Kitabı oku: «Markus Blume führt dich durch die Zeit», sayfa 2
In diesem Moment sprang der Kerl auf. Ich fürchtete, dass er sich mit einem Wutschrei auf mich werfen würde. Aber nein, was tat er? Er nahm die Zeitung, zerriss sie in Fetzen und schmiss sein Werk auf den Boden, um es mit seinen großen Füßen zu bearbeiten. Dann rannte er ans andere Ende des Abteils. Beim nächsten Bahnhof verließ er den Zug. Was es doch für Menschen gibt.
In der Residenzstraße sah ich plötzlich (Wunder gibt’s doch noch, ich habe meinen Bus erwischt!) war alles voll, Leute mit Paketen und Päckchen zogen durch die Straßen, ja, bald war Weihnachten.
Zu Hause zog ich mich erst einmal aus meinen Körperverpackungen, dann kochte ich mir eine Kanne Tee, Friesentee, und machte mir ein paar belegte Brote. Eigentlich wollte ich noch ein bisschen lesen, hatte aber doch keine richtige Einstellung zur Literatur an diesem Tag. Nachdem ich meine Abendpflege erledigt hatte, schlief ich schnell ein.
*
Am nächsten Tag, dem 22. 12. 1991, stand ich gegen sechs Uhr auf und schaltete schlaftrunken das Radio ein, meinen Lieblingssender, RIAS. Laut Wetterbericht sollte es ein schöner Wintertag werden. Ich freute mich. Der Tag konnte kommen! In mir war ein gutes Gefühl, alles lief prima. Ich hatte nichts vergessen und stand mit allem, was ich für den Tag brauchte, vor meiner Wohnungstür. Im Haus roch es nach Zimt und Honigkuchen. Im zweiten Stock öffnete Erika die Tür.
„Markus, könnten Sie mir heute Abend vielleicht ein paar Sachen mitbringen?“
„Aber sicher doch.“ Ich nahm den Einkaufszettel. Erika wollte mir gleich Geld geben.
„Nein, lassen Sie mal, das können wir doch heute Abend abrechnen …“
Ich machte mich auf den Weg nach Pankow. Auf der Straße überlegte ich: Wie kommst du jetzt am besten zur Wandlitzer Allee 32? Es sind von hier nicht mehr als acht Kilometer, aber die Verbindung mit der BVG ist nicht sehr gut. Ich entschloss mich, ein Taxi zu nehmen. Das konnte mit der Spesenabrechnung eingereicht werden.
Ich ging zur nächsten Ecke, winkte mir ein Taxi heran und setzte mich auf den Beifahrersitz. Der Taxifahrer, ein junger Mann mit Zickenbart, begrüßte mich überschwänglich, als wären wir alte Freunde.
Die Fahrt war schwierig. Überall war die Stadtreinigung dabei, den Schnee in den Griff zu bekommen. Etwas später als ich gedacht hatte, erreichten wir das Ziel.
Ich stieg aus und zahlte im Stehen. Nachdem das Taxi weg war, schaute ich mich um. Ich befand mich in einer Vorortstraße. Die Häuser waren groß, dunkel und wirkten irgendwie, als sei die Zeit stehengeblieben. Ein Großteil von ihnen schien leer zu stehen. Mir gegenüber lag das Grundstück Nr. 32. Der schmiedeeiserne Zaun, der ein großes Anwesen einschloss, war an einigen Stellen brüchig, trotzdem ahnte man noch seine alte Pracht. Hinter dem Zaun standen zwei große Tannen, auf ihren Ästen lag Schnee. Sonnenstrahlen glitzerten darauf.
Beim Betreten des Grundstücks verfing ich mich in einer Rosenranke; die versteckt unter einer weisen Wolke aus Schnee lag, ich brauchte einige Minuten, um mich zu befreien. Alles lag unter einem halben Meter Schnee. Ich versuchte einen Rundgang über das Grundstück. Dabei arbeitete ich Punkte auf meiner Liste ab: Baumbestand, Erschließung, Nebengebäude, eventuelle Altlasten, Abwassergruben lagen unter Schnee verborgen, Zustand der Zäune und Mauern … Gott sei Dank, das hatte ich geschafft!
Ich stieg die flache Außentreppe empor und stand vor dem alten Eingang. Nachdem ich den Schlüssel ins Schloss gesteckt hatte, versuchte ich die Tür zu öffnen. Sie klemmte. Als ich mich dagegen presste, ging es auf einmal leicht.
Ich stand in einem halbdunklen Raum und ließ meine Blicke schweifen. Die Scheiben waren durch den Frost mit Winterrosen verziert – ein schöner Anblick. Nachdem ich mich etwas gesammelt hatte, schloss ich die Haustür hinter mir, nahm meine Taschenlampe und suchte den Keller. Meist liegt er hinter der Küche, richtig, ich stand vor der Kellertür! Bei meinen Recherchen hatte ich einen eigenen Bearbeitungsstil entwickelt: Ich durchsuchte erst immer den Keller auf Feuchtigkeit und Schimmel, nahm dann die Wände sorgsam unter die Lupe und stieg schließlich zu den Speichern hinauf. Dabei erledigte ich meine Strichliste, ging mechanisch Raum für Raum ab.
Der Keller war kalt und dunkel, aber das war ich gewöhnt. Ich leuchtete die Wände mit meiner Taschenlampe ab und fand alles so weit in Ordnung. Nachdem der Keller fertig war, kümmerte ich mich um das Dachgeschoss. Das Treppenhaus lag im Halbschatten; mit meiner Taschenlampe leuchtete ich mir den Weg nach oben. Überall waren Spinnennetze, aber sonst war alles, was ich bis jetzt gesehen hatte, in einem erstaunlich guten Zustand.
Oben angekommen, prüfte ich die Sparren des Dachstuhls. Kein Befall vom gemeinen Holzwurm vorhanden! Komisch, so etwas hatte ich noch nicht erlebt, nicht der geringste Befall. Ich machte ein großes Kreuz auf meiner Liste.
Als ich gerade mit den Zimmern im Obergeschoss anfangen wollte, sah ich einen Lichtschein aus einem Türspalt hervorschimmern. Dazu hörte ich leises Summen. Verdutzt drehte ich den Kopf. Sollte die Sonne schon eine solche Kraft haben? Das konnte zu dieser Jahreszeit eigentlich nicht sein! Langsam öffnete ich die Tür einen Spalt weit. Was ich sah, verschlug mir den Atem. Ich schob meine Hände an den Kopf: „Nee, Fieber haste nicht, alles in Ordnung.“ Ich schlug meine Augen wieder auf.
Ein großer Kerzenständer mit neun Kerzen brannte hell und klar mitten im Raum. Auf einem Plüschsessel vor dem Fenster saß ein Mädchen von vielleicht zehn Jahren. Es spielte mit ihrer Puppe, dabei summte es leise ein Lied vor sich hin. Sie trug ein weißes Rüschenkleid mit Spitzen an den Ärmeln. Ihre roten Haare waren zu Zöpfen geflochten; an ihren Enden hingen weiße Schleifen. Die Schuhe glänzten dunkelrot und waren bis eine Handbreit über den Knöcheln geschnürt.
Plötzlich sprang sie vom Sessel auf und rannte auf mich zu. In der letzten Sekunde drehte sie sich jedoch wieder in Richtung Stuhl und ließ sich fallen wie ein Stein.
Ich hörte, wie sie sang – ein Kinderlied, wie meine Großmutter es mir oft vorgesungen hat.
„Hallo, du, wo kommst du denn her?“
Das Mädchen schien mich nicht zu hören. Mein Puls raste. Ich betrat das Zimmer und wollte das Kind an der Schulter berühren. Meine Hand griff ins Leere.
Erschrocken wich ich zurück. Das Mädchen war so angezogen wie vor achtzig Jahren, auch die Umgebung schien alt zu sein. Ich konnte keinen vernünftigen Gedanken fassen.
Langsam verließ ich das Zimmer wieder, verschloss die Tür bis auf einen Spalt. Wo war ich bloß gelandet? Auf der Treppe setzte ich mich auf die Stufen. Ich versuchte, meine Sinne in normale Bahnen zu lenken, schaffte es aber nicht. Den Handlauf schon in der Hand, sah ich gegenüber aus einer anderen Tür Licht. Meine Neugierde war größer als meine Furcht.
Meine Trüffelnase wurde wach; vorsichtig öffnete ich die Tür. Im Schaukelstuhl wippend, saß ein Mann von etwa siebzig mit einer Pfeife in der Hand, aus der unentwegt Wölkchen stiegen. Langsam bewegte er sein Bein hin und her, im Rhythmus mit seinem sich hebenden und senkenden Brustkorb.
Auf einmal stieg mir ein Duft von Kaffee und Kuchen in die Nase, der von unten zu kommen schien. Was war das jetzt wieder? Ich ging langsam die Treppe nach unten. Durch eine Glasscheibe sah ich altmodisch gekleidete Menschen in einem Raum, der einer Konditorei ähnelte. Sie saßen an Tischen und tranken Kaffee und Kuchen. Markus, du bist in einer Bäckerei gelandet!
Mein Herz schlug schneller. Ich öffnete die Tür. Niemand drehte sich nach mir um. In der Ecke neben der Tür stand ein Weidenkorb, in ihm schlummerte ein kleiner brauner Hund mit schwarzen Augen. Ich winkte ihm zu, aber auch er konnte mich nicht sehen. Was für eine unglaubliche Geschichte!
Immer wieder kamen Menschen, holten Brot und Stollen, ein reges Treiben. In dem Raum, der etwa vierzig Quadratmeter groß sein mochte, leuchteten überall kleine Sterne. Auf einem Tisch in der Mitte stand ein Adventskranz mit drei brennenden Kerzen. Ich blickte auf den Kranz als stände ich unter einem Narkotikum. Hier ist ja die gleiche Zeit wie bei uns 1991!
Neben mir öffnete sich die Tür. Das Mädchen und der alte Mann von oben kamen herein, gingen an mir vorbei, setzten sich an den einzigen noch freien Tisch und sangen Weihnachtslieder. Der alte Mann spielte auf seiner Mundharmonika. Ein schönes Bild. Ich fühlte mich wohl, Tränen traten aus meinen Augen, rollten meine Wangen entlang, fielen zu Boden und platzten wie Knospen im Frühling. Dabei benetzten sie den Raum und berührten den Weidenkorb unter mir.
„Welcher Frieden auf dieser Gemeinschaft ruht, dachte ich.“
Die Zeit ging dahin; langsam wurde es dunkel. Ich bemerkte es nicht. Beiläufig schaute ich auf meine Uhr: Was, schon Viertel nach Vier? Bin ich schon sechs Stunden hier? Ich konnte es mir nicht erklären. Ich musste mich schleunigst auf den Heimweg machen.
Ich hatte überhaupt nicht bemerkt, dass der kleine Hund mir nachlief. Am Ausgang, für den ich immer noch den Schlüssel hatte, stand er neben mir, schaute hoch und roch an meinen Schuhen. Dabei wedelte er mit dem Schwanz.
Was ist geschehen, Markus, fragte ich mich? Es kann doch nicht sein, dass ein Hund mich erkennt, aber all die anderen nicht? Ich trug den Kleinen zurück in den Verkaufsraum, ging schnell zur Tür und verschloss sie hinter mir. Auf der Straße angekommen, konnte ich links neben dem zweiten Eingang an der Scheibe eine Aufschrift erkennen:
Bäcker und Konditormeister Petach
Meine Erlebnisse – „waren sie real gewesen, oder hatte ich mich überarbeitet und sah nun Gespenster?“
Ich ging zur nächsten Bushaltestelle und stieg ein. Auf dem Weg nach Hause fiel mir der Zettel von Erika in die Hände: Schillerstraße bei Edeka: Brot - Butter - Honig - Flasche Rotwein, lieblich stand auf den Zettel, und: schwarzen Tee besorgen. Diese Dinge kaufte ich schnell ein.
Im Haus angekommen, ging ich gleich zu Erika in den zweiten Stock, um ihr ihre Sachen zu bringen.
„Na, Markus, Sie sehen aber ganz schön abgekämpft aus! Was haben Sie denn den ganzen Tag gemacht, dass Sie so fertig sind?“ Sie zog mich in ihre Wohnung. Im Wohnzimmer neben dem Klavier musste ich mich erst einmal setzen.
„Hier, Markus, trinken Sie erst mal einen Tee, dann werden Ihre Lebensgeister schon wieder erwachen!“ Erika lachte.
Auf dem großen Eichentisch stand ein Bunter Teller mit Pfefferkuchen und ein Weihnachtskranz aus Holz, den Erika sich in den zwanziger Jahren bei einem Winterurlaub im Erzgebirge gekauft hatte. In den vergangenen Jahren hatte ich mich hier oft nach schweren Tagen eingefunden. Ich fühlte mich wohl bei ihr, eigentlich wie früher – daheim. Erika setzte sich mir gegenüber an den Tisch, schaute mich durch ihre starke Brille an. Schon als kleines Kind hatte sie Augengläser (Brille) tragen müssen.
„Markus, etwas stimmt nicht mit Ihnen! Möchten Sie darüber sprechen?“
Ich nickte, zum Sprechen war ich in diesem Moment nicht fähig. Erika war eine Frau, die warten konnte – oh ja, und wie! Es war ruhig im Haus, nur von weitem hörte man ab und zu ein Auto. Durch den Schnee war alles leiser als sonst. Ich versuchte, die Ereignisse in meinem Inneren chronologisch zu ordnen, schaffte es aber nicht. Ich räusperte mich noch einmal. Markus, lass einfach los!
Ich begann ihr alles zu erzählen: von dem Haus, dem Kind, dem Mann, von der Bäckerei, von meinen Tränen und von den vielen Menschen. Zum Schluss vergaß ich natürlich auch nicht den Hund: wie er mich erkannt hatte und alles andere. Nachdem ich fertig war, ging Erika in die Küche und schenkte uns erst einmal einen großen Pott Tee ein.
„Markus, was Sie mir da erzählen, das ist ja eine unglaubliche Geschichte.“
„Ja, aber … Erika glauben Sie mir?“
Sie sah meine flehenden Augen. Ein Lächeln huschte über Ihr Gesicht. „Markus, ja, ich fühle, dass Sie die Wahrheit sagen.“
„Ich möchte wissen, warum der Hund mich erkannt hat. Erika, haben Sie dafür eine Erklärung?“
„Dazu, Markus, fällt mir eine Geschichte ein. Vor langen Jahren war mein Vater mit seinem Bruder in den Bergen. Das Wetter änderte sich schlagartig: Sturm kam auf und die beiden waren den Unbilden der Natur hilflos ausgeliefert. Stunde um Stunde tobte der Sturm durch den Wald. Rennend erreichten Sie ein altes moosbewachsenes Haus. Fenster und Tür waren geschlossen. Beide waren völlig durchnässt und warfen sich gegen die Tür, die sofort aufbrach. Vor Schwäche stürzten sie zu Boden und lagen dort bestimmt einige Stunden. Vater ist dann als erster wach geworden, sein Bruder lag neben ihm, weiß im Gesicht. Vater hörte keinen Atem, er schüttelte ihn, aber er wurde nicht mehr wach. Vater weinte bitterlich, er hatte nicht erwartet, in dieser Stunde seinen Bruder zu verlieren! Auf einmal veränderte sich alles: Die Tür ging auf, zwei Männer kamen auf meinen Vater zu, hoben seinen Bruder empor, legten ihn auf den Eichentisch mitten im Raum und sprachen mit sonderbaren Lauten zueinander. Der eine hob seinen Kopf und flößte ihm einen Trank ein.
Innerhalb weniger Sekunden war Vaters Bruder wieder wach, als wäre nichts geschehen. Seine roten Backen strahlten, wie immer. Die Gestalten aber, die dem Bruder neues Leben eingehaucht hatten, verschwanden im Nebel! Das Zimmer wurde wieder zur Nacht. Nachdem der Sturm sich am Morgen gelegt hat, sind beide wieder wohlbehalten zu Haus angekommen. Beide, Vater und Bruder Gustav, lebten noch viele Jahre in Berlin. Er hat mir dies alles erst an seinem Todestag erzählt.“
„Vielleicht ist es die Magie der Tränen, welche die Menschen schützen und in sie dringen, an das Gute zu glauben?“
„Ja, Markus, deine Tränen, sie haben diesen Hund zu deinem Freund gemacht! Lass nicht los, geh wieder hin! Mach deine Arbeit weiter! Aber erst müssen Sie mir eins versprechen, Markus: Erzählen Sie nur mir Ihre Geschichte. Sonst wird alles umsonst sein.“
*
Am nächsten Tag, dem 23. Dezember, meldete ich mich in der Firma und sagte, dass ich noch einen zweiten Außentermin in Pankow bräuchte, weil das Anwesen unerwartet weitläufig sei. Ich wollte die Akte „Wandlitzer Allee 32“ noch bis zum Heiligen Abend fertig stellen.
Gegen zehn war ich wieder vor Ort. Der Schlüssel passte. Die Tür ging leicht auf. Sie klemmte nicht wie gestern. Alles war still. Ich ging nach oben, um meinen Bericht zu vervollständigen. An der Tür angekommen, wo gestern das Mädchen gespielt hatte, klopfte ich. Niemand antwortete. Mit Herzklopfen öffnete ich die Tür. Ich fand alles leer. So begann ich damit, Zimmer für Zimmer in meinen Protokollen festzuhalten.
Zum Schluss vermaß ich den Verkaufsraum. Auch hier war alles leer – fast alles. In der Ecke, wo gestern das Mädchen mit dem alten Mann gesessen hatte, lag eine weiße Schleife. Ich bückte mich und steckte sie in die Seitentasche meines Mantels. Ich war glücklich, weil ich nun wusste, dass alles, was ich erlebt hatte, vielleicht doch real gewesen war.
So verging der Tag.
Ich wollte auch morgen nicht in die Firma. Ich hatte einfach keine Lust mehr, morgen noch für fünf Stunden ins Büro zu fahren! Ich rief Jansen an und meldete mich krank. Er war stinkig, schwafelte was von der Weihnachtsfeier. Mir doch egal, soll er doch seine blöde Weihnachtsfeier ohne mich machen! Ich hatte keine Lust, mir immer die gleichen Redensarten anzuhören. Der Typ ging mir wirklich auf den Keks.
2
Endlich, der 24. Dezember. Weihnachten war da! Ich lag bis um zwei Uhr mittags im Bett und ließ fünfe gerade sein – das hatte mein Großvater immer gesagt, wenn er seine Seele baumeln lassen wollte. Nachdem ich mich so gegen drei fertig machten wollte, klingelte es an der Tür.
Jochen stand draußen. „He, Markus, hast du vergessen, dass wir dich zum Essen eingeladen haben?“
Ich wurde rot. „Scheiße, Jochen, ich habe es wirklich vergessen!“
„Macht“ ja nichts. Los, altes Haus, rein in die Hosen und ab nach unten in die gute Stube!“
Rums, und schon war er wieder weg. Ja, diese Rentner hatten wirklich keine Zeit!
*
Im Treppenhaus fühlte ich zum ersten Mal Weihnachten. Bei Lampe im Erdgeschoss klingelte ich nur einmal. Frau Lampe machte die Tür auf.
„Kommen Sie rein, Markus.“
Im Wohnzimmer waren alle da: Erika saß mit roten Wangen am Ofen, Heinz Grahn und seine Frau links neben Erika. Ich nahm den Platz rechts daneben. Vor dem Essen sangen wir. Es gab Ente mit Rotkohl und Wein. Der Nachtisch bestand aus Mandelpudding mit Sahne und einem kräftigen Schuss Rum.
Wir redeten und lachten, es wurde ein schöner Abend. Schnell verging die Zeit; gegen neun verabschiedete ich mich. Ich wollte noch ein paar Briefe schreiben.
In meiner Wohnung angekommen, fiel mir die weiße Schleife ein, die ich gestern gefunden hatte. Behutsam nahm ich sie aus der Seitentasche des Mantels und hielt sie in meinen warmen Händen. Ich wurde müde und ging schlafen. Lange lag ich auf dem Bett, konnte aber nicht einschlafen. Dreimal stand ich wieder auf.
Markus, was ist mit dir? Wenn du nicht schlafen kannst, geh ein wenig spazieren und lass das Grübeln! Schon gut, hast ja Recht!
Ich zog wieder meine Sachen an und machte mich daran, die Nacht meiner Seele zu spüren. Innerlich war ich von Unruhe erfüllt. Ich ging nach unten auf die Straße. Kein Mensch weit und breit. In den Fenstern leuchteten Sterne und Engel. Wie die Uhren die Zeit ließ mich ein innerer Antrieb einen Straßenzug nach dem anderen ablaufen, ohne Ziel. Als ich endlich auf die Uhr schaute, war es kurz vor zwei. Ich musste zurück nach Hause.
Als ich meinen Kopf hob, oh Schreck, stand ich vor der Haustür Nr. 32! Das alte Haus lag im Dunkeln. Meine Hände tief in den Taschen meines Mantels vergraben, wollte ich mich auf den Weg nach Hause machen – da fühlte ich den Schlüssel in der linken Tasche. Ich zog ihn hervor und hielt ihn fest umschlossen in meiner Faust.
Wie unter einem inneren Zwang bewegte ich mich auf die Tür zu, schloss sie auf und trat in das dunkle Haus. Es war totenstill. Langsam suchte ich meinen Weg in den großen Raum der Konditorei. Die Tür war nicht zu. Langsam öffnete ich sie. Alles war dunkel und leer.
Ich setzte mich in die Mitte des Raumes und sang mein Lieblingslied, das ich schon als Kind in der Familie gesungen hatte: Stille Nacht, Heilige Nacht. Dabei hielt ich die kleine Schleife in meiner Hand. Tränen liefen mir die Wangen herab.
Ich war allein und sang in einem leeren, kalten Haus ein Weihnachtslied! Wenn mich jemand hören würde, dachte ich. In meiner Hand aber spürte ich Wärme, die meinem Körper, meine Seele traf wie ein Pfeil der Glückseligkeit.
Ein Licht durchfuhr meine Faust, erschrocken öffnete ich sie. Der Raum wurde von Sekunde zu Sekunde von meiner linken Hand aus, in der die Schleife lag, heller, strahlender. Ich sah plötzlich Konturen von Möbeln und Menschen. Zuerst waren sie nur schattenhaft sichtbar, aber Sekunden später konnte ich alles klar erkennen.
An den Tischen saßen die gleichen Menschen wie bei meiner ersten Begegnung: der alte Mann und das Mädchen. Alle im Raum sangen mein (unser!) Weihnachtslied. „Ich spürte etwas Feuchtes meine Hand berühren.“ Es war die Nase meines Freundes, der kleine braune Hund mit den schwarzen Augen. Ich saß noch immer auf dem Boden. Ich nahm den Hund auf meine Arme und streichelte ihn. Gemeinsam sangen wir. Ich war glücklich. Ja, in mir waren nicht die Zweifler am Werk.
Zum Ende des Liedes erhoben sich alle und drückten mir die Hand. Das kleine Mädchen lachte mich an: „Markus, habe keine Angst, wir möchten uns bei dir bedanken für das Lied, das du für uns gesungen hast! Als Zeichen unserer Liebe möchten wir dir etwas geben, das dich immer an diesen Tag erinnern wird. Unser Weihnachtsgeschenk hast du schon auf den Arm. Es wird dich immer lieben – bis zu seinem letzten Atemzug!“
Langsam verschwanden die Gestalten. „Zuletzt war auch das Mädchen mit den roten Zöpfen fort.“
Ich war glücklich und zufrieden. Ich machte mich auf den Weg nach Haus. Es war schon spät. Der kleine Hund, den ich von jetzt an „Prinz“ nannte, begleitete mich.
Er lief neben mir im Schnee, sprang hier und dort in eine Schneeverwehung.
Ich war ein zufriedener Mensch. Mich konnte jetzt nichts mehr aus der Ruhe bringen! Prinz sollte von diesem Tag an viele Jahre bei mir leben. Über diese Geschichte habe ich noch mit keinem Menschen gesprochen – nicht einmal mit Erika.
*
Zu Hause angekommen, war alles still. Alle schliefen schon. Prinz und ich machten uns daran, die Etagen zu erklimmen. Sein kleiner Stummelschwanz wackelte hin und her, wenn er an den Wohnungstüren der Nachbarn schnupperte. Oben angekommen, blieb er vor meiner Tür stehen. Hier wurde er richtig wild, sprang an der Tür hoch.
„Schon gut, Kleiner, wir sind gleich drin!“
Ich schloss auf. Ich trocknete Prinz erst einmal sein Fell und reinigte ihm die Füße. Danach war ich dran: Ich setzte mir Wasser für eine Tasse Grünen Tee auf.
„Na, Prinz, hast du noch einen Wunsch?“
Prinz schaute an mir hoch, seine Zunge hing aus seiner Schnauze. Was er mir wohl sagen wollte? Ich musste erst einmal nachdenken: Was braucht mein Kleiner? Ein Tier hatte ich bis jetzt noch nicht gehabt. „Meine Gedanken zogen mich wieder in eine andere Zeit.“ schweiften zurück in die Vergangenheit, ich hörte dieses Bellen schon von Weitem mir in der Gedankenwelt entgegen rufen, unser Junge ist zurück.
Hier fiel mir mein Großvater ein, der früher Hunde gezüchtet hatte. Harte Burschen, bissfreudige Monster, gute Auslese für Munitionslager der Armee, ich war ein Mitglied Ihres Rudels geworden. „Damals als Junge …“
Natürlich Markus, ein Hund muss essen und trinken!
Ein Trinkgefäß fand ich im Schrank der Spüle und füllte es mit Wasser. Als Fressnapf nahm ich eine alte Edelstahlschale, die brauchte ich nicht mehr. Was aber sollte ich meinem Hund geben? Hundefutter hatte ich nicht, ich hatte ja noch nie einen eigenen Hund gehabt! Meine Gedanken suchten verzweifelt nach Essbarem. Ich mischte dem Kleinen schließlich ein Fressen à la Markus zusammen: Thunfisch mit Haferflocken und Mohrrüben. „So, mein Kleiner, an die Arbeit!“
Ich war gespannt, wie Prinz diese meine Kreation finden würde.
Seine Nase schnüffelte am Topf. Er drehte sich zu mir um und ich hörte zum ersten Mal sein Bellen – leise, aber wohlwollend. Er ließ nichts übrig, alles wurde mit der Zunge blank geputzt.
Danach gingen wir schlafen. Ich überließ Prinz meinen alten Waschkorb, in den ich noch eine Decke gelegt hatte.
In dieser Nacht begann für mich ein anderes Leben. Die vergangenen Tage ließen mich im Traum alles noch einmal erleben. Schweißgebadet schwamm ich in meiner Traumwelt. Irgendetwas hat mich in seinen Bann gezogen - Das fühlte ich, wer seid Ihr, diesen Hauch, der mich in seine Welt zog, kannte ich noch nicht. sollte ich das noch zu spüren bekommen, oh ja.
*
Am anderen Morgen, als ich meine Augen öffnete, stand Prinz mit seiner feuchten Schnauze am Bett. Als er merkte, dass ich wach wurde, sprang er am Bett hoch, als wollte er sagen: Raus hier, genug geschlafen!
Müde und unausgeschlafen begrüßte ich meinen neuen Freund. Schwankend betrat ich den neuen Tag, tollte mit ihm durch die Wohnung. Laut bellend raste er hinter mir her.
„So, Kleiner, erst mal Pause!“
Ich machte mir einen Tee und verrichtete meine morgendliche Körperpflege. An Essen war noch nicht zu denken, mir war schlecht.
Leise versuchte ich, das Haus allein zu verlassen. Natürlich klappte es nicht: Prinz raste die Treppe runter, dabei sah ich es schon kommen: Seine Krallen versuchten, sich in den Boden zu verkrallen, aber er hatte keine Chance, der Boden wurde von unserer Hauswartsfrau zu gut gebohnert. Prinz purzelte die Treppe runter, ich hörte ihn quieken. Er rappelte sich wieder auf. Jetzt bewegte er sich bedächtiger.
Vor dem Haus Eiseskälte. Prinz stürzte sich in den erstbesten Schneehaufen und forderte mich auf, bei seinem wilden Treiben mitzumachen. Natürlich hatte ich keine Lust, mich am frühen Morgen in einen Schneehaufen zu werfen. Wir gingen die Straße entlang, alles lag noch in stillem Frieden. Ich jagte Prinz mit Schneebällen durch den nahen Park.
„Markus, hörte ich seine, diese bestimmenden Worte, ab nach Hause, deine Füße sind kalt und dein Hunger ist auch nicht ohne!“
Wir machten uns auf den Weg zurück. An der Haustür begegnete uns Heinz Grahn. Erst bemerkte er meinen Hund nicht – als wir allerdings beide im Hausflur waren, spürte er, dass etwas an seinem Hosenbein zupfte. Heinz musste lachen, als er meinen Kleinen sah.
„Mann, wo kommt der denn her? Markus, wie bist du denn auf den Hund gekommen?“
Ich musste innerlich lachen. „Tja, Heinz, eine lange Geschichte.“
*
In den nächsten Tagen wurde unsere Wohnung zur WG. Alle meine Nachbarn wollten Prinz sehen! Hier war es, das Leben im Einklang, das ich mir so wünschte. Nach einigen Tagen normalisierte sich unsere Hausgemeinschaft leider wieder.
Die Tage vergingen; das neue Jahr begann mit Alltag. In der letzten Nacht meiner Freiheit beschlich mich eine seltsame Beklemmung. „Was wollt Ihr von mir?“ In mir sollte sich etwas breit machen, das ich noch nicht kannte. Was es war, wusste ich nicht. Nur spüren konnte ich es. Ich versuchte, meine Gedanken noch ein wenig auf Schlaf zu stellen und mich zu lösen. Ich war angekommen in meiner zweiten Lebenswelt.
Am Morgen machte ich mich auf den Weg zur Arbeit. Alles normal, kein Schneesturm. In der U-Bahn benahm Prinz sich, als wenn er hier zu Hause wäre. Komisch, dachte ich, machte mir aber keine Gedanken darüber. Gelassen schaute sich Prinz die Menschen an, bei einigen verharrte er länger. Manchmal, wenn er die Leute betrachtete, wedelte er leicht mit dem Stummelschwanz, als würde er in ihre Seele schauen und die Guten und weniger Guten erkennen. Welch eine Gabe, dachte ich versunken.
In meinem Inneren merkte ich nicht, wie sich jemand neben mich setzte. Ich hörte ein leises Knurren, augenblicklich erwachte ich. Prinz fixierte mit seinem feinen Gespür einen Mann. Neben mir, oh Schreck, hat sich, dieser aus der Vergangenheit über Kopf lesende Fette niedergelassen! Seine stahlgrauen Augen taxierten mich.
Gott sei Dank mussten wir umsteigen. Wir rannten den Bahnsteig entlang, um den Anschlusszug zu erreichen. So schafften wir in kurzer Zeit den Weg zum Büro.
Hier gab es erst einmal ein großes Hallo. Wir wünschten uns alle ein neues Jahr. Prinz stand natürlich im Mittelpunkt. Er genoss es. Allen musste er Hallo sagen – außer Jansen. Ich sah in seinen Augen Missgunst. Er wollte nicht eine gute, freundschaftliche Atmosphäre – nein, er wollte der Boss sein, ignorant gegenüber dem Normalen, Zwischenmenschlichen. Der Tag konnte nicht gut werden. Scheiße, nicht schon am ersten Tag!
Ich vermisste meinen alten Freund Ralf, hörte, er sei mit Fieber zu Hause geblieben.
Im Büro entledigte ich mich erst einmal meiner Winterklamotten. Am Schreibtisch ordnete ich meine Unterlagen. Prinz legte sich unter meinen Tisch und döste.
Es klopft. Ich rief: „Herein!“ Ich wollte meinen Augen nicht trauen: Jansen stand im Raum an meiner Bürotür! Ich spürte Unheil aufziehen. Seine Augen flackerten nervös und seine Mundwinkel hingen herab wie bei einem Boxer, der sich nach einem Niederschlag aufrappelt.
Ich hörte ihn schwer atmen. „Herr Blume, welche Frechheiten erlauben sie sich eigentlich noch? Erst kommen sie nicht zur Weihnachtsfeier, dann melden sie sich einfach krank und jetzt schleppen sie mir auch noch diesen Köter ins Büro! Es reicht mir mit Ihnen, Blume!“ Seine Gesichtshaut verfärbte sich bläulich.
Ich dachte, er fällt um – sicher sein Herz. Ich merkte: Hier geht es nicht mit rechten Dingen zu. Prinz lag immer noch unter dem Bürotisch. Ich sah, wie er Jansen fixierte. Markus, hörte ich meine innere Stimme, Mach was, sag was, du musst jetzt die Initiative übernehmen!
Ich sprang auf. „Was ist bloß mit Ihnen los, Herr Jansen? Sie kommen einfach in mein Büro und machen mich am ersten Tag hier fertig? Eine verdammte Sauerei ist das!“
Jansens Gesichtshaut verfärbte sich erneut; aus dem Blauton wurde ein schönes tiefes Rot. Er schnappte nach Luft, gleichzeitig fing er an, zu stottern: „Herr Blu-hume, Herr Blu-hume, nicht in diesem Ton mit mir, ha-haben sie mich verstanden!!“
Ich nickte, drehte mich um und ließ mich auf den Bürostuhl fallen. Ruhig, Markus, ruhig, lass den Arsch, ist doch nicht deine Art, dich wegen diesem Blödmann aufzuregen! Ach ja, stimmt, du hast auch recht, was soll’s …
Ich lächelte Jansen an. „Was nun, Herr Jansen?“, fragte ich.
„Was nun, was nun“, quatschte er mir nach, „morgen ist der Köter nicht mehr hier, ist das klar? Oder sie können gleich mit zu Hause bleiben!“
Ich lächelte immer noch. „Aber Herr Jansen, soll ich vielleicht Ihre Worte so zu verstehen wissen: Komme ich morgen noch mal mit meinen Begleiter (wohlweislich nahm ich den Begriff Hund nicht in den Mund), dann schmeißen sie mich raus?“
Jansen schaute mich grimmig an. „Worauf sie Gift nehmen können, Blume! Und einmal raus ist immer raus! Haben wir uns verstanden, mein Freund?“ Türenknallend verließ er mein Büro.
Markus, durchatmen, Fenster auf, lass die negativ geladene Luft entweichen! Mein Kleiner stand neben mir, als würde er mich auffordern, an positive Dinge zu denken.
Na, Lust auf Arbeit? fragte ich mich. Ich hörte mich antworten: Die kannst du für heute ja wohl vergessen! Dabei musste ich so laut lachen, dass einige Kollegen ins Zimmer stürmten und mich verwundert anschauten.
„Markus, alles in Ordnung?“
„Ja“, lachte ich, „alles im grünen Bereich!“ Auf die Attacken Jansens hatten sie überhaupt nicht reagiert. Ja, wie traurig hat sich hier alles zur „Normalität“ entwickelt!
*