Kitabı oku: «Stone Butch Blues», sayfa 2

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Ich wollte nicht anders sein. Ich sehnte mich danach, so zu sein, wie die Erwachsenen mich haben wollten, damit sie mich liebten. Ich befolgte ihre Regeln und gab mir alle Mühe, ihnen zu gefallen. Aber etwas an mir brachte sie dazu, die Augenbrauen hochzuziehen und die Stirn zu runzeln. Niemand hat sich je dazu herabgelassen, dem, was mit mir los war, einen Namen zu geben. Deshalb hatte ich auch solche Angst, daß es etwas wirklich Schlimmes war. Erst später erkannte ich die Melodie an dem ständigen Refrain „Ist das ein Junge oder ein Mädchen?“.

Ich war nur eine von vielen schlechten Karten im Leben meiner Eltern. Sie waren ohnehin verbittert und enttäuscht. Mein Vater war mit dem festen Vorsatz aufgewachsen, nicht wie sein Vater in einer Fabrik hängenzubleiben; meine Mutter hatte nicht vor, in die Ehefalle zu gehen.

Als sie sich kennenlernten, träumten sie von einem gemeinsamen spannenden Abenteuer. Als sie aus ihrem Traum erwachten, arbeitete mein Vater in einer Fabrik und meine Mutter war Hausfrau geworden. Als sie entdeckte, daß sie mit mir schwanger war, sagte meine Mutter zu meinem Vater, sie wolle sich nicht von einem Kind einengen lassen. Mein Vater bestand darauf, daß sie glücklich sein würde, wenn das Baby erst da sei. Dafür würde die Natur schon sorgen.

Meine Mutter bekam mich, um ihm das Gegenteil zu beweisen.

Meine Eltern waren wütend, weil das Leben sie betrogen hatte. Sie waren erbost, weil die Ehe ihnen die letzte Gelegenheit zur Flucht genommen hatte. Dann kam ich auf die Welt, und ich war nicht wie die anderen. Jetzt waren sie wütend auf mich. Ich kriegte es jedesmal zu hören, wenn sie die Geschichte meiner Geburt erzählten.

Regen und Wind peitschten die Wüste, als meine Mutter in den Wehen lag. Deshalb brachte sie mich zu Hause zur Welt. Der Sturm war zu heftig, um sich rauszutrauen. Mein Vater war auf der Arbeit, und wir hatten kein Telefon. Meine Mutter erzählte, als sie feststellte, daß ich gleich kommen würde, habe sie vor Angst so laut geweint, daß die alte Dineh-Indianerin aus der Wohnung gegenüber besorgt an die Tür klopfte, die Dringlichkeit der Situation sofort erfaßte und noch drei Frauen zu Hilfe holte.

Die Dineh-Frauen sangen, als ich geboren wurde. Das hat mir meine Mutter erzählt. Sie wuschen mich, wedelten Rauch über meinen winzigen Körper und boten mich meiner Mutter dar.

„Legt das Baby da drüben hin“, sagte sie zu ihnen und zeigte auf ein Körbchen neben der Spüle. Legt das Baby da drüben hin. Bei diesen Worten wurde den Indianerinnen ganz kalt. Das merkte meine Mutter wohl. Die Geschichte wurde im Laufe meiner Kindheit immer wieder erzählt, als könnte ihre ironisch-humorvolle Wiederholung den Frost auftauen, der den Worten anhing.

Ein paar Tage nach meiner Geburt klopfte die Alte wieder an unsere Tür, diesmal weil meine Schreie sie aufgeschreckt hatten. Sie fand mich ungewaschen in meinem Körbchen. Meine Mutter gestand, daß sie Angst hatte, mich zu berühren, außer um mir eine Windel anzulegen oder mir das Fläschchen zu geben. Am nächsten Tag schickte die Großmutter ihre Tochter herüber, die anbot, mich tagsüber zu sich zu nehmen, während ihre Kinder in der Schule waren – falls meiner Mutter das recht sei. Es war ihr recht und auch wieder nicht. Meine Mutter war erleichtert, da bin ich mir sicher, doch gleichzeitig fühlte sie sich verurteilt. Aber sie ließ sich darauf ein.

So wuchs ich in zwei Welten auf, tauchte in die Musik zweier Sprachen ein. Die eine Welt bestand aus Cornflakes und Milton Berle. Die andere aus frittiertem Maisbrot und Salbei. Die eine war kalt, aber meine Welt; die andere war warm, aber nicht meine Welt.

Als ich vier Jahre alt war, setzten meine Eltern meinem zweiten Leben ein Ende. Eines Abends kamen sie, um mich abzuholen. Ein paar Frauen hatten ein großes Festessen gekocht und alle Kinder zusammengetrommelt. Sie fragten meine Eltern, ob ich nicht bleiben könnte. Mein Vater erschrak, als er eine der Frauen etwas in einer Sprache zu mir sagen hörte, die er nicht verstand, und ich mit Worten antwortete, die er noch nie gehört hatte. Später sagte er, daß er nicht danebenstehen und zusehen könnte, wie sein eigen Fleisch und Blut von Indianerinnen vereinnahmt würde.

Ich habe über diesen Abend nur Bruchstücke erfahren, weiß also nicht, was sonst noch geschah. Ich wünschte, ich wüßte es. Aber eines habe ich wieder und wieder zu hören gekriegt: Eine Frau sagte zu meinen Eltern, daß ich einen schweren Weg vor mir hätte. Die genaue Wortwahl schwankte beim Wiedererzählen. Manchmal spielte meine Mutter Wahrsagerin, schloß die Augen, legte die Fingerspitzen an die Schläfen und sagte: „Ich sehe für dieses Kind ein schweres Leben voraus.“ Dann wieder bellte mein Vater wie der Zauberer von Oz: „Dieses Kind hat einen harten Weg vor sich!“

Jedenfalls zerrten meine Eltern mich da raus. Aber bevor sie gingen, gab die Großmutter meiner Mutter einen Ring und sagte ihr, er würde mich beschützen helfen. Der Ring machte meinen Eltern angst, aber sie dachten sich, daß der Türkis und das Silber ja etwas wert sein müßten, also nahmen sie ihn an.

An diesem Abend tobte wieder ein schrecklicher Wüstensturm, dessen Wucht meine Eltern verängstigte. Der Donner krachte, und die Blitze erhellten alles.

„Jess Goldberg?“ fragte die Lehrerin.

„Hier“, antwortete ich.

Die Lehrerin kniff die Augen zusammen. „Was ist denn das für ein Name? Ist das die Kurzform von Jessica?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, Ma’am.“

„Jess“, wiederholte sie. „Das ist kein Mädchenname.“ Ich ließ den Kopf hängen. Um mich herum hielten die Kinder sich die Hand vor den Mund, um ihr Kichern zu ersticken.

Miss Sanders starrte sie wütend an, bis sie ruhig waren. „Ist das ein jüdischer Name?“ fragte sie. Ich nickte und hoffte, daß sie mit mir fertig war. War sie nicht.

„Kinder, Jess ist jüdischen Glaubens. Jess, erzähl der Klasse, wo du herkommst.“

Ich wand mich auf meinem Stuhl. „Aus der Wüste.“

„Was? Sprich lauter, Jess.“

„Ich komme aus der Wüste.“ Ich sah, wie die Kinder sich anstießen und die Augen verdrehten.

„Aus welcher Wüste? In welchem Bundesstaat?“ Sie schob sich die Brille auf der Nase hoch.

Ich erstarrte vor Angst. Das wußte ich nicht. „Aus der Wüste.“ Ich zuckte die Achseln.

Miss Sanders wurde sichtlich ungeduldig. „Warum hat deine Familie beschlossen, nach Buffalo zu ziehen?“

Wie sollte ich das wissen? Dachte sie vielleicht, Eltern erzählten sechsjährigen Kindern, warum sie große Entscheidungen trafen, die ihr Leben veränderten? „Wir sind gefahren“, sagte ich. Miss Sanders schüttelte den Kopf. Ihr erster Eindruck von mir war kein guter.

Die Sirenen heulten. Wie jeden Mittwochmorgen gab es Probealarm. Uns wurde eingeschärft, die Bombe wie einen Fremden zu behandeln: bloß keinen Blickkontakt. Wenn ihr die Bombe nicht sehen könnt, kann sie euch auch nicht sehen.

Es fiel keine Bombe – es war nur eine Übung für den Ernstfall. Aber die Sirene hatte mich gerettet.

Ich fand es schade, daß wir aus der Wärme der Wüste in diese kalte, kalte Stadt gezogen waren. Nichts hätte mich darauf vorbereiten können, an einem Wintermorgen in einer ungeheizten Wohnung aufzustehen. Auch die Angewohnheit, unsere Kleidung im Backofen aufzuwärmen, bevor wir sie anzogen, half nicht viel. Schließlich mußten wir trotzdem erst mal den Schlafanzug ausziehen. Die Kälte draußen war so stechend, daß der Wind mir in die Nase biß und ins Gehirn schnitt. Die Tränen gefroren mir in den Augen.

Meine Schwester Rachel war noch ein Kleinkind. Ich kann mich nur an einen mit Schals umwickelten dicken Schneeanzug mit Fäustlingen und Mütze erinnern. Kein Kind, nur Kleidungsstücke.

Selbst im tiefsten Winter, wenn ich dick eingemummelt war und nur ein paar Quadratzentimeter meines Gesichts zwischen der Kapuze meines Schneeanzugs und meinem Schal herausschauten, hielten mich die Erwachsenen an und fragten: „Bist du ein Junge oder ein Mädchen?“ Ich senkte verschämt den Blick und zweifelte die Berechtigung dieser Frage niemals an.

Im Sommer gab es in der Siedlung nicht viel zu tun, aber dafür hatten wir viel Zeit.

Die Siedlung bestand aus den Gebäuden einer ehemaligen Kaserne, die jetzt die Arbeiter der beim Militär unter Vertrag stehenden Luftfahrtindustrie und ihre Familien beherbergten. Alle unsere Väter arbeiteten in derselben Fabrik; alle unsere Mütter blieben zu Hause.

Old Man Martin war Rentner. Er saß in einem Liegestuhl auf seiner Veranda und verfolgte die McCarthy-Prozesse im Radio. Es war so laut gestellt, daß wir es im ganzen Viertel hören konnten. „Mußt aufpassen“, sagte er zu mir, wenn ich an seinem Haus vorbeikam, „die Kommunisten können überall sein. Überall.“ Ich nickte feierlich und ging spielen.

Aber Old Man Martin und ich hatten etwas gemeinsam. Das Radio war auch mein bester Freund. Die Jack Benny Show und Fibber McGee and Molly brachten mich zum Lachen, auch wenn ich gar nicht wußte, was da so lustig war. Bei The Shadow und The Whistler lief es mir eiskalt den Rücken runter.

Vielleicht gab es in Arbeiterfamilien außerhalb unserer Siedlung schon Fernseher, aber bei uns nicht. Die Straßen der Siedlung waren nicht mal geteert – es gab nur Kieswege und riesige Lincoln-Stämme, die die Parkplätze abgrenzten. Zu uns drangen nur sehr wenige Neuerungen vor. Die Karren des Eismanns und des Scherenschleifers wurden von Ponys gezogen. Samstags kamen sie mit den Ponys ohne die Karren und verkauften einen Ritt für einen Penny. Einen Penny kostete auch ein Brocken Eis vom Eismann – mit dem Eispickel abgeschlagen. Das Eis war hart und glitschig und funkelte wie ein kalter Diamant.

Das erste Fernsehgerät, das in der Siedlung auftauchte, stand im Wohnzimmer der McKensies. Wir Kinder in der Nachbarschaft flehten unsere Eltern an, daß sie uns Captain Midnight auf dem neuen Fernseher der McKensies sehen ließen. Aber die meisten von uns durften das Haus nicht betreten. Es war zwar schon 1955, aber es gab immer noch ein paar unsichtbare Kriegszonen in der Nachbarschaft, denn es hatte einen langen und erbitterten Streik gegeben, der 1949, im Jahr meiner Geburt, beigelegt wurde. „Mac“ McKensie war ein Streikbrecher gewesen. Das Wort allein war für mich Grund genug, einen großen Bogen um ihr Haus zu machen. Spuren des Wortes waren noch immer auf der Vorderseite ihrer Kohlenkiste zu sehen, obwohl es in einem etwas anderen Grün überstrichen worden war.

Jahre später stritten sich die Väter immer noch über den Streik, am Küchentisch und am Gartengrill. Ich bekam dabei so blutrünstige Beschreibungen von Streikkämpfen mit, daß ich dachte, der Zweite Weltkrieg wäre in der Fabrik ausgetragen worden. Nachts, wenn wir meinen Vater zu seiner Schicht fuhren, hockte ich auf dem Rücksitz des Autos und spähte hinaus, an den Fabriktoren vorbei über das mittlerweile so ruhige Schlachtfeld.

Wir hatten auch Banden in der Siedlung, und die Kinder, deren Eltern Streikbrecher gewesen waren, bildeten eine kleine, aber gefürchtete Truppe. „He, Schwuli! Bist du ’n Junge oder ’n Mädchen?“ In der kleinen Welt der Siedlung gab es keine Möglichkeit, ihnen auszuweichen. Ihre Hänseleien verfolgten mich noch, wenn ich schon längst an ihnen vorbei war.

Die Welt sprang hart mit mir um, und so wurde ich zur Einzelgängerin – oder wurde dazu gemacht.

Die Hauptstraße machte einen Schnitt zwischen unserer Siedlung und einem riesigen Feld. Es war mir verboten, diese Straße zu überqueren. Viel Verkehr gab es nicht. Ich hätte schon ziemlich lange mitten auf der Fahrbahn stehen müssen, um überfahren zu werden. Aber ich durfte diese Straße nicht überqueren. Ich tat es trotzdem, und niemand schien es zu merken.

Ich schlug mich durch das lange braune Gras, das die Straße begrenzte, und war in meiner eigenen Welt.

Auf dem Weg zum Teich hielt ich an, um die Hunde in den Außenzwingern an der Rückseite des Tierheims zu besuchen. Sie bellten und stellten sich auf die Hinterbeine, wenn ich an den Zaun kam. „Pst!“ warnte ich sie, denn der Zutritt war verboten.

Ein Spaniel drückte seine Nase durch den Maschendrahtzaun. Ich kraulte ihm den Kopf. Ich sah mich nach dem Terrier um, den ich so liebte. Er war nur einmal an den Zaun gekommen, um mich zu begrüßen, und hatte vorsichtig geschnuppert. Normalerweise lag er mit dem Kopf auf den Pfoten da, so sehr ich ihn auch lockte, und sah mich mit kummervollen Augen an. Ich hätte ihn so gern mit nach Hause genommen.

„Bist du ein Junge oder ein Mädchen?“ fragte ich den Spaniel.

„Wuff, wuff!“

Den Mann vom Tierschutzverein sah ich erst, als es schon zu spät war. „He, Kleiner. Was machst ’n da?“

Erwischt. „Nichts“, sagte ich. „Ich hab nichts Schlimmes getan. Nur mit den Hunden geredet.“

Er lächelte ein wenig. „Steck nicht die Finger durch den Zaun, Kleiner. Manche beißen auch.“

Ich fühlte, wie meine Ohren zu glühen anfingen. Ich nickte. „Ich suche den Kleinen mit den schwarzen Ohren. Ist er zu einer netten Familie gekommen?“

Der Mann runzelte die Stirn. „Ja“, sagte er leise. „Er ist jetzt richtig glücklich.“

Ich rannte zum Teich hinüber, um mit einem Glas Kaulquappen zu fangen. Ich stützte mich auf die Ellbogen und besah mir die kleinen Frösche, die auf die sonnendurchglühten Steine kletterten.

„Krah, krah!“ Eine riesige schwarze Krähe kreiste in der Luft über mir und landete auf einem Felsen in der Nähe. Wir betrachteten einander schweigend.

„Krähe, bist du ’n Junge oder ’n Mädchen?“

„Krah, krah!“

Ich lachte und rollte mich auf den Rücken. Der Himmel war kreideblau. Ich tat so, als läge ich auf den weißen Wattewolken. Die Erde an meinem Rücken war feucht. Die Sonne brannte heiß, die Brise kühlte mich. Ich war glücklich. Die Natur hielt mich ganz fest und hatte anscheinend nichts an mir auszusetzen.

Auf dem Rückweg traf ich auf die Bande der Streikbrecherjungen. Sie hatten einen unverschlossenen Lastwagen gefunden, der an einer Steigung geparkt war. Ein älterer Junge hatte die Handbremse gelöst und zwang zwei kleinere Jungen von meiner Seite der Siedlung, vor dem rollenden Laster herzulaufen.

„Jessy, Jessy!“ riefen sie herausfordernd und stürmten auf mich zu.

„Brian sagt, du wärst ’n Mädchen, aber ich denke, du bist bloß ’ne Memme“, sagte einer.

Ich schwieg.

„Was bist du denn nun?“ hänselte er.

Ich schlug die Arme wie Flügel. „Krah, krah!“ machte ich und lachte.

Einer der Jungs schlug mir das Glas mit den Kaulquappen aus der Hand, und es zersprang auf dem Kies. Ich trat und biß sie, aber sie hielten mich fest und banden mir die Hände mit einem Stück Wäscheleine auf den Rücken.

„Wollen mal sehn, wie du pinkelst“, sagte einer, stieß mich zu Boden, und zwei andere rissen mir die Hose und die Unterhose runter. Ich war starr vor Schreck. Ich konnte nichts gegen sie ausrichten. Ich schämte mich so, halbnackt vor ihnen zu hocken, daß mich alle Kraft verließ.

Sie stießen und schleiften mich zum Haus der alten Mrs. Jefferson und sperrten mich in die Kohlenkiste. Es war dunkel da drin. Die Kohle war hart und hatte messerscharfe Kanten. Stilliegen tat weh, aber je mehr ich mich bewegte, um so schlimmer wurden die Schnitte. Ich hatte Angst, da nie wieder rauszukommen.

Es dauerte Stunden, bis ich Mrs. Jefferson in der Küche hörte. Ich weiß nicht, was sie dachte, als sie das Gepolter in ihrer Kohlenkiste bemerkte. Doch als sie dann die kleine Klappe aufmachte und ich mühsam rauskroch, sah sie aus, als wollte sie vor Angst tot umfallen. Da stand ich in ihrer Küche, ruß- und blutverschmiert, gefesselt und halbnackt. Sie fluchte halblaut vor sich hin, während sie mich losband und mich in ein Handtuch gewickelt nach Hause schickte.

Meine Eltern waren stinksauer, als sie mich sahen. Ich habe nie verstanden wieso. Mein Vater ohrfeigte mich immer wieder, bis meine Mutter ihm in den Arm fiel und ihm etwas zuflüsterte.

Eine Woche später fiel mir einer aus der Streikbrecherbande in die Hände. Er hatte den Fehler begangen, allein in der Nähe unseres Hauses herumzulaufen. Ich zeigte ihm meinen Bizeps und forderte ihn auf, mal zu fühlen. Dann boxte ich ihn ins Gesicht. Er rannte heulend weg. Zum ersten Mal seit Tagen fühlte ich mich richtig gut.

Meine Mutter rief mich zum Abendessen rein. „Wer war denn der Junge, mit dem du da gespielt hast?“

Ich zuckte die Achseln.

„Hast du ihm deine Muskeln gezeigt?“

Ich erstarrte und fragte mich, wieviel sie wohl gesehen hatte.

Sie lächelte. „Manchmal ist es besser, die Jungen in dem Glauben zu lassen, daß sie stärker sind“, sagte sie zu mir.

Ich dachte nur, sie mußte einfach verrückt sein, wenn sie das wirklich glaubte.

Das Telefon klingelte. „Ich geh schon ran“, rief mein Vater. Es war die Mutter des Jungen, dem ich die Nase blutig gehauen hatte, das merkte ich an den wütenden Blicken, die mein Vater mir zuwarf, während er zuhörte.

„Ich hab mich so geschämt“, erzählte meine Mutter meinem Vater auf der Rückfahrt von der Synagoge. Er starrte mich wütend im Rückspiegel an. Ich konnte nur seine dicken schwarzen Augenbrauen sehen. Man hatte meiner Mutter mitgeteilt, daß ich nicht mehr in die Synagoge gehen könnte, wenn ich kein Kleid trüge. Dagegen hatte ich mich bislang mit Händen und Füßen gewehrt. Ich trug immer meinen Cowboy-Anzug – ohne die Pistolen. Es war schon schwer genug für uns, die einzige jüdische Familie in der Siedlung zu sein, ohne auch noch in der Synagoge Ärger zu kriegen. Mein Vater betete unten. Meine Mutter, meine Schwester und ich mußten von der Empore aus zusehen, wie im Kino.

Es kam mir nicht so vor, als gäbe es viele Juden auf der Welt. Einige kannte ich aus dem Radio, aber in der Schule gab es keine, außer mir. Juden durften nicht auf den Schulhof. Das hatten mir die älteren Kinder gesagt, und sie setzten es auch durch.

Wir kamen nach Hause. Meine Mutter schüttelte den Kopf. „Warum kann sie bloß nicht wie Rachel sein?“

Rachel warf mir einen verlegenen Blick zu. Ich zuckte die Achseln. Rachel träumte von einem Samtrock mit aufgesticktem Pudel und von straßbesetzten Lackschuhen.

Mein Vater parkte den Wagen vor dem Haus. „Du gehst sofort auf dein Zimmer, junges Fräulein! Und daß du mir da bleibst!“ Ich hatte mich schlecht benommen. Ich würde bestraft werden. Ich hatte Kopfschmerzen vor Angst. Ich wünschte mir so sehr, brav sein zu können. Ich erstickte fast an meiner Scham.

Es war kurz vor Sonnenuntergang. Ich hörte, wie meine Eltern Rachel zum Anzünden der Sabbatkerzen ins Schlafzimmer riefen. Ich wußte, sie hatten die Jalousien runtergelassen. Vor einem Monat hatten wir draußen vor den Wohnzimmerfenstern Rufe und Gelächter gehört, als meine Mutter gerade die Kerzen anzündete. Wir rannten zum Fenster und spähten hinaus ins Zwielicht. Zwei Teenager zogen sich die Hosen runter und zeigten uns ihre nackten Hinterteile. „Dreckige Juden!“ riefen sie. Mein Vater jagte sie nicht weg; er zog die Vorhänge zu. Danach beteten wir bei herabgelassenen Jalousien im Schlafzimmer.

In meiner Familie wußten alle, was Scham war.

Bald darauf verschwand mein Cowboy-Anzug aus dem Korb mit der schmutzigen Wäsche. Dafür kaufte mir mein Vater ein Annie-Oakley-Kostüm.

„Nein!“ schrie ich. „Ich will nicht! Ich will das nicht anziehn! Ich komme mir doof darin vor!“

Mein Vater packte mich am Arm. „Junges Fräulein, ich habe für dieses Annie-Oakley-Kostüm vier Dollar neunzig ausgegeben, und du ziehst es gefälligst an!“

Ich versuchte seine Hand abzuschütteln, aber er umklammerte meinen Oberarm wie ein Schraubstock. Tränen liefen mir über die Wangen. „Ich will eine Davy-Crockett-Mütze!“

Mein Vater packte noch härter zu. „Ich habe nein gesagt.“

„Aber warum denn nicht?“ heulte ich. „Alle haben eine, nur ich nicht. Warum nicht?“

Seine Antwort war mir unerklärlich. „Weil du ein Mädchen bist.“

„Ich hab die Nase voll davon, ständig gefragt zu werden, ob sie ein Junge oder ein Mädchen ist“, beschwerte sich meine Mutter bei meinem Vater. „Die Leute fragen mich dauernd danach.“

Ich war zehn Jahre alt. Ich war kein kleines Kind mehr und hatte so gar nichts Niedliches an mir, hinter dem ich mich hätte verstecken können. Die Welt verlor die Geduld mit mir, und ich bekam es mit der Angst zu tun.

Als ich noch ganz klein war, wollte ich alles dransetzen, meinen Makel zu beseitigen, was es auch sein mochte. Jetzt wollte ich mich nicht mehr ändern; ich wollte nur noch, daß die Leute aufhörten, immer nur wütend auf mich zu sein.

Einmal nahmen meine Eltern meine Schwester und mich zum Einkaufen mit in die Stadt. Als wir die Allen Street hinunterfuhren, sah ich einen Erwachsenen, dessen Geschlecht ich nicht rauskriegen konnte.

„Mami, ist das ein Mannweib?“ fragte ich laut.

Meine Eltern warfen sich amüsierte Blicke zu und brachen in Gelächter aus. Mein Vater starrte mich im Rückspiegel an. „Wo hast du denn das Wort gehört?“

Ich zuckte die Achseln, unsicher, ob ich das Wort wirklich schon mal gehört hatte, bevor es mir rausgerutscht war.

„Was ist ein Mannweib?“ wollte meine Schwester wissen. Ich war auch gespannt auf die Antwort.

„Jemand, der verrückt ist“, lachte mein Vater. „Wie ’n Beatnik.“

Rachel und ich nickten, ohne etwas zu verstehen.

Plötzlich überkam mich eine Welle böser Vorahnungen. Mir wurde ganz schlecht. Aber was es auch war, das die Angst ausgelöst hatte, es war zu furchterregend, um darüber nachzudenken. Das Gefühl verebbte so schnell wie es gekommen war.

Sachte schob ich die Tür zum Schlafzimmer meiner Eltern auf und sah mich um. Ich wußte, daß sie beide auf der Arbeit waren, aber es war verboten, ihr Schlafzimmer zu betreten. Also blickte ich mich zur Sicherheit erst mal verstohlen um. Dann ging ich geradewegs zum Schrank meines Vaters. Da hing sein blauer Anzug. Das hieß, daß er heute den grauen anhatte. Ein blauer und ein grauer Anzug – mehr braucht ein Mann nicht, sagte mein Vater immer. Seine Krawatten hingen ordentlich an der Innenseite der Tür.

Es war noch aufregender, seine Kommodenschublade aufzuziehen. Seine weißen Hemden waren bretthart gestärkt und zusammengefaltet. Jedes war in Papier eingewickelt und wie ein Geschenk mit einem Band versehen. In dem Augenblick, in dem ich das Band löste, wußte ich, daß ich Ärger kriegen würde. Ich hatte kein Versteck für den Abfall, das meine Mutter nicht sofort finden würde. Und mir war klar, daß mein Vater wahrscheinlich genau wußte, wie viele Hemden er besaß. Auch wenn sie alle weiß waren, konnte er wahrscheinlich genau sagen, welches fehlte.

Aber es war zu spät. Ich zog mich bis auf Baumwollunterhöschen und T-Shirt aus und schlüpfte in sein Hemd. Es war dermaßen gestärkt, daß ich den Kragen kaum zugeknöpft bekam. Ich zog mir eine Krawatte vom Halter. Jahrelang hatte ich zugesehen, wie mein Vater seinen Schlips in einer komplizierten Bewegungsabfolge geschickt wand und band, aber ich kam nicht auf des Rätsels Lösung. Ich band ihn unbeholfen zu einem Knoten. Ich kletterte auf einen Schemel, um den Anzug vom Bügel zu nehmen. Ich war überrascht, wie schwer er war. Er fiel zu Boden. Ich zog die Anzugjacke über und betrachtete mich im Spiegel. Ein Laut entwich meiner Kehle, eine Art Japsen. Mir gefiel das elfjährige Mädchen, die mir da entgegensah.

Es fehlte noch etwas: der Ring. Ich öffnete das Schmuckkästchen meiner Mutter. Da lag er. Das Silber und der Türkis bildeten eine tanzende Figur. Ich konnte nicht erkennen, ob diese Figur eine Frau oder ein Mann war. Der Ring paßte nicht mehr auf drei Finger; jetzt paßten gerade zwei hinein.

Ich starrte in den großen Spiegel über der Kommode meiner Mutter und versuchte weit in die Zukunft zu sehen, in eine Zeit, wenn diese Kleidung mir passen würde, um einen Blick von der Frau zu erhaschen, die ich einmal sein würde.

Ich sah nicht aus wie die Mädchen und Frauen im Versandhauskatalog, der mit den wechselnden Jahreszeiten ins Haus kam. Ich war immer die erste, die ihn durchblätterte, Seite für Seite. Die Mädchen und Frauen sahen alle ziemlich gleich aus, aber die Jungen und Männer auch. Ich konnte mich in den Mädchen nicht wiedererkennen. Und ich hatte noch nie eine erwachsene Frau gesehen, die so aussah, wie ich mir mich als Erwachsene vorstellte. Es gab im Fernsehen keine Frauen, die aussahen wie die kleine Frau in diesem Spiegel. Auch auf der Straße nicht. Das wußte ich. Ich hielt ständig die Augen offen.

Einen Moment lang sah ich im Spiegel, wie die Frau, die ich einmal sein würde, zurückstarrte. Sie sah verängstigt und traurig aus. Ich fragte mich, ob ich wohl den Mut haben würde, erwachsen und so wie sie zu werden.

Ich hörte nicht, wie die Schlafzimmertür aufging. Als ich meine Eltern bemerkte, war es schon zu spät. Sie dachten beide, sie müßten meine Schwester vom Zahnarzt abholen. Deshalb kamen sie beide unerwartet früh nach Hause.

Ihre Mienen erstarrten. Ich hatte solche Angst, daß mein Gesicht ganz taub wurde.

Sturmwolken sammelten sich am Horizont.

Meine Eltern redeten nicht darüber, daß sie mich in der Kleidung meines Vaters in ihrem Schlafzimmer erwischt hatten. Ich betete, noch einmal davonzukommen.

Aber kurz darauf packten mich meine Eltern unerwartet ins Auto. Sie sagten, sie brächten mich zu einer Blutprobe ins Krankenhaus. Wir fuhren im Fahrstuhl in das Stockwerk, wo der Test stattfinden sollte. Die Türen öffneten sich. Zwei riesige Männer in weißen Uniformen zogen mich aus dem Fahrstuhl. Meine Eltern blieben zurück. Die Männer drehten sich um und verschlossen das Gitter. Ich streckte die Hände nach meinen Eltern aus, aber sie sahen mich nicht einmal an, als sich die Fahrstuhltür schloß.

Der Schreck saß wie ein Elefant auf meiner Brust. Ich konnte kaum atmen.

Eine Schwester erklärte mir die Regeln: Ich mußte morgens aufstehen und den ganzen Tag draußen auf der Station bleiben. Ich mußte ein Kleid tragen, beim Sitzen die Beine übereinanderschlagen, höflich sein und lächeln, wenn man zu mir sprach. Ich nickte, als würde ich das verstehen. Ich stand immer noch unter Schock.

Ich war das einzige Kind auf der Station. Sie steckten mich zu zwei Frauen in ein Zimmer. Die eine Frau war sehr alt und den ganzen Tag am Bett festgebunden. Sie klagte und rief nach Leuten, die gar nicht da waren. Die andere Frau war jünger. „Ich heiße Paula“, sagte sie und streckte die Hand aus. „Nett, dich kennenzulernen.“ Ihre Handgelenke waren verbunden. Sie erklärte mir, daß ihre Eltern ihr verboten hatten, sich mit ihrem Freund zu treffen, weil er ein Neger war. Sie hatte sich vor Kummer die Pulsadern aufgeschnitten, und deshalb hatten sie sie eingeliefert.

Den Rest des Tages spielten wir zusammen Tischtennis. Paula brachte mir den Text von „Are you lonesome tonight?“ bei. Sie lachte und klatschte, als ich meine Stimme tief klingen ließ wie die von Elvis. „Du mußt Rechauds und Mokassins machen“, riet Paula mir. „Und zwar ’ne Menge. Je mehr, je besser. Das finden sie gut.“ Ich wußte nicht, was ein Rechaud war.

In dieser Nacht konnte ich nicht einschlafen. Ich hörte flüsternde und lachende Männerstimmen in meinem Zimmer. Ein Reißverschluß wurde aufgezogen. Uringeruch stieg mir in die Nase. Noch mehr Lachen, und dann entfernten sich die Schritte. Mein Bettzeug war durchnäßt. Ich hatte Angst, daß man mir die Schuld geben und mich bestrafen würde. Wer hatte das getan, und warum? Ich mußte Paula fragen.

Das Licht jenseits der vergitterten Fenster war noch grau, als die Schwestern und Pfleger in unser Zimmer kamen. „Aufstehen, aufstehen!“ riefen sie.

Die alte Frau fing mit ihrem Gerufe an.

Paula wehrte sich gegen die Pfleger, biß sie in die Hände. Sie fluchten, schnallten sie fest und rollten sie aus dem Zimmer.

Eine Schwester kam an mein Bett. Ich konnte immer noch den schwachen Uringeruch auf meinem Bettzeug wahrnehmen, obwohl es schon wieder trocken war. Würde sie mich wegbringen, wenn sie es auch roch? Sie blätterte in ihren Unterlagen. „Goldberg, Jess.“ Es machte mir angst, sie meinen Namen aussprechen zu hören. „Für die hier habe ich keine Unterschrift“, sagte sie zu den Pflegern. Sie gingen alle aus dem Zimmer.

„Goldberg, Jess“, rief die alte Frau immer wieder.

Nach dem Mittagessen schlüpfte ich zurück in unser Zimmer, um mein Jo-Jo zu holen. Paula saß auf ihrem Bett und starrte ihre Pantoffeln an. Sie blickte auf und legte den Kopf schief. Sie streckte die Hand aus. „Ich heiße Paula“, sagte sie. „Nett, dich kennenzulernen.“

Eine Schwester kam herein. „Du da“, sagte sie und zeigte auf mich. Ich folgte ihr zum Schwesternzimmer. Sie hielt mir zwei Pappbecher hin. In dem einen rollten Tabletten in den schönsten Farben herum, in dem anderen war Wasser. Ich starrte die beiden Becher an.

„Nimm sie!“ befahl die Schwester. „Mach’s mir nicht so schwer.“ Ich ahnte schon, daß ich vielleicht nie hier rauskommen würde, wenn ich es dem Klinikpersonal schwermachte, also nahm ich die Tabletten. Schon bald, nachdem ich sie geschluckt hatte, wurde der Fußboden schief, und ich hatte das Gefühl, als ginge ich durch Klebstoff.

Ich stellte täglich mehr Rechauds und Mokassins her. Und ich begann mich mit einer Frau verbunden zu fühlen, die mit Geistern sprach, die ich nicht sehen konnte.

In der Patientenbücherei entdeckte ich eine Lyrikanthologie – sie veränderte mein Leben. Ich las die Gedichte wieder und wieder, bis ich allmählich begriff, was sie bedeuteten. Nicht nur, daß die Worte wie Noten waren, die meine Augen singen konnten – es war auch die Entdeckung, daß Frauen und Männer, die schon lange tot waren, mir Botschaften über ihre Gefühle hinterlassen hatten, Emotionen, die ich mit meinen eigenen vergleichen konnte. Endlich hatte ich andere gefunden, die genauso einsam waren wie ich. Dieses Wissen tröstete mich.

Drei Wochen, nachdem ich eingeliefert worden war, brachte mich eine Schwester in ein Büro. Ein Mann mit Bart saß hinter einem großen Schreibtisch und rauchte Pfeife. Er sagte mir, er sei mein Arzt. Er sagte, daß ich Fortschritte zu machen schiene, daß es schwer sei, jung zu sein, und daß ich gerade eine schwierige Phase durchmachte.

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