Kitabı oku: «Stone Butch Blues», sayfa 4
Al war sauer auf mich. „Du läßt dir gefallen, daß diese Bulldagger so mit dir redet?“ Sie hieb mit der Faust auf den Tisch.
„Halt die Klappe, Al!“ schnappte Jacqueline. Ich war so überrascht, daß ich den Kopf hob und sie ansah. Sie starrte Al wütend an. „Laß die Kleine in Ruhe, kapiert?“
Al wandte sich ab und sah den Paaren beim Tanzen zu. Ihre Körpersprache ließ mich wissen, daß sie ziemlich angewidert von mir war. Jacqueline klopfte nur mit den Fingernägeln an ihr Whiskyglas, wie am Abend zuvor. Ich brauchte lange, bis ich den Morse-Code der Femmes gelernt hatte.
Nach einer Weile begann sich die Menge in der Bar zu lichten. Yvette kam herein. Jacqueline beobachtete sie und war offensichtlich besorgt.
„Was ist denn los?“ fragte ich, aus meinem Selbstmitleid aufgestört.
Jackie musterte mich eingehend. „Sag du’s mir“, erwiderte sie schließlich.
Ich sah Yvette an. Wie Jacqueline hatte sie von Jugend an auf dem Straßenstrich gearbeitet. Al hatte dafür gesorgt, daß Jackie nicht mehr anschaffen ging. Al konnte sie beide von dem Geld ernähren, das sie bei ihrem Job in der Autoproduktion verdiente.
Yvette hatte keine Butch, die in der Fabrik arbeitete. Yvette hatte niemanden, außer den anderen Huren.
„Sie sieht aus, als hätte sie eine schwere Nacht gehabt“, versuchte ich mein Glück.
Jacqueline nickte. „Es ist gemein da draußen. Sie machen uns echt fertig.“
Ich war überrascht von der Intimität, die in dieser Information mitschwang. Dann schien Jacqueline das Thema zu wechseln. „Was meinst du, was sie jetzt braucht?“ fragte sie mich.
„Ihre Ruhe“, sagte ich und dachte dabei an mein eigenes Bedürfnis.
Jacqueline lächelte. „Ja, sie will in Ruhe gelassen werden. Sie will nicht, daß auch nur ein Mensch auf dieser Scheißwelt heute abend noch irgendwas von ihr verlangt. Aber sie könnte vermutlich ein bißchen Trost gebrauchen, weißt du?“ Vielleicht. „Kann sein, daß sie es echt gut fände, wenn eine richtige Butch wie du zu ihr rüberkäme und sie einfach zum Tanzen aufforderte. Ohne sie zu überfallen.“
Ich dachte, das könnte ich vielleicht tun. Um jeden Preis den Stachel meiner eigenen Schande herausziehen.
Jacqueline zog mich am Ärmel. „Sei vorsichtig, hörst du?“
Ich nickte und ging langsam zu Yvette hinüber. Sie hatte den Kopf in die Hände gestützt. Ich räusperte mich. Sie blickte mich müde an und nahm einen Schluck von ihrem Drink. „Was willst du?“ fragte sie mich.
„Ähm, ich dachte … tanzt du mit mir?“
Sie schüttelte den Kopf. „Vielleicht später, Baby. Okay?“
Vielleicht lag es daran, wie ich da stand. Es war unmöglich, vor den Augen von Moniques und meiner Gruppe durch den Raum zurückzugehen, ohne getanzt zu haben. Das hatte ich nicht bedacht. Und Jackie? Vielleicht trafen sich Jacquelines und Yvettes Blicke. Denn schließlich sagte Yvette: „Ja, warum nicht?“ und stand auf.
Ich wartete in der Mitte der Tanzfläche auf sie. Roy Orbisons Stimme war weich und verträumt. Ich stand still, mit ihrer Hand in meiner, bis sie sich entspannte und näher kam. Nachdem wir eine Weile getanzt hatten, sagte Yvette zu mir: „Du darfst übrigens ruhig atmen.“ Wir mußten beide lachen.
Dann fühlte ich, wie ihr Körper näher kam und wir miteinander verschmolzen. Ich entdeckte die süßen Überraschungen, die eine Femme einer Butch zu bieten hat: ihre Hand an meinem Nacken, flach auf meiner Schulter oder zusammengeballt wie eine Faust. Ihr Bauch und ihre Oberschenkel an meinem Bauch, an meinen Oberschenkeln. Ihre Lippen, die beinahe mein Ohr berührten.
Die Musik war zu Ende. Yvette löste sich von mir und wollte sich abwenden. Ich hielt sanft ihre Hand fest. „Bitte“, sagte ich. „Schätzchen“, sagte sie lachend, „du hast das Zauberwort gesprochen.“
Wir tanzten ein paar langsame Lieder hintereinander. Unsere Körper bewegten sich mühelos und harmonisch. Die leichteste Veränderung des Drucks meiner Hand auf ihrem Rücken veränderte ihre Bewegung. Ich schob ihr nicht den Oberschenkel zwischen die Beine. Ich wußte, daß sie dort verwundet worden war. Selbst ich als Baby Butch schützte mich an dieser Stelle. Ich spürte ihren Schmerz, sie kannte meinen. Ich spürte ihre Begierde, sie weckte meine.
Schließlich endete die Musik, und ich ließ sie los. Ich küßte sie auf die Wange und dankte ihr. Ich ging über die Tanzfläche an meinen Tisch zurück. Ich war von Grund auf verändert.
Jacqueline tätschelte mir das Bein und warf mir ein warmes Lächeln zu. Die übrigen Femmes – männliche wie weibliche – betrachteten mich mit neuen Augen. Während die Welt versuchte, uns fertigzumachen, versuchten sie auf jede erdenkliche Weise, uns unsere Zärtlichkeit zu erhalten. Es war meine Fähigkeit zur Zärtlichkeit, die sie gerade gesehen hatten. Die anderen Butches mußten mich jetzt unter sexuellen Gesichtspunkten sehen, als Rivalin. Selbst Al betrachtete mich mit anderen Augen.
So schmerzhaft dieses Ritual auch gewesen war, es war ein Initiationsritus, nicht mehr und nicht weniger. Ich fühlte mich keineswegs großspurig. Es hatte mich gelehrt, daß Bescheidenheit angesagt war, wenn ich bei einer Frau die Macht der Leidenschaft entfesseln wollte.
Stark gegenüber meinen Feinden, sanft zu denen, die ich liebte und respektierte – das wollte ich sein. Bald würde ich diese Eigenschaften unter Beweis stellen müssen. Aber fürs erste war ich glücklich.
Am Freitag darauf herrschte ausgelassene Stimmung in der Bar. Alle tanzten und lachten. Verstohlen hielt ich nach Yvette Ausschau. Jacqueline mußte es mitbekommen haben, denn sie erzählte mir, daß Yvettes Zuhälter ihr keine feste Beziehung zu einer Butch erlaubte. Mein Magen zog sich vor Wut zusammen. Ich hielt trotzdem nach ihr Ausschau. Schließlich kann ein Zuhälter auch nicht alles wissen, oder?
Als das rote Licht über der Theke aufleuchtete, verzog ich mich auf die Frauentoilette und versteckte mich. Die Zeit verstrich. Ich hörte dumpfe Schläge und mehrere Schreie. Dann war es ruhig.
Ich warf vorsichtig einen Blick hinaus. Alle Butches und Drag Queens standen in einer Reihe an der Wand, die Hände auf den Rücken gefesselt. Einige der Femmes, die den Bullen als Prostituierte bekannt waren, wurden geschlagen und von den anderen getrennt. Inzwischen wußte ich, daß sie den Bullen mindestens einen blasen mußten, damit sie heute nacht noch aus dem Gefängnis kamen.
Ein Bulle entdeckte mich und packte mich am Kragen. Er legte mir Handschellen an und stieß mich durch den Raum. Ich suchte Al, aber sie hatten schon angefangen, die Leute nach draußen in die Transporter zu schaffen.
Jacqueline rannte auf mich zu. „Paßt aufeinander auf“, sagte sie. „Sei vorsichtig, Schätzchen.“ Ich nickte. Meine Handgelenke waren so stramm gefesselt, daß sie weh taten. Ich hatte Angst. Ich hoffte, Al und ich würden aufeinander aufpassen.
Als sie mich erwischten, war der Transporter mit den Butches schon voll. Ich fuhr in einem Wagen mit Mona und den anderen Drag Queens. Ich war froh darüber. Mona küßte mich auf die Wange und sagte: „Hab keine Angst! Es wird schon nicht so schlimm werden.“ Wenn das stimmte, fragte ich mich allerdings, warum die Drag Queens so verängstigt aussahen, wie ich mich fühlte.
Im Hof des Polizeireviers sah ich Yvette und Monique, die schon bei einer Straßenrazzia gefaßt worden waren. Yvette lächelte mir ermutigend zu, ich zwinkerte zurück. Ein Bulle stieß mich vorwärts. Ich kam in den Knast. Sie holten Al gerade aus der Zelle, als sie mich hineinbrachten. Ich rief ihren Namen. Sie schien mich nicht zu hören.
Die Bullen schlossen mich ein. Wenigstens hatten sie mir die Handschellen abgenommen. Ich rauchte eine Zigarette. Was würde passieren? Durch ein vergittertes Fenster sah ich, wie ein paar Samstagabend-Butches eingebuchtet wurden. Sie hatten Butch Al in die entgegengesetzte Richtung gebracht.
Die Tunten waren in der großen Zelle nebenan. Mona und ich lächelten einander zu. Dann kamen drei Bullen, um sie zu holen. Sie wich zurück. Sie hatte Tränen in den Augen. Doch dann ging sie lieber freiwillig mit, als sich hinausschleifen zu lassen.
Ich wartete. Was passierte mit ihr?
Etwa eine Stunde später brachten die Bullen Mona zurück. Es brach mir das Herz, als ich sie sah. Zwei Bullen schleiften sie herbei. Ihr Haar war naß und klebte ihr im Gesicht. Ihr Make-up war verschmiert. Blut lief ihr hinten an den Strümpfen herunter. Sie warfen sie in die Nachbarzelle. Sie blieb liegen, wo sie hingefallen war. Ich konnte kaum atmen. Ich flüsterte ihr zu: „Schätzchen, willst du ’ne Zigarette? Willst du eine rauchen? Komm … komm rüber zu mir.“
Sie wirkte benommen, mochte sich nicht bewegen. Schließlich kroch sie zu mir ans Gitter. Ich zündete eine Zigarette an und gab sie ihr. Während sie rauchte, schob ich einen Arm durch die Gitterstäbe und berührte sanft ihr Haar; dann ließ ich meine Hand auf ihrer Schulter liegen. Ich sprach leise mit ihr. Lange Zeit schien sie mich nicht zu hören. Endlich lehnte sie ihre Stirn gegen die Gitterstäbe, und ich legte beide Arme um sie.
„Es verändert dich“, sagte sie. „Was sie dir hier drin antun, die Scheiße, die du dir jeden Tag auf der Straße gefallen lassen mußt – das verändert dich, weißt du?“ Ich sah sie nur an. Sie lächelte. „Ich weiß nicht mehr, ob ich so süß war wie du, als ich in deinem Alter war.“ Ihr Lächeln erlosch. „Ich will nicht sehen, wie du dich veränderst. Ich will dich nicht sehen, wenn du erst hart geworden bist.“
Irgendwie verstand ich das. Doch ich machte mir ernsthafte Sorgen um Al, und ich wußte auch nicht, was mit mir passieren würde. Das hier klang wie eine philosophische Diskussion. Ich wußte ja nicht mal, ob ich das Alter, in dem mich die Erfahrung verändern würde, überhaupt erreichte. Ich wollte nur diese Nacht überleben. Ich wollte wissen, wo Al war.
Die Bullen kamen und sagten zu Mona, sie wäre auf Kaution raus. „Ich sehe bestimmt schrecklich aus“, sagte sie.
„Du siehst schön aus“, sagte ich zu ihr, und ich meinte es auch. Ich sah ihr ein letztes Mal ins Gesicht und fragte mich, ob die Männer, denen sie sich hingab, sie so liebten wie ich.
„Du bist wirklich eine süße Butch“, sagte Mona, bevor sie ging. Das tat gut.
Unmittelbar darauf schleiften die Bullen Al herein. Sie hatten sie übel zugerichtet. Ihr Hemd war halb offen, ihr Brustbinder war weg, ihre großen Brüste waren entblößt. Ihr Reißverschluß war heruntergezogen. Ihr Haar war naß. Blut lief ihr aus Mund und Nase. Sie sah benommen aus.
Die Bullen stießen sie in die Zelle. Dann kamen sie auf mich zu. Ich wich zurück, bis ich gegen die Gitterstäbe stieß. Sie blieben stehen und grinsten. Ein Bulle griff sich an die Hose. Der andere trat auf mich zu, schob die Hände unter meine Achseln, hob mich ein paar Zentimeter hoch und knallte mich gegen das Gitter. Er drückte seine Daumen tief in meine Brüste und rammte mir sein Knie zwischen die Beine.
„Bald wirst du so groß sein – so groß, daß deine Füße bis zum Boden reichen. Dann werden wir uns um dich kümmern wie um deine Busenfreundin Allison“, drohte er mir. Dann gingen sie.
Allison.
Ich griff nach meinen Zigaretten und dem Zippo-Feuerzeug. Dann schlüpfte ich zu Al hinüber, die reglos dalag. Ich zitterte. „Al“, sagte ich und streckte ihr die Packung hin. Sie sah nicht auf. Ich legte ihr die Hand auf den Arm. Sie wehrte sie ab. Sie ließ den Kopf hängen. Ich sah auf ihren breiten Rücken, ihre gebeugten Schultern. Ich berührte sie, ohne darüber nachzudenken. Sie ließ es zu. Ich strich ihr über den Rücken. Sie fing an zu zittern. Ich legte die Arme um sie. Ihr Körper gab nach. Sie war verletzt. In diesem Moment hatten wir unsere Rollen getauscht. Ich fühlte mich stark. Meine Arme boten Trost.
„Hey, seht euch das mal an!“ brüllte ein Bulle den anderen zu. „Allison hat sich ’ne Baby Butch angelacht. Sie sehen aus wie zwei Schwuchteln.“ Die Bullen lachten.
Meine Arme umfaßten Al enger, als könnte ich damit die höhnischen Reden der Bullen abwehren und Al behüten. Ich hatte ihre Stärke immer bewundert. Jetzt spürte ich die Muskeln ihres Rückens, ihrer Schultern und Arme. Ich erlebte die Stärke dieser Stone Butch, selbst jetzt, als sie erschöpft in meinen Armen lag.
Die Bullen verkündeten, daß Jacqueline die Kaution für uns hinterlegt hätte und wir gehen könnten. Die letzten Worte, die ich von ihnen hörte, waren: „Du kommst wieder. Denk dran, was wir mit deiner Freundin gemacht haben.“
Was hatten sie mit ihr gemacht? Jacqueline blickte von Al zu mir und fragte dasselbe. Ich hatte keine Antwort. Al gab keine. Im Auto hielt Jacqueline Al so in den Armen, daß es auf den ersten Blick aussah, als würde Al sie trösten. Ich saß still auf dem Vordersitz und hätte auch Trost gebrauchen können. Den Schwulen, der uns fuhr, kannte ich nicht. „Mit dir alles okay?“ fragte er mich.
„Klar“, antwortete ich, ohne nachzudenken.
Er setzte uns bei Al und Jacqueline daheim ab. Al aß die Eier, als würde sie sie gar nicht schmecken. Sie sagte kein Wort. Jacqueline sah nervös von Al zu mir und wieder zu Al. Ich aß und machte mich dann an den Abwasch. Al ging ins Bad.
„Da wird sie jetzt erst mal bleiben“, sagte Jacqueline.
Woher wußte sie das? War das schon häufiger vorgekommen? Ich trocknete das Geschirr ab. Jacqueline wandte sich mir zu. „Ist mir dir alles okay?“ fragte sie.
„Jaja“, log ich.
Sie kam näher. „Haben sie dir weh getan, Baby?“
„Nein“, log ich. Ich errichtete eine Mauer in mir. Sie schützte mich nicht, und doch sah ich mir dabei zu, als wären es nicht meine eigenen Hände, die Stein auf Stein schichteten. Ich wandte mich von Jacqueline ab, um zu signalisieren, daß ich sie etwas Wichtiges fragen mußte. „Jacqueline, bin ich stark genug?“
Sie trat von hinten auf mich zu, faßte mich bei den Schultern und drehte mich zu sich um. Sie zog mein Gesicht an ihre Wange. „Wer ist das schon, Schätzchen?“ flüsterte sie. „Niemand ist stark genug. Du versuchst eben, so gut wie möglich durchzukommen. Butches wie Al und du haben keine Wahl. Es wird euch immer wieder passieren. Ihr müßt nur versuchen, es zu überleben.“
Eine weitere Frage brannte mir schon auf den Lippen. „Al will, daß ich stark und hart bin. Doch du und Mona und die anderen Femmes, ihr ermahnt mich ständig, ich soll sanft und zärtlich bleiben. Wie kann ich denn beides sein?“
Jacqueline berührte meine Wange. „Al hat eigentlich recht. Es ist wohl ziemlich egoistisch von uns Mädchen. Wir wollen, daß ihr stark seid, damit ihr die ganze Scheiße überlebt, der ihr ausgesetzt seid. Wir lieben eure Stärke. Aber die Herzen der Butches werden mit zertreten. Und ich glaube, wir wünschen uns einfach manchmal, es gäbe einen Weg, eure Herzen zu schützen und dennoch für uns ganz sanft zu bleiben, verstehst du?“
Ich verstand es nicht. Nicht so ganz. „Ist Al denn sanft?“
Jacquelines Gesicht verschloß sich. Die Frage drohte etwas zu enthüllen, das Butch Als Rüstung schwächen konnte. Dann sah Jacqueline, daß ich die Antwort wirklich brauchte.
„Sie ist sehr verletzt worden. Es ist schwer für Al, alles zu sagen, was sie fühlt. Aber – ja. Ich glaube, ich könnte nicht mit ihr zusammensein, wenn sie nicht sanft zu mir wäre.“
Wir hörten, wie Al die Badezimmertür aufschloß. Jacqueline warf mir einen entschuldigenden Blick zu. Ich gab ihr ein Zeichen, daß ich sie verstand. Sie ging aus der Küche. Ich war allein. Es gab vieles, worüber ich nachdenken mußte.
Ich legte mich aufs Sofa. Nach einer Weile brachte Jacqueline mir mein Bettzeug. Sie setzte sich neben mich und streichelte mein Gesicht. Es tat mir gut. Sie sah mich lange mit gequältem Gesichtsausdruck an. Ich wußte nicht, warum, aber es machte mir angst. Ich glaube, sie sah, was mir bevorstand, und ich sah es nicht.
„Alles in Ordnung, Schätzchen?“ fragte sie.
Ich lächelte. „Ja.“
„Brauchst du irgendwas?“
Ja. Ich brauchte eine Femme, die mich so liebte, wie Jackie Al liebte. Und ich wollte, daß Al mir genau erzählte, was sie beim nächsten Mal mit mir machen würden und wie ich es überleben konnte. Und ich brauchte Jacquelines Brust. Fast im gleichen Moment, als mir dieser Gedanke durch den Kopf ging, legte sie meine Hand auf ihre Brust. Sie drehte den Kopf in Richtung Schlafzimmer, als ob sie nach Al horchte. „Bist du sicher, daß alles okay ist?“ fragte sie ein letztes Mal.
„Ja, alles okay“, sagte ich.
Ihr Gesicht wurde weich. Sie berührte meine Wange und nahm meine Hand von ihrer Brust. „Du bist eine echte Butch“, sagte sie und schüttelte den Kopf. Ich war stolz, als sie das sagte.
Am nächsten Morgen wachte ich früh auf und verließ leise das Haus.
Butch Al und Jacqueline kamen danach nicht mehr in die Bar. Ihr Telefon war abgemeldet. Ich hörte verschiedene Gerüchte, was mit Al passiert war. Ich zog es vor, keines davon zu glauben.
Der Sommer verging. Es war Zeit für das erste Jahr auf der High-School. Als der Herbst kam, fuhr ich an den Wochenenden nicht mehr nach Niagara Falls. Kurz vor Weihnachten ging ich noch einmal zu Tifka’s, um die alte Clique zu sehen. Yvette war nicht da. Ich hörte, daß sie allein in einer Gasse gestorben war, mit aufgeschlitzter Kehle. Mona hatte eine Überdosis genommen, absichtlich. Al hatte niemand gesehen. Jackie ging wieder auf den Strich.
Ich kämpfte gegen einen bitterkalten Wind an, als ich die Bars des Rotlichtbezirks abklapperte. Ich hörte ihr Lachen, bevor ich sie sah. Da stand Jacqueline im Schatten einer Gasse und lachte ironisch mit den anderen Huren. Und sah mich.
Sie kam auf mich zu und lächelte. Ich sah den Heroinglanz in ihren Augen. Sie war dünn, sehr dünn. Sie blieb vor mir stehen. Sie öffnete meinen Mantelkragen, um mir die Krawatte zurechtzurücken. Dann stellte sie den Kragen hoch, zum Schutz gegen die Kälte. Ich stand da, die Hände tief in die Manteltaschen vergraben. Ich fühlte mich wie in der Nacht, in der ich mit Yvette getanzt hatte. Viele Fragen und Antworten gingen mit unseren Blicken hin und her. Es ging alles sehr schnell. Ich sah, wie die Tränen aus ihren Augen quollen, und sie wandte sich zum Gehen.
Als ich meine Stimme wiederfand, war Jacqueline bereits fort.
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Der Zettel segelte über meinen Tisch und glitt auf den Fußboden. Ich behielt Mrs. Rotondo im Auge, während ich mich bückte und die Botschaft aufhob. Glücklicherweise schien sie nichts zu bemerken.
ACHTUNG!! Meine Eltern wollen wissen, warum Deine Eltern dauernd bei uns anrufen und nach Dir fragen. Ich kann Dich nicht länger decken. BITTE VERZEIH MIR!! In Liebe bis in alle Ewigkeit – Deine Barbara.
Ich blickte hoch und fing Barbaras Blick auf. Sie rang die Hände und machte ein um Verzeihung heischendes Gesicht. Ich lächelte und nickte. Ich tat, als würde ich eine Zigarette rauchen. Barbara nickte und lächelte. Mir wurde warm ums Herz. Barbara – neben der ich zwei Jahre gesessen hatte. Barbara – die zu mir gesagt hatte, wenn ich ein Mann wäre, würde sie sich in mich verlieben.
Wir trafen uns auf der Mädchentoilette. Zwei Jüngere, die ebenfalls rauchten, hatten schon die Fenster aufgemacht. „Wo bist du nur in letzter Zeit gewesen?“ wollte Barbara wissen.
„Hab wie verrückt gearbeitet. Ich muß von zu Hause weg, sonst sterbe ich. Sie führen sich auf, als haßten sie mich wie die Pest.“ Ich nahm einen tiefen Zug von meiner Zigarette. „Ich glaube, sie wünschten, ich wäre nie geboren worden.“
„Sag nicht so was“, erwiderte Barbara und blickte sich um, als hätte sie Angst, daß uns jemand zuhören könnte. Sie zog an ihrer Zigarette, inhalierte tief und blies den Rauch kringelförmig aus. „Ist das nicht klasse? Es heißt French Curl. Hat Kevin mir beigebracht.“
„O Scheiße!“ zischte jemand.
„Also, Mädels, stellt euch auf!“ Das war Mrs. Antoinette, der Schrecken der nikotinhungrigen Mädchen. Wir sollten uns aufstellen, damit sie unseren Atem prüfen konnte. Da sie mich nicht gesehen hatte, riskierte ich es, zur Tür hinauszuschlüpfen. Die Gänge waren verlassen. In wenigen Minuten würde eine nervtötende Glocke klingeln, und die Gänge wären vollgestopft mit Schülerinnen und Schülern, die ihre Taschen vor sich hertrugen wie Schilde in einer Schlacht.
Ich glaube, der Sommer hatte mich verändert. Sonst hätte ich nie die eisernen Fesseln der Gewohnheit abgestreift und das Gebäude während der Unterrichtszeit verlassen. Ich wollte so schnell ich konnte um den Sportplatz rennen, um das klebrige Gefühl des Eingesperrtseins rauszuschwitzen. Aber ein paar Jungs spielten mitten auf dem Feld Football, und eine Gruppe von Mädchen übte Cheerleading. Also kletterte ich die Tribüne hinauf und ging bis zum anderen Ende.
Ein Rotschwanzbussard segelte über den Bäumen, ein ungewöhnlicher Anblick in der Stadt. Ich konnte nirgends hingehen, hatte nichts zu tun. Was in meinem Leben auch passieren würde, ich wollte, daß es bald geschah. Ich hätte gern Quarterback in der Footballmannschaft gespielt. Ich stellte mir das Gewicht der Ausrüstung vor und wie das Trikot eng an der Brust anliegen würde. Ich berührte meine großen Brüste mit der Hand.
Mir fiel auf, daß fünf der acht Cheerleader blond waren. Ich hätte nicht gedacht, daß es in der gesamten Schule fünf blonde Mädchen gab. Fast die Hälfte der Schülerinnen und Schüler war weiß, jüdisch und aus der Mittelschicht. Die andere Hälfte war schwarz und stammte aus Arbeiterfamilien. Ich war jüdisch und kam aus einer Arbeiterfamilie. Damit fiel ich in einen einsamen sozialen Abgrund. Die wenigen Freundinnen, die ich in der Schule hatte, kamen aus Familien, die jeden Pfennig zweimal umdrehen mußten.
Ich sah zu, wie die Cheerleader vom Platz gingen. Sie schauten zurück, um zu sehen, ob die Jungs ihnen nachblickten.
Das Footballtraining war zu Ende. Einige der weißen Jungs blieben auf dem Platz. Einer von ihnen, Bobby, nickte mit dem Kopf in meine Richtung. Ich stand auf, um zu gehen.
„Wo willst’n hin, Jess?“ spottete er und kam auf mich zu. Mehrere Jungs kamen hinterher.
Ich lief los, über die Ränge hinweg.
„Wo willst’n hin, Lesbie? Äh, ich meine Jessie.“ Sie verfolgten mich, und ich legte einen Zahn zu. Bobby machte einem Jungen ein Zeichen, mir den Weg abzuschneiden. Er und die anderen kamen direkt auf mich zu. Ich sprang über die Bänke und rannte auf das Sportfeld. Bobby fiel über mich her, und ich knallte der Länge nach hin. Es ging alles sehr schnell. Ich konnte nichts dagegen tun.
„Was ’n los, Jess? Magst du uns etwa nicht?“ Bobby schob mir die Hand unter das Kleid, zwischen meine Beine. Ich boxte und trat um mich, aber er und die anderen drückten mich runter. „Ich hab gesehen, wie du uns beobachtet hast. Na los, du willst es doch, oder, Jessie?“
Ich biß in die Hand an meinem Mund. „Aua, Scheißmist!“ Der Junge schrie auf und schlug mir mit dem Handrücken ins Gesicht. Ich schmeckte mein Blut. Ihre Gesichter jagten mir Angst ein. Diese Jungs waren keine Kinder mehr.
Ich schlug mit den Fäusten auf Bobbys Brust ein. Ich muß wohl seine Ausrüstung getroffen haben, denn ich schlug mir die Knöchel auf, und Bobby lachte nur. Er drückte mir den Unterarm gegen die Kehle. Einer trat mir mit seinen Stollen auf den Knöchel. Ich kämpfte und verfluchte sie allesamt. Sie lachten, als wäre das alles ein Spiel.
Bobby schnürte sich die Trikothose auf und rammte mir seinen Schwanz in die Scheide. Der Schmerz kroch in meinem Bauch hoch und versetzte mich in Todesangst. Es fühlte sich an, als sei tief in mir etwas zerrissen. Ich zählte die Angreifer. Es waren sechs.
Am wütendsten war ich auf Bill Turley. Alle wußten, daß er sich für die Mannschaft beworben hatte, weil die anderen ihn Schwuli nannten. Er wühlte mit seinen Stollen im Gras und wartete darauf, daß er drankam.
Ein Teil des Alptraums war die Unabänderlichkeit des Ganzen. Ich konnte nichts dagegen tun; ich konnte nicht entkommen, also tat ich so, als geschähe es gar nicht. Ich betrachtete den Himmel. Wie blaß und friedlich er aussah. Ich stellte mir vor, er wäre das Meer und die Wolken wären Wellen mit weißen Schaumkronen.
Ein anderer ächzte und stöhnte jetzt auf mir herum. Ich erkannte ihn – Jeffrey Darling, ein arroganter Schlägertyp. Jeffrey packte mich am Haar und riß mir so heftig den Kopf zurück, daß ich nach Luft schnappte. Er wollte nicht zulassen, daß ich mich ausklinkte. Er fickte mich heftiger. „Du dreckige jüdische Schlampe, du verfluchter Bulldagger.“ Eine Liste aller meiner Verbrechen. Ich war schuldig im Sinne der Anklage.
Sieht so der Sex zwischen Männern und Frauen aus? Ich wußte, das hatte mit Liebe machen nichts zu tun – eher mit Haß. Aber war diese mechanische Bewegung etwa der Gegenstand all der dreckigen Witze und schmutzigen Zeitschriften und geheimnisvollen Tuscheleien? Das sollte alles sein?
Ich kicherte, nicht weil es lustig war, was da vor sich ging, sondern weil mir das ganze Getue um Sex plötzlich so lächerlich vorkam. Jeffrey zog seinen Schwanz aus mir raus und ohrfeigte mich, wieder und wieder. „Das ist nicht lustig!“ schrie er. „Das ist nicht lustig, du verrücktes Miststück!“
Ich hörte eine Pfeife. „Scheiße, der Trainer!“ rief Frank Humphrey warnend. Jeffrey stemmte sich hoch und machte hastig seine Hose zu. Die Jungs schlenderten in Richtung Sporthalle davon.
Ich war allein auf dem Platz. Der Trainer stand ein Stück von mir entfernt und starrte zu mir herüber. Ich schwankte, als ich versuchte, aufzustehen. Mein Rock hatte Grasflecken, und Blut und schleimiges Zeug liefen mir die Beine runter.
„Mach, daß du hier wegkommst, du kleine Hure!“ befahl Trainer Moriarty.
Ich mußte den langen Weg nach Hause zu Fuß gehen, weil meine Buskarte so spät nicht mehr gültig war. Ich hatte nicht das Gefühl, daß das noch mein eigenes Leben war. Ich kam mir vor wie in einem Film. Ein 57er Chevy voller Jungs bremste neben mir. „Bis morgen, Lesbe“, hörte ich Bobby brüllen, als sie vorbeifuhren. War ich jetzt ihr Eigentum? Wenn ich diesmal nicht stark genug gewesen war, sie aufzuhalten, konnte ich dann überhaupt darauf hoffen, mich je verteidigen zu können?
Kaum war ich zu Hause, rannte ich ins Bad und kotzte in die Kloschüssel. Zwischen den Beinen fühlte ich mich wie Hackfleisch, und der stechende Schmerz machte mir angst. Ich ließ mir ein Schaumbad ein und blieb lange, lange darin liegen. Ich bat meine Schwester, unseren Eltern zu sagen, daß ich krank sei, und ging ins Bett. Als ich aufwachte, war es Zeit für die Schule. Aber ich konnte nicht.
„Los!“ Meine Mutter warf mich aus dem Bett. Mein ganzer Körper tat mir weh. Ich versuchte, nicht an die Schmerzen zwischen meinen Beinen zu denken. Meine Eltern schienen meine aufgeplatzte Lippe und mein Humpeln nicht zu bemerken. Ich bewegte mich wie durch Sirup. Ich konnte nicht klar denken. „Beeil dich!“ schimpfte meine Mutter. „Du kommst zu spät zur Schule.“
Ich verpaßte absichtlich den Bus, damit ich zur Schule laufen konnte. Wenn ich zu spät kam, mußte ich den anderen zumindest nicht vor dem Klingeln gegenübertreten. Auf dem Weg vergaß ich alles. Der Wind flüsterte in den Bäumen. Hunde bellten, Vögel zwitscherten. Ich ging langsam, als hätte ich kein bestimmtes Ziel.
Dann erhob sich das Schulgebäude drohend wie ein mittelalterliches Schloß vor mir, und die Erinnerungen kamen in einer widerwärtigen Welle zurückgeflutet. Ob die anderen wohl schon Bescheid wußten? Als ich nach der ersten Stunde durch den Gang ging, schloß ich aus ihrem Tuscheln hinter vorgehaltener Hand, daß sie es wußten. Ich dachte, vielleicht bilde ich es mir ein, bis eines der Mädchen rief: „He, Jess, Bobby und Jeffrey suchen dich!“ Alle lachten. Ich hatte das Gefühl, es wäre alles meine Schuld.
Mit dem Klingeln schlich ich mich in die Geschichtsstunde. Mrs. Duncan sprach die gefürchteten Sätze: „Also, Kinder, nehmt euch ein Blatt Papier und numeriert von eins bis zehn. Dies ist ein Test. Frage Nummer eins: In welchem Jahr wurde die Magna Charta unterschrieben?“
Ich versuchte, mich zu erinnern, ob sie uns jemals beigebracht hatte, was die Magna Charta überhaupt war. Zehn Fragen schwebten in einem Vakuum. Ich kaute auf meinem Bleistift herum und starrte das leere Blatt Papier vor mir an. Ich hob die Hand und bat darum, auf die Toilette gehen zu dürfen. „Du kannst gehen, wenn du mit dem Test fertig bist.“
„Ähm, bitte, Mrs. Duncan. Es ist ein Notfall.“
„Ja“, sagte Kevin Manley. „Sie muß Bobby suchen gehen.“
Als ich in heller Panik aus dem Klassenzimmer stürzte, hörte ich das Gelächter hinter mir. Ich rannte durch die Gänge und suchte jemanden, der mir helfen konnte. Ich mußte mit jemandem reden. Ich rannte zur Cafeteria hoch und wartete auf meine Freundin Karla aus dem Sportkurs. Als es klingelte, entdeckte ich Karla in der Menge, die durch die Doppeltüren strömte.
„Karla!“ schrie ich. „Ich muß mit dir reden.“
„Was ist los?“
„Ich muß mit dir reden.“ Wir kämpften uns zur Schlange an der Essensausgabe durch.
„Was gibt’s denn heute?“ fragte Karla. „Kannst du was sehen?“
„Scheiße mit Reiße.“
„Lecker! Genau wie gestern.“
„Und vorgestern.“ Es war so erlösend, zusammen zu lachen.
Wir nahmen uns Tabletts und zuckten zusammen, als die Schulköchin uns eine Portion von etwas Undefinierbarem auf die Teller klatschte. Wir nahmen uns Milch und bezahlten unser Essen.
„Können wir reden?“ fragte ich sie.
„Klar“, sagte sie. „Gleich nach dem Essen?“
„Warum nicht sofort?“
Karla sah mich verblüfft an.
„Kann ich neben dir sitzen?“ drängte ich.
Sie starrte mich nur weiter an. „Mädchen, bist du von allen baumwollpflückenden Geistern verlassen? Hier gibt’s eine Sitzordnung. Ist dir das etwa noch nicht aufgefallen?“
Als sie es sagte, wurde mir plötzlich klar, daß sie recht hatte. Ich sah mich im Eßsaal um, als hätte ich ihn noch nie wirklich wahrgenommen. Die Rassentrennung verlief genau in der Mitte der Cafeteria.
„Na, kapiert, Schätzchen? Wo hattest du eigentlich deine Augen?“
„Kann ich trotzdem neben dir sitzen?“
Karla warf den Kopf zurück und sah mich scharf an. „Dies ist ein freies Land“, sagte sie, drehte sich auf dem Absatz um und ging.