Kitabı oku: «Stone Butch Blues», sayfa 3

Yazı tipi:

„Weißt du, warum du hier bist?“ fragte er mich.

Ich hatte in den drei Wochen eine Menge gelernt. Mir war klar geworden, daß die Welt viel mehr konnte, als nur über mich zu richten – sie hatte enorme Macht über mich. Es war mir gleichgültig geworden, daß meine Eltern mich nicht liebten. Ich hatte diese Tatsache in den drei Wochen, die ich in diesem Krankenhaus allein überlebt hatte, akzeptiert. Es machte mir nichts mehr aus. Ich haßte sie. Und ich traute ihnen nicht. Ich traute niemandem. Ich hatte nur noch meine Flucht im Kopf. Ich wollte hier rauskommen und von zu Hause weglaufen.

Ich erzählte dem Arzt, daß ich vor den männlichen Patienten auf der Station Angst hätte. Ich sagte, ich wüßte, daß meine Eltern enttäuscht von mir wären, ich in Zukunft jedoch alles tun würde, damit sie stolz auf mich sein könnten. Ich sagte ihm, daß ich nicht wüßte, was ich falsch machte, aber wenn ich nur nach Hause könnte, würde ich tun, was er mir sagte. Ich meinte es nicht, aber ich sagte es. Er nickte, aber er schien sich mehr dafür zu interessieren, daß seine Pfeife nicht ausging, als für mich.

Zwei Tage später erschienen meine Eltern auf der Station und holten mich nach Hause. Wir redeten nicht über das, was geschehen war. Meine Gedanken kreisten um meine Flucht; ich wartete nur auf den richtigen Moment. Doch zunächst mußte ich mich bereit erklären, einmal in der Woche zur Therapie zu gehen. Ich hoffte, daß die Therapie nicht lange dauern würde, aber sie dauerte mehrere Jahre.

Ich weiß noch genau, an welchem Tag es war, als der Seelenklempner die Bombe platzen ließ: Meine Eltern und er waren übereingekommen, daß ein Benimmkurs mir helfen würde. Das Datum ist in meinem Kopf eingebrannt. Der 23. November 1963. Wie betäubt verließ ich sein Büro. Diese Erniedrigung schien mehr, als ich ertragen konnte. Wenn ich eine schmerzlose Methode gewußt hätte, hätte ich mich wahrscheinlich umgebracht.

Als ich nach Hause kam, hatten meine Eltern den Fernseher laut gestellt, und eine Nachrichtensprecherin berichtete, daß der Präsident in Dallas erschossen worden war. Es war das erste Mal, daß ich meinen Vater weinen sah. Die ganze Welt war aus den Fugen geraten. Ich schloß meine Zimmertür hinter mir und flüchtete mich in den Schlaf.

Ich hatte nicht geglaubt, daß ich es überleben würde, in dem Benimmkurs meine beschämende Andersartigkeit in aller Öffentlichkeit vorzuführen. Aber irgendwie bin ich durchgekommen. Jedesmal, wenn ich mich vor der ganzen Klasse auf dem Laufsteg drehen mußte, wieder und wieder, war mein Gesicht knallrot vor Demütigung und Wut.

Der Benimmkurs brachte mir ein für allemal bei, daß ich nicht hübsch und feminin war und niemals anmutig sein würde. Der Wahlspruch der Schule lautete: Jedes Mädchen, das zu uns kommt, verläßt uns als Dame. Ich war die Ausnahme.

Gerade als ich dachte, schlimmer könnte es nicht mehr kommen, stellte ich fest, daß mir Brüste wuchsen. Die Menstruation machte mir nichts aus. Wenn die Blutung nicht gerade unvermutet einsetzte, war es eine private Angelegenheit zwischen mir und meinem Körper. Aber Brüste! Jungs lehnten sich aus Autofenstern und schrien mir unanständige Sprüche nach. Mr. Singer vom Drugstore starrte auf meine Brüste, während er meine Süßigkeiten eintippte. Ich trat aus der Volleyball- und der Leichtathletikmannschaft aus, weil mir die Brüste beim Springen oder Laufen weh taten. Mir gefiel mein Körper so, wie er vor der Pubertät gewesen war. Irgendwie hatte ich gedacht, er würde sich nie ändern, jedenfalls nicht so!

Schließlich kam ich an einen Punkt, wo ich fand, daß all die Leute, die mich abartig fanden, recht hatten. Schuldgefühle brannten wie Säure in meiner Kehle. Sie ließen nur nach, wenn ich in das Land-das-mich-so-nimmt-wie-ich-bin zurückkehrte. So kam es, daß ich mich wieder an die Wüste erinnerte.

Eines Nachts besuchte mich im Traum eine Dineh-Frau. Sie war früher jede Nacht zu mir gekommen, aber seit ich in der Psychiatrie gewesen war nicht mehr. Sie nahm mich auf den Schoß und forderte mich auf, meine Vorfahren zu suchen und stolz auf mich zu sein. Und an den Ring zu denken.

Als ich aufwachte, war es draußen noch dunkel. Ich kauerte mich ans Fußende des Bettes und lauschte auf den stürmischen Regen. Blitze erhellten den Nachthimmel. Ich wartete, bis meine Eltern zur Arbeit gegangen waren, dann schlich ich in ihr Schlafzimmer und holte den Ring. In der Schule versteckte ich mich in einer Klokabine, betrachtete den Ring und fragte mich, was er wohl zu bewirken vermochte. Wann würde seine Macht beschützen? Wahrscheinlich war es wie beim Captain Midnight Decoder Ring – du mußtest selbst rauskriegen, wie er funktionierte.

Als wir an jenem Tag beim Abendbrot saßen, lachte meine Mutter über mich.

„Du hast letzte Nacht im Schlaf geredet wie ein Marsmensch.“

Ich knallte meine Gabel auf den Tisch. „Es ist keine Marssprache!“

„Junges Fräulein!“ schnauzte mein Vater mich an. „Geh auf dein Zimmer!“

Als ich in der Schule den Gang hinunterging, quiekten ein paar Mädchen, als ich an ihnen vorbeikam: „Ist das ’n Tier, ’n Mineral oder ’ne Pflanze?“ Ich paßte in keine ihrer Schubladen.

Ich hatte ein neues Geheimnis, und es war so schrecklich, daß ich es nie jemandem würde erzählen können. Ich entdeckte es eines Tages im Colvin-Kino. Es war an einem Samstag. Ich blieb nach der Nachmittagsvorstellung lange Zeit auf der Toilette. Ich mochte noch nicht nach Hause gehen. Als ich schließlich rauskam, lief gerade der Erwachsenenfilm. Ich schlich mich hinein und sah zu. Ich schmolz dahin, als Sophia Loren sich an ihren Helden preßte. Ihre Hand umfaßte seinen Nacken, als sie sich küßten; ihre langen roten Fingernägel strichen über seine Haut. Ein genüßlicher Schauer überkam mich.

Von da an versteckte ich mich jeden Samstag nach der Nachmittagsvorstellung auf dem Klo, damit ich anschließend die Erwachsenenfilme sehen konnte. Ein neuer Hunger nagte an mir. Er machte mir angst, aber ich hütete mich, mich irgend jemandem anzuvertrauen.

Ich ertrank in meiner Einsamkeit.

Eines Tages gab unsere Englischlehrerin, Mrs. Noble, uns eine Hausaufgabe: Bringt acht bis zehn Zeilen von eurem Lieblingsgedicht mit und lest sie der Klasse vor. Einige maulten und stöhnten, sie hätten kein Lieblingsgedicht, und das sei ja „ö-de“. Doch ich geriet in Panik. Wenn ich ein Gedicht las, das mir gefiel, würde ich mich verwundbar machen und mich der Klasse ausliefern. Andererseits, Gedichtzeilen vorzulesen, die mir nichts bedeuteten, schien mir wie Selbstverrat.

Als ich am nächsten Tag an der Reihe war, nahm ich mein Mathebuch mit nach vorn. Zu Beginn des Halbjahres hatte ich aus einer braunen Obsttüte einen Schutzumschlag für das Buch gemacht und ein Gedicht von Poe auf die Innenklappe geschrieben.

Ich räusperte mich und sah Mrs. Noble an. Sie lächelte und nickte mir zu. Ich las die ersten Zeilen vor:

Anders seit meiner Kindheit Jahren

Bin ich, als andre sind und waren,

Um andres, als andre thaten, mich müht’ ich

Von andern Leidenschaften glüht’ ich.

Nicht floß mein Gram aus denselben Quellen,

Dieselbe Freude ließ nicht zu schnellen

Empfindungen das Herz mir schwellen.

Allein war ich in Freude wie in Pein,

Und was ich liebte, das liebt’ ich allein.

Ich versuchte, die Worte in einem tonlosen Singsang zu lesen, damit meine Mitschülerinnen und Mitschüler nicht merkten, wie viel mir dieses Gedicht bedeutete, aber ihre Augen waren ohnehin stumpf vor Langeweile. Ich senkte den Blick und kehrte an meinen Platz zurück. Mrs. Noble drückte mir den Arm, als ich an ihr vorbeiging, und als ich aufblickte, sah ich Tränen in ihren Augen. Sie sah mich auf eine Weise an, daß ich beinahe auch geweint hätte. Es war, als sähe sie mich wirklich, und in ihrem Blick lag keine Kritik.

Die Welt war in Aufruhr, aber meinem Leben war nichts davon anzumerken. Ich erfuhr von der Bürgerrechtsbewegung nur aus den Heften der Zeitschrift Life, die wir abonniert hatten. Ich war jede Woche die erste in der Familie, die die neue Ausgabe las.

Ein Bild, das sich meinem Gedächtnis eingeprägt hat, ist das Foto von zwei Trinkwasserquellen mit den Aufschriften „Farbige“ und „Weiße“. Auf anderen Fotos sah ich, wie mutige Menschen – dunkelhäutige wie hellhäutige – versuchten, das zu ändern. Ich las ihre Transparente. Ich sah, wie sie in Restaurants blutig geschlagen wurden und in Birmingham stahlbewehrten Streitkräften gegenüberstanden. Ich sah, wie Wasserwerfer und Polizeihunde ihnen die Kleider vom Leib rissen. Ich fragte mich, ob ich jemals so mutig sein könnte.

Ich sah ein Foto aus Washington, D.C., auf dem sich mehr Leute, als ich mir jemals hätte vorstellen können, an einem Ort versammelt hatten. Martin Luther King erzählte ihnen von seinem Traum. Ich wünschte mir, dazugehören zu können.

Ich beobachtete die Mienen meiner Eltern, als sie unbewegt dieselben Zeitschriften lasen wie ich. Sie sagten nie ein Wort dazu. Die Welt stand Kopf, und sie blätterten die Seiten in aller Ruhe durch wie einen Versandhauskatalog.

„Ich würde gern an einem Freedom Ride durch die Südstaaten teilnehmen“, sagte ich eines Tages beim Abendessen. Ich sah, wie meine Eltern sich eine Reihe komplizierter Blicke zuwarfen. Schweigend aßen sie weiter.

Dann legte mein Vater seine Gabel auf den Tisch. „Damit haben wir nichts zu tun“, sagte er und schloß damit das Thema ab.

Meine Mutter blickte von ihm zu mir und wieder zurück. Ich merkte, daß sie den bevorstehenden Ausbruch um jeden Preis verhindern wollte. Sie lächelte. „Wißt ihr, was ich mich frage?“

Wir wandten uns ihr zu. „Ihr kennt doch das Lied von Peter, Paul, and Mary – ‚The answer, my friend, is blowing in the wind’?“ Ich nickte gespannt.

„Ich verstehe nicht, was man davon hat, in den Wind zu blasen.“ Meine Eltern brachen in schallendes Gelächter aus.

Mit fünfzehn nahm ich neben der Schule einen Job an. Ich mußte den Therapeuten davon überzeugen, daß das gut für mich war, damit meine Eltern ihre Einwilligung gaben. Ich überzeugte ihn. Damit änderte sich alles.

Ich arbeitete als Handsetzerin in einer Druckerei. Ich hatte Barbara, einer meiner wenigen Freundinnen in meiner Klasse, gesagt, daß ich sterben würde, wenn ich keine Arbeit fände, und ihre große Schwester beschaffte mir diesen Job, indem sie log und schwor, ich sei sechzehn.

Auf der Arbeit kümmerte sich kein Mensch darum, ob ich Jeans und T-Shirts trug. Sie zahlten bar am Ende jeder Woche, und meine Kolleginnen und Kollegen waren nett zu mir. Sie merkten sehr wohl, daß ich anders war, schienen sich jedoch nicht soviel daraus zu machen wie meine Mitschülerinnen und Mitschüler. Sie fragten mich nach der Schule und erzählten mir, wie es war, als sie selbst noch zur Schule gingen. Als Jugendliche denkst du nie daran, daß Erwachsene auch mal jung gewesen sind, wenn sie dich nicht daran erinnern.

Eines Tages fragte ein Drucker aus einer anderen Abteilung Eddie, meinen Vorarbeiter: „Wer ist denn diese Butch?“ Eddie lachte nur, und sie gingen weg und redeten weiter. Die beiden Frauen, die rechts und links von mir arbeiteten, warfen mir einen Blick zu, um zu sehen, ob ich verletzt war. Ich war eher verwirrt.

An dem Abend setzte sich meine Freundin Gloria in der Pause zum Essen neben mich. Aus heiterem Himmel erzählte sie mir von ihrem Bruder – daß er schwul sei und Frauenkleider trage, sie ihn aber trotzdem liebe und sich darüber ärgere, wie die Leute ihn behandelten, denn schließlich könne er ja nichts dafür, daß er so sei. Einmal sei sie sogar mit ihm in eine Bar gegangen, wo er seine Freunde traf. Lauter Mannweiber hätten sie da angemacht. Sie schauderte, als sie das sagte.

„Wo war das denn?“ fragte ich.

„Was?“ Sie sah aus, als täte es ihr leid, davon angefangen zu haben.

„Wo ist denn diese Bar, wo solche Leute sind?“

Gloria seufzte.

„Bitte.“ Meine Stimme zitterte.

Sie sah sich um, bevor sie antwortete. „In Niagara Falls“, flüsterte sie. „Warum willst du das wissen?“

Ich zuckte die Achseln. „Wie heißt sie?“ Ich versuchte, ganz beiläufig zu klingen.

Gloria seufzte tief. „Tifka’s.“

3

Fast ein ganzes Jahr verging, bevor ich den Mut aufbrachte, mich bei der Auskunft nach der Adresse von Tifka’s zu erkundigen. Schließlich stand ich vor der Bar, zitternd vor Angst. Ich fragte mich, wieso ich dachte, dies könnte ein Ort sein, wo ich hinpaßte. Und wenn es nicht so war?

Ich trug mein blau-rot gestreiftes Hemd, ein marineblaues Jackett, das meine Brüste kaschieren sollte, schwarze gebügelte Chinos und schwarze Stiefel, weil ich keine guten Schuhe besaß.

Als ich eintrat, befand ich mich ganz einfach in einer Bar. Durch den Rauchschleier sah ich Gesichter, die herüberblickten und mich von oben bis unten musterten. Es gab kein Zurück mehr, und ich wollte auch nicht mehr zurück. Vielleicht hatte ich hier zum ersten Mal meine Leute gefunden. Ich wußte bloß nicht, wie ich es anstellen sollte, in diese Gemeinschaft aufgenommen zu werden.

Ich schob mich bis zur Theke vor und bestellte ein Genny.

„Wie alt bist du?“ fragte die Barfrau.

„Alt genug“, entgegnete ich und legte das Geld hin. Ein Grinsen erschien auf den anderen Gesichtern an der Theke. Ich trank einen Schluck Bier und versuchte, cool zu wirken. Eine ältere Tunte musterte mich eingehend. Ich nahm mein Bier und steuerte auf das verräucherte Hinterzimmer zu.

Was ich da sah, trieb mir die Tränen in die Augen, die ich jahrelang zurückgehalten hatte: starke, kräftig gebaute Frauen in Jacketts und Krawatten. Ihre Haare waren zu perfekten Elvis-Tollen zurückgekämmt. Die stattlichsten Frauen, die ich je gesehen hatte! Einige waren in langsame Tanzbewegungen versunken, mit Frauen in engen Kleidern und hohen Absätzen, die sie sanft berührten. Ich empfand ein schmerzliches Verlangen beim bloßen Zusehen.

Meine kühnsten Träume hatten sich erfüllt.

„Warst du schon mal in so einer Bar?“ fragte mich die Tunte.

„Schon oft“, antwortete ich schnell. Sie lächelte.

Dann mußte ich sie so dringend etwas fragen, daß ich vergaß, meine Lüge aufrechtzuerhalten. „Kann ich wirklich einer Frau einen Drink ausgeben oder sie zum Tanzen auffordern?“

„Klar, Schätzchen“, antwortete sie, „aber nur die Femmes.“ Sie lachte und sagte mir, sie hieße Mona.

Ich schaute wie gebannt auf eine Frau, die allein an einem Tisch saß. Gott, wie schön sie war! Ich wollte mit ihr tanzen. Die Four Tops sangen „Baby, I need your loving“. Ich wußte nicht genau, ob ich tanzen konnte, aber ich ging schnurstracks auf sie zu, bevor mich der Mut verließ.

„Tanzt du mit mir?“ fragte ich.

Mona und die Rausschmeißerin trugen mich praktisch aus dem Hinterzimmer in die vordere Bar und setzten mich auf einen Barhocker. Mona legte mir die Hand auf die Schulter und sah mir in die Augen. „Kid, es gibt da ein paar Dinge, die ich dir erklären sollte. Es ist meine Schuld. Ich habe dir gesagt, du könntest ruhig eine Frau auffordern. Aber das erste, was du lernen mußt, ist: Frag niemals die Frau von Butch Al!“

Ich machte mir in Gedanken gerade einen Knoten ins Taschentuch, als plötzlich Butch Als Schatten auf mich fiel. Die Rausschmeißerin trat zwischen uns, und die Transvestiten scheuchten Butch Al ins Hinterzimmer. Es ging alles sehr schnell, aber der kurze Blick auf diese Frau hatte mich bereits umgehauen. Butch Al war der Inbegriff von Macht, eine Erinnerung, die ich weder festhalten noch vergessen mochte.

Noch lange, nachdem die Aufregung des Augenblicks für alle anderen verflogen war, saß ich zitternd an der Theke. Ich fühlte mich wie im Exil, noch einsamer, als ich gewesen war, bevor ich die Bar betreten hatte, denn jetzt wußte ich, wo ich nicht dazugehörte.

Ein rotes Licht leuchtete über der Theke auf. Mona ergriff meine Hand und zerrte mich durch das Hinterzimmer in die Damentoilette. Sie ließ den Klodeckel runter und bedeutete mir hinaufzuklettern. Sie schob die Klotür halb zu und sagte, ich solle da drinbleiben und mich ruhig verhalten. Die Bullen wären da. Da hockte ich also. Lange. Erst als ich eine Femme, die die Klotür öffnete, halb zu Tode erschreckte, begriff ich, daß die Polizei schon längst wieder fort war, das Schmiergeld des Barbesitzers in der Tasche. Kein Mensch hatte daran gedacht, daß ich noch auf der Toilette war.

Als ich vom Klo kam, lachte das ganze Hinterzimmer auf meine Kosten. Ich zog mich wieder in die vordere Bar zurück und hielt mich an einem Bier fest.

Später fühlte ich eine Hand auf meinem Arm. Es war jene schöne Frau, die ich aufgefordert hatte. Butch Als Femme.

„Los, Schätzchen, komm rüber zu uns“, bot sie mir an.

„Nein, ich bleib lieber hier“, sagte ich, so tapfer ich konnte. Aber sie legte sanft ihren Arm um mich und zog mich vom Barhocker.

„Na komm, komm zu uns. Ist schon okay. Al tut dir nichts“, beruhigte sie mich. „Hunde, die bellen, beißen nicht.“ Das bezweifelte ich, zumal Butch Al aufstand, als ich an ihren Tisch trat.

Sie war eine imposante Frau, die mich an Größe und Statur überragte. Ich selbst war ja fast noch ein Kind. Die Stärke, die sich in ihrem Gesicht zeigte, gefiel mir sofort. Ihr energisches Kinn. Die Wut in ihren Augen. Ihre Körperhaltung. Das Sportsakko betonte und verhüllte ihren Körper zugleich. Rundungen und Falten. Ein breiter Rücken, ein massiger Nacken. Große, fest eingebundene Brüste. Weißes Hemd, Krawatte, Jackett. Hüften verborgen.

Sie musterte mich von oben bis unten. Ich stellte mich breitbeiniger hin. Sie nahm das zur Kenntnis. Ihr Mund verweigerte ein Lächeln, aber ihre Augen schienen dem zu widersprechen. Sie streckte ihre kräftige Hand aus. Ich ergriff sie. Die Festigkeit ihres Händedrucks überraschte mich. Sie verstärkte den Druck, ich erwiderte ihn. Ich war froh, daß ich keinen Ring trug. Ihr Händedruck wurde noch fester, meiner ebenfalls. Endlich lächelte sie.

„Es besteht Hoffnung“, sagte sie. Ich wurde rot, weil ich ihre Worte so dankbar aufsaugte.

Ich schätze, man könnte jenen Händedruck als Prahlerei abtun. Aber damals bedeutete er mir sehr viel, und das tut er heute noch. Ein solcher Händedruck ist mehr als eine Methode, die Stärke deines Gegenübers zu testen. Ein solcher Händedruck ist eine Herausforderung. Mit ihm spürst du die Stärke der anderen durch zunehmende Ermutigung auf. Wenn die maximale Stärke erreicht und Gleichheit hergestellt ist, seid ihr einander wirklich begegnet.

Ich war Butch Al wirklich begegnet. Ich war so aufgeregt. Und eingeschüchtert. Das hätte ich nicht zu sein brauchen, denn niemand ist jemals netter zu mir gewesen. Sie war zwar schroff, aber sie würzte ihre Schroffheit, indem sie mir das Haar zauste, mich umarmte und meiner Wange etwas mehr als ein Tätscheln und doch weniger als eine Ohrfeige gab. Das tat gut. Ich mochte die Zuneigung in ihrer Stimme, wenn sie mich Kid nannte, was sie häufig tat. Sie nahm mich unter ihre Fittiche und brachte mir all das bei, was eine Baby Butch wie ich ihrer Meinung nach wissen mußte, bevor sie sich auf diese gefährliche und schmerzensreiche Reise begab. Auf ihre Art war sie dabei sehr geduldig.

Damals konnte man den Anteil der Lesben und Schwulen in den Bars im Rotlichtbezirk in Prozent ausdrücken. Tifka’s war zu ungefähr fünfundzwanzig Prozent homosexuell. Das hieß, daß uns ein Viertel der Tische und der Tanzfläche zustanden, doch dieser Raum wurde uns ständig streitig gemacht. Butch Al lehrte mich, wie wir unser Territorium schützten.

Ich lernte, die Bullen als Todfeinde zu fürchten und die Zuhälter zu hassen, die das Leben so vieler Frauen, die wir liebten, kontrollierten. Und ich lernte zu lachen. In jenem Sommer waren die Freitag- und Samstagabende voller Lachen und zumeist gutmütiger Neckereien.

Die Tunten setzten sich auf meinen Schoß, und wir posierten für Polaroids. Wir fanden erst viel später heraus, daß der Typ, der sie gemacht hatte, ein eingeschleuster Bulle war. Ich konnte die alten Bulldagger betrachten und in ihnen meine Zukunft erkennen. Und ich lernte, was ich von einer anderen Frau wollte, indem ich Butch Al und Jacqueline, ihre Geliebte, beobachtete.

Die beiden erlaubten mir, den ganzen Sommer mit ihnen zusammenzusein. Ich hatte meinen Eltern erzählt, daß ich freitags und samstags abends doppelte Schichten arbeitete, „um fürs College zu sparen“, und bei einer Schulfreundin übernachtete, die in der Nähe meiner Arbeitsstelle wohnte. Sie nahmen mir die Geschichte ab. Die ganze Woche über zählte ich die Stunden bis zum Schichtende am Freitagabend, denn dann konnte ich mich wieder auf den Weg nach Niagara Falls machen.

Wenn die Bar in den frühen Morgenstunden zumachte, gingen wir ziemlich angeheitert die Straße runter, Jacqueline in unserer Mitte. Sie hob dann den Kopf gen Himmel und sagte: „Danke, lieber Gott, für diese beiden gutaussehenden Butches.“ Al und ich beugten uns dann vor und zwinkerten einander zu, und wir lachten aus purer Freude darüber, daß es uns gab und daß wir zusammen waren.

An den Wochenenden ließen sie mich auf ihrem alten Sofa schlafen. Um vier Uhr morgens briet Jacqueline Eier, während Al mir was beibrachte. Es war immer dieselbe Lektion: Werde hart. Al sagte nie genau, was mir bevorstand. Es wurde nie ausgesprochen. Aber ich begriff, daß es etwas Schreckliches sein mußte. Ich wußte, daß sie sich Sorgen machte, ob ich es überleben würde. Ich war nicht sicher, ob ich dazu schon in der Lage war. Als Botschaft lautete: Du bist es noch nicht!

Das war nicht sehr ermutigend. Aber ich wußte, daß Als Lektionen so hart waren, weil es ihr dringlich schien, daß ich so schnell wie möglich auf dieses schwierige Leben vorbereitet wurde. Sie wollte mich nicht verletzen. Sie nährte meine Butch-Stärke so, wie sie es am besten verstand. Und, wie sie häufig betonte, für sie hatte das niemand getan, als sie eine Baby Butch gewesen war, und sie hatte trotzdem überlebt. Das war merkwürdig beruhigend. Butch Al war meine Mentorin.

Al und Jackie bauten mich auf. Im wahrsten Sinne des Wortes. Jacqueline schnitt mir in der Küche die Haare. Sie nahmen mich mit in die Second-Hand-Läden, um mir mein erstes Sportsakko mit Krawatte zu kaufen. Al ging die Kleiderständer durch und suchte ein Jackett nach dem anderen aus. Ich probierte sie der Reihe nach an. Jackie legte den Kopf schief und lehnte eines nach dem anderen ab. Schließlich strich sie mir übers Revers und nickte zufrieden. Al stieß einen leisen anerkennenden Pfiff aus. Ich war im siebten Butch-Himmel.

Und dann die Krawatte. Al suchte sie für mich aus. Einen schmalen schwarzen Seidenschlips. „Mit einem schwarzen Schlips kannst du nichts falsch machen“, verkündete sie mir feierlich. Und natürlich hatte sie recht.

Es machte schon Spaß. Aber die Sache mit dem Sex lag mir auf der Seele, und Al wußte das. Eines Tages, als wir am Küchentisch saßen, holte Al einen Pappkarton hervor und meinte, ich sollte ihn aufmachen. Er enthielt einen Gummi-Dildo. Ich war schockiert.

„Du weißt, was das ist?“ fragte sie mich.

„Klar“, sagte ich.

„Du weißt, wie man ihn benutzt?“

„Klar“, log ich.

Jacqueline klapperte mit dem Geschirr. „Mein Gott, Al, laß die Kleine doch mal in Ruhe!“

„Eine Butch muß Bescheid wissen“, beharrte Al.

Jackie warf das Geschirrtuch in die Ecke und verließ entnervt die Küche.

Dies sollte die Butch-Version eines Aufklärungsgesprächs werden. Al redete, und ich hörte zu. „Weißt du, wovon ich rede?“ drängte sie.

„Klar“, sagte ich. „Klar.“

Als Jackie in die Küche zurückkam, war Al überzeugt, mir genug Informationen vermittelt zu haben.

„Noch eins, Kid“, fügte sie dann hinzu. „Benimm dich nicht wie diese Bulldagger, die sich das Ding umschnallen und ohne Rücksicht auf Verluste loslegen. Zeig den gebührenden Anstand, verstehst du, was ich meine?“

„Klar“, sagte ich. Ich hatte keine Ahnung.

Al ging aus der Küche, um vor dem Schlafengehen noch zu duschen. Jacqueline trocknete weiter das Geschirr ab, bis die Röte aus meinem Gesicht gewichen war und meine Schläfen aufgehört hatten zu pochen. Sie setzte sich neben mich auf einen Küchenstuhl. „Hast du verstanden, was Al dir erzählt hat, Schätzchen?“

„Klar“, sagte ich und schwor mir, das nie wieder zu sagen.

„Gibt es da noch etwas, was du nicht verstehst?“

„Also“, sagte ich langsam, „es klingt, als ob man ein bißchen üben muß, aber ich habe eine ungefähre Vorstellung. Ich meine, das mit vorne und hinten und oben und unten hört sich so an, na ja, als müßte ich es üben, bis es richtig klappt.“

Jacqueline machte ein verwirrtes Gesicht. Dann lachte sie, bis ihr die Tränen über die Wangen liefen. „Schätzchen“, fing sie an, aber sie mußte so lachen, daß sie nicht weiterreden konnte. „Du kannst das Ficken doch nicht nach dem Mechanik-Lehrbuch lernen. So wird eine Butch keine gute Liebhaberin.“

Aha. „Und wie wird eine Butch eine gute Liebhaberin?“ fragte ich und versuchte dabei so zu tun, als wäre mir die Antwort nicht besonders wichtig.

Ihr Blick wurde weicher. „Das ist schwer zu erklären. Ich glaube, eine gute Liebhaberin respektiert die Femme. Sie hört auf den Körper ihrer Femme. Sie achtet darauf, auch wenn es härter zur Sache geht, daß die Femme genau das auch will und daß sie selbst dennoch aus einer inneren Sanftheit heraus handelt. Kannst du das nachvollziehen?“

Das konnte ich nicht. Das war nicht die Art von Information, die ich gewollt hatte. Es stellte sich jedoch heraus, daß das genau die Information war, die ich gebraucht hatte. Um das zu begreifen, mußte ich allerdings mein ganzes Leben darüber nachdenken.

Jacqueline nahm mir den Gummi-Dildo aus der Hand und legte ihn mir vorsichtig auf den Oberschenkel. Meine Körpertemperatur stieg. Sie berührte ihn sanft, als wäre er etwas wirklich Schönes.

„Weißt du, damit könntest du bewirken, daß sich eine Frau richtig gut fühlt. Vielleicht besser als je zuvor in ihrem Leben.“ Sie hörte auf, den Dildo zu streicheln. „Du könntest sie aber auch sehr verletzen und an die anderen Situationen in ihrem Leben erinnern, in denen sie verletzt worden ist. Daran mußt du jedesmal denken, wenn du ihn umschnallst. Dann wirst du eine gute Liebhaberin.“

Ich wartete, hoffte auf mehr. Doch Jackie stand auf und machte sich in der Küche zu schaffen. Ich ging zu Bett. Ich versuchte, mir jedes Wort, das mir gesagt worden war, unauslöschlich einzuprägen, bis ich einschlief.

Alle in der Bar kriegten es mit, als Monique anfing, mit mir zu flirten. Monique jagte mir höllische Angst ein. Jacqueline hatte einmal gesagt, daß Monique Sex wie eine Waffe benutzte. Wollte Monique mich wirklich? Die Butches sagten es, also mußte es stimmen. Irgendwie wußten alle sofort, daß ich meine Butch-Jungfräulichkeit bei Monique verlieren würde.

Am Freitagabend schlugen die Butches mir auf die Schultern, rückten meine Krawatte zurecht und schickten mich rüber an Moniques Tisch. Als wir zusammen die Bar verließen, bemerkte ich, daß mich keine der Femmes ermunterte. Warum wich Jacqueline meinem Blick aus? Sie klopfte nur mit ihren langen lackierten Fingernägeln an ihr Whiskyglas und starrte es an, als gäbe es nichts anderes auf der Welt. Ahnte sie die bevorstehende Tragödie?

Am nächsten Abend ging ich später als sonst in die Bar und hoffte, daß Monique und ihre Freundinnen nicht da wären. Doch sie waren da. Ich schlich mich zu unserem Tisch und setzte mich. Niemand wußte, was in der letzten Nacht passiert oder nicht passiert war. Aber alle wußten, daß irgend etwas absolut nicht stimmte.

Ich saß da und ertrank in meiner Scham, als ich an die vergangene Nacht dachte. Als wir bei Monique zu Hause angekommen waren, war ich schon ganz verängstigt gewesen. Mir war klar geworden, daß ich gar nicht genau wußte, was Sex eigentlich war. Womit und wie fing es an? Was wurde von mir erwartet? Und Monique jagte mir eine Höllenangst ein. Plötzlich überlegte ich es mir anders. Ich machte einen Rückzieher. Ich plapperte nervös drauflos. Monique grinste süffisant. Als ich vom Sofa zu einem Stuhl wechselte, folgte sie mir. „Was is’n?“ spottete sie. „Magst du mich nicht, Schätzchen? Was is’n los, ey!“ Ich redete belangloses Zeug, bis Monique entnervt aufstand. „Mach, daß du hier rauskommst!“ Ihre Stimme klang angewidert. Erleichtert murmelte ich irgendwelche Ausflüchte und rannte aus dem Haus.

Aber in der Bar konnte ich den Folgen nicht ausweichen. Ich saß in Sichtweite von Monique an unserem Tisch und rieb mir die Stirn, als könnte ich die Erinnerung an das Vorgefallene wegwischen. Ich fragte mich, wie lange dieser Abend wohl währen mochte. Lange. Sehr lange.

Monique flüsterte einer Butch in ihrer Nähe etwas zu. Die Butch kam quer durch den Raum zu unserem Tisch. „Hey!“ rief sie mir zu. Ich sah nicht auf. „Hey, Femme, willste mal mit ’ner richtigen Butch tanzen?“

Ich rutschte unbehaglich auf meinem Stuhl herum. Al flüsterte der Butch etwas zu.

„Oh, Verzeihung, Al, ich wußte nicht, daß sie deine Femme ist.“

Al stand auf und haute der Frau eine runter, bevor wir anderen kapierten, was los war. Dann sah Al mich erwartungsvoll an. „Nun?“ sagte sie. Sie hielt die Butch fest. Al wollte, daß ich die Frau verprügelte, um meine Ehre zu retten. Doch es gab niemanden im Raum, die ich hätte schlagen wollen, außer vielleicht mich selbst. Ich hatte keine Ehre mehr zu verteidigen.

Die Butches in Moniques Nähe standen auf und schickten sich an herüberzukommen. Al und die anderen Butches aus unserer Gruppe bauten sich vor unserem Tisch auf, um mich zu verteidigen. Jacqueline legte mir ihre Hand auf den Oberschenkel, um mir zu verstehen zu geben, daß ich nicht kämpfen mußte. Das wäre nicht nötig gewesen. Mona trat hinter mich und legte mir die Hände auf die Schultern. Die Femmes stellten sich ebenfalls hinter mich. Ich saß da, schlug die Hände vors Gesicht, schüttelte den Kopf und wollte, daß das alles einfach aufhörte. Aber das geschah nicht.

Schließlich zog sich Moniques Gruppe zurück. Aber keine von uns konnte die Bar verlassen, bevor die anderen gegangen waren, sonst würden sie sich auf uns stürzen. Es würde in der Tat eine lange Nacht werden.

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