sie, vielleicht ohne sie zu verbalisieren, ohne irgendein Interesse dafür. Martin Heidegger, der altdeutsche Philosoph, versuchte einst in der prädigitalen Epoche, unserem unausgesprochenen Selbstverständnis auf den Grund zu gehen, also die Selbstverständlichkeiten eines bestimmten, historisch gewachsenen Menschentyps (mit einer gewaltigen Vorgeschichte, die Heidegger in seinen Untersuchungen zu umfassen suchte) existentialanalytisch zu extrapolieren. Hinter der zuweilen hochgestochenen, hochgeschraubten Terminologie verbergen sich Trivialitäten. Ich für meinen Teil – meinen Text – werde nicht gleich von „Fundamentalontologie“ sprechen. Dazu habe ich ohnehin keine Befähigung, keine Berechtigung, no license. Bin nur ein neugieriger selfmademan. Außerdem liegt mir nichts an Systematik. Die Orte, von denen die alte Ontologie ausging, gibt es nicht mehr. Das heißt, sie sind noch da, aber wenige Menschen wollen sich dort aufhalten und es besteht die Gefahr, daß diese Orte als verlassene verwahrlosen. In gewisser Weise ist die digitale Existenz das letzte, technologisch bewerkstelligte und untermauerte Bollwerk dessen, was Heidegger als „Diktatur des Man“ bezeichnete. „Jeder ist der Andere und keiner er selbst.“36 Aber jeder glaubt mehr denn je, er selbst zu sein und sich zeigen zu müssen. Alle streben nach „Sichtbarkeit“. Verallgemeinerter Exhibitionismus.

Auf YouTube liest man mitunter Kommentare von Personen, die ihrem Unmut gegenüber Personen Ausdruck verleihen, die eine Veröffentlichung – sagen wir, ein makellos schönes Musikstück von Schubert oder Bach, makellos interpretiert von exzellenten Musikern – „dislikt“ haben. Wie ist es nur möglich, ein solches Wunderwerk, das niemandem etwas zuleide getan hat, tagtäglich Tausende erfreut und andere – das kann man ja noch verstehen – gleichgültig läßt, mit einem negativen Zeichen zu versehen? Ebendiese Frage hat mir unlängst meine Tochter gestellt.

Nun, zunächst einmal, in solchen Fällen ist das Positiv-Negativ-Verhältnis erdrückend, tausend zu eins oder so. Auf tausend Beifallsbekundungen kommt eine negative Äußerung, das ist doch nicht viel. Ein Verrückter? Ein Musikhasser aus Überzeugung? Melogynie? Nein, sagte ich, der gute Mann hat sich bloß vertan, er war unaufmerksam, sieht vielleicht schlecht oder war betrunken, so daß er Plus und Minus verwechselte. In Onlinezeitungskommentaren findet man zuweilen die Bemerkung: „Sorry, sollte Grün sein.“ Eigentlich könnte mir der Computer in Zukunft auch solche Positiv-Negativ-Entscheidungen abnehmen und von mir gesehene, aufgerufene, konsumierte Stücke automatisch liken oder disliken; er kennt mich ja, besser als ich. Die Fehlerquote würde auf diese Weise sinken. (Aber irgendwann muß ich wohl durch eine echte Bewegung meines Fingers zu liken begonnen haben: einmal Beethoven, immer Beethoven, einmal Taylor Swift, immer Taylor Swift. Am Ende wird die digitale Welt so langweilig, wie die Bühnenwelt mit dem rachitischen Bäumchen für Wladimir und Estragon im Beckett-Stück langweilig ist. Algorithmen wie der von Tik-Tok bauen dem vor, indem sie fortwährend konservative Wow!-Beiträge in den Futtertrog leeren.) Ich würde Zeit sparen, eine Fülle von Sekundenbruchteilen, die Grauen Herren würden sich wieder mal freuen, letzte Spielräume des Zögerns und Abwägens würden beseitigt. Was mir gefällt, gefällt mir, weil es mir gefällt, und es wird in exponentiell steigender Kurve identisch sein mit dem, was allen gefällt. Und was allen gefällt, wird das sein, was am stärksten von den Massenmedien selbst gehypt wird, d. h. jenes Produkt, hinter dem die stärkste ökonomische Kraft, sprich: Werbekraft, steckt. Es wird dies nicht das einzige Kriterium sein, aber das wichtigste. So ist es möglich, daß ein vorsätzlich dümmlicher Spaßmacher wie Pikaro (fast nur in Japan) oder ein Popmusikvideoclip wie Despacito (überall, obwohl spanischsprachig) bis dato (März 2021) 380 Millionen bzw. 7,2 Billionen Mal gesehen bzw. angeklickt wurden und daß solche Beiträge auch mich irgendwie „ansprechen“, wobei ich zum zweiten der hier genannten tendiere als einer, der lateinamerikanische Musik ein bißchen kennt und im allgemeinen auch mag: Nettes Liedchen, nettes Video, bißchen sexy, dabei weiter nichts als sorgfältig gestyltes Mittelmaß mit gehübschter Karibikkulisse und Frauenpopos in Hotpants, während Pikaro einfach nur Trash ist und weiter nichts sein will (aber Trash ist nun mal global gesehen seit vierzig Jahren en vogue). Wie viele Einwohner hat Japan? Richtig, 126 Millionen. Wie viele Bewohner die Erde? 7,8 Milliarden. Danke, Google, danke, Wikipedia!

Ich erlaube mir Urteile. Ganz unironisch. YouTube und Amazon lenken mich aufgrund solcher Äußerungen, aber in erster Linie natürlich durch automatische Analyse meines Klickverhaltens, häufig zu klassischer Musik, wogegen ich mit – selten ernstgemeinten – Clustern von Punk- und Folklore-Klicks aufzubegehren suche, um die kleinen Rechner in der Dunkelheit zu verwirren: Nein, ihr kriegt mich nicht, da könnt ihr euch noch so ins Zeug legen. Ich schaue sogar Fußball, die besten Dribblings von Messi, die schönsten Freistoßtore, und behaupte zugleich, daß ich Fußball hasse. Und meine Tochter schaut sich auf dem PC lustige Clips an. Japanisch Englisch Spanisch, alles gemischt. Bloß keine Übersetzungen. Fuck off, digidude! Ach, du kannst auch schon Lügen und Finten detektieren? Mit Fakes hast du Erfahrung? Du delektierst dich an meinem vergeblichen Hakenschlagen? Soll ich lieber gleich geradeausgehen, du wirst meine Bahn schon noch zurechtbiegen? Verstehst du etwas von Masochismus? Ja, wahrscheinlich ja (du schweigst, wie es deine Art ist, oder fertigst mich mit trockenen Floskeln ab). Ja, die Datenmenge reicht dafür längst hin. Was ich auch tue, mein maschineller Schatten, den ich naiverweise personalisiere und sentimentalisiere – dabei werde ich die ganze Zeit selbst personalisiert und sentimentalisiert, d. h. festgenagelt und rumgeschubst – berechnet mich korrekt. Und behandelt mich korrekt. Wie es mir gebührt. Alles zu meiner Bequemlichkeit.

Richtig, wir sprechen von digitaler Bequemlichkeit. Selbstverständlichkeiten: Ich tippe ein F in die Zeile, und der Computer schlägt mir Facebook vor. Es könnte auch Fortnite sein (ein interaktives Videospiel: ich habe geklickt37) oder faz.net (mehrmals mit dem Gedanken gespielt, die Paywall zu überspringen38), aber anscheinend klicke ich öfter auf Facebook als auf FAZ (auf Fortnite gar nicht). Der mich persönlich genau kennende Algorithmus weiß, was ich will und nimmt an, daß ich immer wieder dasselbe will. Ein Buchstabe genügt, die restlichen sechs erspart er mir: Das ist bequem, es hilft mir beim Zeitsparen (ach ja, die Grauen Herren …), aber mein Guthaben wird in Wahrheit nicht größer, im Gegenteil, je länger ich vor dem Bildschirm sitze (oder mir das kleine Display vor die Nase halte), desto mehr verstärkt sich mein Gefühl, nicht genug Zeit zu haben, nicht zuletzt deshalb, weil ich mich, wie vorhin, auf irgendwelche Um- und Abwege klicke. Facebook? Nein, ich wollte diesmal doch zur FAZ, die Aufmacher darf ich gratis lesen, auch den oder jenen Leitartikel, ein paar Köder, und schließlich könnte ich mich ja wieder einmal fragen, ob ich nicht meine Kreditkarte zur Hand nehmen soll. Wann habe ich die FAZ das letzte Mal angeschaut? Ich könnte in meiner „History“ recherchieren, Erinnerung aktivieren, oder was man so nennt. Wir googeln und googeln. Google ist unsere Digibibel und gleichzeitig unser virtuelles Buch der Natur. Statt zu blättern, surfen wir. Statt zu flanieren, surfen wir. Google ist natürlich und göttlich. Gottgeschaffene – zweite, dritte, x-te – Natur.

Neuerdings zwingt mich mein maschineller Partner, der offensichtlich die Entscheidungshoheit über meine Angelegenheiten hat, bestimmte Seiten, tendenziell alle, auf deutsch zu lesen. Ich weiß nicht, von wo das genau ausgeht, von Google, von Amazon, von den jeweiligen Plattformen, aber seit kurzem erscheinen die Ergebnisse sowohl von Amazon.jp, wo ich manchmal einkaufe, als auch der Bibliothek der japanischen Universität, für die ich arbeite, in hundsmiserablen deutschen Übersetzungen. Auch englische Bruchstücke kommen deutsch daher, und ich finde keine Möglichkeit mehr, diesen Übersetzungswahn zu stoppen. Bei der Suche im Bibliothekskatalog läßt sich oft gar nicht mehr feststellen, in welcher Sprache ein Buch verfaßt wurde – eine essentielle Information, die ich bisher ohne Schwierigkeiten erhielt. Ich suche unter dem Stichwort „Baudelaire“ und erhalte seltsame Titel wie Mon céur mis, womit wahrscheinlich Mon coeur mis à nu gemeint ist, wie ich vermuten kann, denn ich habe meinen Baudelaire schon in fernen prädigitalen Zeiten gelesen. Claude Pichois hat diesmal eine édition diplomatique eingerichtet, und erschienen ist das Ergebnis in einer Reihe namens textes littéraires franéais. Hier finde ich mich noch einigermaßen zurecht, in anderen Fällen, fast immer bei Übersetzungen aus dem Japanischen, ist das unmöglich. Bei Amazon wiederum hat das Mate-Kraut jetzt einen „regelmäßigen Geschmack“, dazu kann ich mir „wiederverwendbare Rührwerk Metall Kaffee trinken Stroh Stroh Auto Rührwerk“ kaufen (schlau, wie ich bin, weiß ich, daß mit dem Rührwerk die bombilla, also der Trinkhalm, gemeint ist), und den Komponisten Toru Takemitsu haben sie mir umbenannt, der heißt jetzt „Toru Takeman“ und soll ein Buch des Titels Reise zur Musikschöpfung geschrieben haben. Noch ein anderes Beispiel, weil Übersetzungsstilblüten doch so lustig sind: Um mich über den Stand der Coronavirus-Infektionen zu informieren, habe ich gegoogelt und bekam eine höchst seriöse Seite zugespielt: NHK-Nachrichten. Im Nu, ohne daß ich es wünschte, hatte ich den Text in deutscher Sprache, dazu die Überschrift: „Ein riesiger Haufen von sechs Studenten“. Der Titel ist nicht ironisch gemeint, er wirkt nur unfreiwillig komisch. Sprachliche Ironie als Stilmittel können Algorithmen bislang nicht erkennen und noch weniger produzieren; auch bei Metaphern tun sie sich schwer. Dazu bräuchte es echte Kreativität, Phantasie, Vorstellungsvermögen.

Ich weiß, die Programme zur automatischen Translation stecken noch in den Kinderschuhen; da sie rasch lernen, werden wir bald perfekte Übersetzungen aus allen Sprachen in alle Sprachen haben, vielleicht alles ironiefrei, aber gut … Wenn es soweit ist, werden wir den verwirrenden und verwirrten Turm von Babel endgültig hinter uns gelassen haben; unser schönes Kommunikationschaos, an dem George Steiner festhielt, um ihm die Freuden des Interpretierens und der Neuschöpfung abzugewinnen, wäre endgültig bereinigt. Aber ehrlich gesagt, ich würde gern auf diesen neuparadiesischen Zustand verzichten. Eine kleine Erklärung läßt mir mein unsichtbarer, anonymer und allgegenwärtiger Partner immerhin zukommen: Das Translationsservice diene nur meiner „Bequemlichkeit“, und die Firma wolle nur dies: meine Bequemlichkeit „verbessern“, so steht es Schwarz auf Weiß da. Aber ich bin nicht so bequem, wie sich der digidude das vorstellt, und will es auch nicht werden.39 Statt dessen erinnere ich mich an den alten antiautoritären Slogan: „Ihr wollt nur unser Bestes, aber ihr kriegt es nicht!“