Kitabı oku: «Auch eine Rosine hat noch Saft», sayfa 3

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Familie

Wir waren eine große, harmonische Familie – meine Großeltern mütterlicherseits, ihre beiden Töchter Alice und Hertha, ihr Sohn Berthold und die fünf Enkelkinder, von denen ich die älteste war, sowie die Schwiegersöhne Alfred und Fritz und die Schwiegertochter Anni. Wir kamen zu jedem Fest, zu jedem Geburtstag bei den Großeltern zusammen. Frisch gebadet und in unseren Sonntagskleidern feierten wir den Heiligabend gemeinsam und hatten Spaß am Respekt gebietenden Weihnachts­mann, den jahrelang meine Mutter Hertha spielte, die immer gerade dann noch ein paar Besorgungen machen musste, wenn in der Zwischenzeit der Weihnachtsmann erschien. Alle haben wir brav unsere Gedichte aufgesagt und gemeinsam Weihnachts­lieder gesungen und auch später, als wir wussten wer der Weihnachtsmann war, haben wir dieses Spiel mitgemacht, weil es so aufregend war und erst die richtige Weihnachtsstimmung verbreitete.

Selbst in der Kriegs- und Nachkriegszeit gab es – woher auch immer – Mohnpiel, unser traditionelles Gericht aus geriebenem Mohn, eingeweichten Brötchen, Milch, Rosinen, Zucker und Nüssen. Eine große Reibesatte stand extra dafür bereit und in ihr wurde der Mohn stundenlang mit einer dicken Keule »weichgerieben«. Ich weiß nicht, wie unsere Oma damals die Zutaten heranschaffte, aber sie war eine Zauberkünstlerin im Überleben, und selbst in der schlechten Zeit wurden immer Plätzchen gebacken, zuerst sogar aus Kartoffeln, Mohrrüben, Rübensirup und Bucheckern. Immer stand etwas zu essen auf der Weihnachtstafel und der Weihnachtsbaum, den wir aus dem Wald holten – manchmal war es nur eine ziemlich verwachsene »Krücke«, die wir fanden – wurde von meiner Oma mit besonders schönem, alten Baumschmuck geschmückt, mit bunten Körbchen aus Blech, originellen Kugeln, viel Lametta und natürlich mit echten Kerzen. Dazu klimperte ein altes Symphonium Weihnachtslieder. Unsere Puppen hatte der Weihnachtsmann ein paar Wochen vorher abgeholt, um sie uns dann neu eingekleidet wiederzubringen. Auch ein von meiner Mutter aus einem alten aufgetrennten Pullover neu gestrickter Pulli für mich, ein paar eingetauschte, fast neue Schuhe, ein aus einer alten Decke genähter Mantel oder auch ein Buch waren wunderbare Geschenke, über die ich glücklich war. Natürlich haben auch wir Kinder damals in den Wochen vor dem Fest gebastelt, gesägt und gemalt, um Eltern und Großeltern eine Freude zu machen.

Und alles spielte sich in einem einzigen Zimmer, dem Wohn- und Schlafzimmer meiner Großeltern, ab; in einem zweiten Zimmer lebte damals ihre Untermieterin Fräulein Helene Ließner, eine alleinstehende ältere Dame. Während der letzten Kriegsjahre lebten auch noch mein Cousin und meine Cousine bei ihnen, weil deren Wohnung in Berlin durch Bomben schwer beschädigt worden war. Aber komisch, es war immer genug Platz für alle da, wir hatten nie das Gefühl, dass es zu eng sei, und benutzten den langen Korridor für unsere Spiele – sicher nicht gerade zur Freude der Nachbarn, die sich aber erstaunlicherweise nie beschwert haben.

Das alte Fräulein von Puttkammer wohnte über meinen Großeltern; sie war die ehemalige Hausdame bei Familie Pitsch, über die noch zu reden sein wird. Sie kam nachmittags oft zu uns ins Wohnzimmer und dann spielten wir gemeinsam mit meiner Oma Karten oder »Mensch ärgere dich nicht«. Sie war eine sehr vornehme alte Dame mit weißem Haar und legte besonderen Wert auf gute Manieren. Wir Kinder fanden das zwar lästig, aber so manche Lektion ist dabei doch bei uns angekommen, und um sie nicht zu verstimmen, haben wir uns bemüht, uns wenigstens einigermaßen gut zu benehmen – und nur hin und wieder zu schummeln.

Freitags war bei meinen Großeltern stets das Badefest für die gesamte Familie. Dann wurde der Badeofen geheizt und wir Enkel kamen nacheinander ins Badewasser, manchmal auch miteinander und das war dann immer ein großes Geschrei und Gespritze, bis das ganze Badezimmer zum Entsetzen meiner Großmutter unter Wasser stand. Anschließend zogen wir uns frische, wunderbar duftende Wäsche an und alle drei Wochen oder vier Wochen wurden an diesem Tage die Betten neu bezogen und das wohlige Gefühl in frisch gewaschener Bettwäsche schlafen zu dürfen, hat sich bis in die heutige Zeit erhalten.

Zum Wäschewaschen mussten wir – das heißt meine Oma und meine Mutter – hinunter in die Waschküche im Keller, wo der große Waschkessel stand, der mit Holz und Kohle beheizt wurde und wo sie die Wäsche noch per Hand mit Kernseife auf dem großen Waschbrett bearbeitet haben. Eine schwere, anstrengende Arbeit war das, denn die Waschküche stand nur alle drei bis vier Wochen für die einzelne Wohnung zur Verfügung und entsprechend groß war der Wäscheberg für die ganze Familie. Je nach Jahreszeit wurde die Wäsche dann im Hof oder oben auf dem Wäscheboden zum Trocknen aufgehängt, was allerdings im Krieg wegen der Brandbomben-Gefahr verboten war, sodass die Wäsche im Winter draußen oft steif gefroren war und wir Kinder aus Spaß Hosen und Hemden wie Figuren auf die Erde stellten.

Anschließend fuhren wir sie mit dem Handwagen zur Rolle, wo dann die großen Stücke wie Bettwäsche oder Tischtücher mit einer schweren Handkurbel glatt gerollt wurden. Kein Wunder, dass die Waschtage zu den gefürchtetsten in jedem Haushalt gehörten.

Zu den Festtagen wurde eine große Tafel gedeckt und dabei ging es oft sehr lustig zu – besonders Tante Anni aus Prenzlauer Berg mit ihrer großen Berliner Schnauze trug zur allgemeinen Erheiterung bei und erzählte unzählige spannende Geschichten aus ihrem Leben, die uns Kinder vor Lachen fast unter den Tisch warfen. Die Männer spielten stundenlang Schach – mit Zigarette oder noch besser Zigarre im Mund, und Opa rauchte seine Pfeife, die er selten ausgehen ließ und immer wieder bedächtig neu stopfte, später, nach dem Krieg, sogar mit selbst gezogenem und auf einer Leine im Wohnzimmer getrocknetem Tabak.

Bei einem solchen Fest an einem Nachmittag langweilten wir Kinder uns und kamen auf den Einfall, zum gegenüberliegenden Bahnhof zu gehen, mit der S-Bahn nach Potsdam zu fahren, dort in den Fernzug Richtung Berlin zu steigen, der in Wannsee halten musste, und dann mit der S-Bahn zurück nach Babelsberg zu kommen. Wir waren drei, vier, sechs, sieben und neun Jahre alt, lösten also zwei Fahrkarten nach Potsdam zu je 20 Pfennige für uns beiden Größeren, stiegen in die S-Bahn und in Potsdam in den nächsten D-Zug Richtung Berlin. Wir blieben im Gang stehen und kein Kontrolleur befragte uns, da man glauben konnte, wir gehörten zu den übrigen Fahrgästen. Wir fuhren an Omas Wohnung vorbei und freuten uns wie die Schneekönige, als wir die nichtsahnende Verwandtschaft durchs offene Fenster im Zimmer sitzen sahen. Gleich würden wir in Wannsee sein und umsteigen in die S-Bahn, um zurückzufahren. Aber – oh Schreck – der Zug durchfuhr den Bahnhof Wannsee und hielt auch nicht in Grunewald oder Charlottenburg. Langsam verging uns das Lachen. Endlich Bahnhof Zoo – der Zug hielt. Wir rannten zum S-Bahnsteig, aber – wir hatten keine Fahrkarten für die Rückfahrt und kein Geld!! Und es war inzwischen auch schon dunkel geworden, die Familie würde uns suchen! Damals gab es ja noch die Sperre mit einem Knipser und Kontrolleur am Eingang zum Bahnsteig. Wir überlegten aufgeregt und kamen endlich zu dem Schluss: Wir müssen betteln! Also gingen mein ältester Cousin und ich zu den Leuten am Bahnhof und sagten: »Entschuldigen Sie, haben Sie vielleicht zehn Pfennige für uns, wir haben keinen Fahrschein und müssen nach Hause.« Einige Leute schüttelten den Kopf, aber andere gaben uns das Geld, beobachten aber genau, ob wir wirklich Fahrkarten kaufen würden. Glücklich und erleichtert fuhren wir die 40 Minuten lange Strecke nach Babelsberg zurück, klingelten zu Hause und sahen, dass alle noch am Kaffeetisch saßen, plauderten und nicht mal bemerkt hatten, dass wir fast drei Stunden lang verschwunden waren. Erzählt haben wir die Geschichte erst viel später – sonst hätte es wohl doch noch ein Donnerwetter gegeben.

Erna – ein Leben ohne Beine

In dieser Zeit war eine Freundin meiner Mutter – unsere Tante Erna – eng mit unserer Familie verbunden. Sie war als 17-jähriges Mädchen von ihrem Freund schwanger geworden – zu jener Zeit eine unerhörte Schande. Ihre Eltern waren entsetzt und machten ihr schwere Vorwürfe. Und obwohl ihr Freund sie liebte und sie schnell heiraten wollte, stürzt sie sich eines Abends verzweifelt und voller Panik vor einen Zug, der ihr beide Beine bis obenhin abfuhr. Bewusstlos blieb sie eine ganze Nacht lang unbemerkt im Gebüsch neben den Gleisen liegen. Erst am nächsten Morgen entdeckte man sie und wie durch ein Wunder war sie nicht verblutet. Sie wurde gerettet, aber das Kind musste ihr abgenommen werden und ihr Freund trennte sich von ihr. Trotz ihres schweren Schicksals imponierte sie mir meine ganze Jugend hindurch mit ihrem Optimismus, ihrer Lebensfreude und ihrem Lachen, das sie wiedergewonnen hatte. All ihre Kraft, die sie für ihr ungeborenes Kind gebraucht und nicht gehabt hatte, fand sie nun zurück. Mit ihren beiden Prothesen und zwei Krücken stieg sie jede Treppe hoch, kam zu unseren Geburtstagen, unternahm mit ihrem Rollstuhl Reisen, ging ins Theater und konnte selbst nicht mehr begreifen, wie leicht sie einmal ihr Leben wegwerfen wollte. Wenn sie bei uns übernachtete, schnallte sie ganz selbstverständlich ihre Beinprothesen ab und bat mich, sie an die Wand zu lehnen. Etwas beklommen sah ich dann auf ihre Beinstümpfe und die Prothesen, aber sie machte ein paar witzige Bemerkungen über ihre »Holzstelzen«, lachte und machte sie damit ganz selbstverständlich zur Normalität. Nur wenig später im Krieg begegnete ich überall auf den Straßen verwundeten Soldaten, die Arme oder Beine verloren hatten, und auch dieser Anblick gehörte bald zum Kriegsalltag.

Meine Tante lernte nach dem Krieg einen Mann kennen, dem eine Granate beide Arme weggerissen hatte. Sie heirateten und haben sogar ihren Haushalt selbst bewältigt, gekocht, sauber gemacht, Wäsche gewaschen und gemeinsam eingekauft. Sie fuhr mit ihrem Rollstuhl und lud ihn voll mit den Einkaufstaschen, die sie dann beide in die Wohnung schleppten. Und da er keine Arme hatte und sie an zwei Krücken ging, benutzten sie Umhängetaschen. Mit einer erstaunlichen Geschicklichkeit und großem Einfallsreichtum schafften sie sich trotz ihrer Behinderungen ein glückliches und selbständiges Leben. Später, als sie alt waren und nicht mehr allein für sich sorgen konnten, mussten sie in ein Pflegeheim, aber da es damals in der DDR nur getrennte Heime für Männer und Frauen gab, bekamen sie kein gemeinsames Zimmer, sondern wurden in verschiedenen Häusern untergebracht. Alt und behindert war es ihnen unmöglich, sich gegenseitig zu besuchen, und so wurden sie für das Ende ihres Lebens getrennt. Jeder starb für sich allein – ohne dass sie sich noch einmal wiedersehen konnten.

Der gelbe Stern

Mein Großvater war gelernter Gärtner und hat fast sein ganzes Leben lang für die jüdische Familie Pitsch in Neubabelsberg – später hieß es Ufa-Stadt und heute Griebnitzsee – als Privatgärtner gearbeitet, erst bei den Eltern, dann beim Sohn Ernst und dessen junger Frau und den zwei Kindern.

Die Familie Pitsch hatte eine Textilfabrik in Babelsberg und war mit meinen Großeltern zeitlebens sehr befreundet. Mein Großvater legte die wunderbare, riesige Gartenanlage mit Tennisplatz und Spalierobst an, betreute Haus und Garten und blieb auch bei der Familie, als sie von den Nazis gezwungen wurde, ihr großes Haus abgeben und ins Gartenhaus zu ziehen und ihr Leben von unzähligen Schikanen bedroht wurde. In der Progromnacht im November 1938 wurde Ernst Pitsch verhaftet, sein Auto angesteckt und verbrannt. Mein Großvater erzählte damals aufgeregt, dass selbst die Schulmappe des kleinen Sohnes Werner mit allen Schulbüchern mitverbrannt sei und die Familie von SA-Leuten bedrängt wurde. Meine Tante Alice fuhr daraufhin stundenlang mit seiner Frau und den beiden Kindern mit dem Fahrrad durch den Wald, um sie vor weiteren Übergriffen zu schützen. Familie Pitsch hatte zu der Zeit bereits ein Visum, eine Ausreisegenehmigung mit dem Schiff nach Australien und die Schiffspassage war schon gebucht. Dem unerschrockenen und geradezu hochstablerischen Einsatz von Luise Brandt, die gerade das Gartenhaus von Familie Pitsch zu einem normalen Preis gekauft hatte – was bei jüdischen Immobilien zu dieser Zeit absolut nicht selbstverständlich war –, und ihren guten Verbindungen zu höchsten Naziverant­wortlichen ist es zu verdanken, dass Ernst Pitsch noch aus dem Konzentrationslager auf das Schiff gebracht werden konnte und so mit der ganzen Familie, mit Frau Gerda und den Kindern Aenne und Werner in Australien überlebte. Sofort nach Ende des Krieges nahmen sie die Verbindung zu meinen Großeltern wieder auf, schrieben viele Briefe und schickten trotz ihrer eigenen schwierigen Situation einige liebevoll gepackte Pakete.

Die Eltern von Ernst und Gerda Pitsch hatten sich aufgrund ihres Alters nicht mehr zur Emigration entschließen können, wurden ins KZ Theresienstadt gebracht und sind in der Gaskammer umgekommen.

Übrigens war Aenne ein bildhübsches, blondes, völlig »arisch« aussehendes Mädchen, das einem Fotografen, der sie auf der Straße fotografierte und nichtsahnend als deutsches Mädchen in seinem Schaufenster in Babelsberg ausstellte, erheblichen Ärger einbrachte. Aenne und Werner leben noch heute mit ihren Familien in Sydney und mein Kontakt zu Aenne ist sehr eng geblieben. Jedes Jahr kommt sie nach Deutschland und besucht uns in Berlin.

Auch Günter Thomas Meyer, ein naher Verwandter der Familie, der damals im Haus neben meinen Großeltern wohnte und dessen gesamte Familie ebenfalls beim Holocaust ermordet wurde, überlebte als Dirigent in Amerika und dirigierte Anfang der achtziger Jahre ein Konzert in Ostberlin mit dem Sinfonieorchester Berlin, zu dem er mich und meinen Mann einlud. Es war der Beginn einer engen Freundschaft bis zu seinem Tode im Jahre 2004.

Etwa 1940 sah ich übrigens zum ersten Male bewusst zwei junge Frauen mit dem gelben Stern auf der Brust. Ich weiß es noch genau, ich war auf dem Weg zu meiner Tante Alice, als ich im »Hasensprung« den zwei Frauen begegnete und ihr anschließend aufgeregt davon berichtete. Zu dieser Zeit lebten noch viele jüdische Familien im reichen Grunewald, deren Leben in dieser Zeit besonders bedroht war, und auf meine aufgeregten Fragen erzählte mir meine Tante mehr über das Schicksal und gefährdete Leben von Juden in dieser Zeit. Nach dem Krieg hat mich der Defa-Film »Ehe im Schatten« von Kurt Maetzig mit Ilse Steppat und Paul Klinger in den Hauptrollen tief beeindruckt. Ich habe ihn mindestens zehnmal gesehen und er hat mich immer an diese Begegnung erinnert. Ich habe oft darüber nachgedacht, welches Schicksal diese beiden unbekannten Frauen wohl erlitten haben. Auch das Gleis 17 auf dem Bahnhof Grunewald, von dem aus von 1941 bis 1945 über 50.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder in die Vernichtungslager geschickt wurden, erinnert mich immer wieder an das grausame Schicksal dieser Menschen in der Nazizeit.

Ungefähr 1949 geriet ich als ganz junges Mädchen durch Zufall in eine Lesung von »Korczak und seine Kinder« mit Ilse Steppat in einem Saal in der Fasanenstraße in Berlin. Ich hatte auf einem Plakat von dieser Lesung erfahren und saß nun allein zwischen all den Menschen im Saal, die sich alle zu kennen schienen und sich sehr emotional umarmten und begrüßten. Ich glaube, ich war in eine Veranstaltung der jüdischen Gemeinde geraten, hinter mir saßen Arthur Brauner und seine bildhübsche junge Frau Maria. Ich glaube, fast alle in diesem Saal hatten nahe Angehörige, Eltern, Kinder, Geschwister oder Freunde in den Vernichtungslagern verloren. Bei »Korczak und seine Kinder« geht es um den Weg von jüdischen Kindern in die Gaskammer, auf dem ihr Lehrer sie begleitet. Mit kleinen Geschichten versucht er sie von der schrecklichen Realität abzulenken und ihnen ihre Angst zu nehmen. Es ist eine unglaublich erschütternde Erzählung, die im Saal unter all den betroffenen Menschen eine tiefe Trauer und Verzweiflung hervorrief; alle weinten und ihr verzweifeltes Schluchzen habe ich nie vergessen können. Durch diesen Abend begriff ich zum ersten Mal bewusst viel von dem Leid und der unfassbaren Grausamkeit gegen jüdische Menschen in Nazideutschland.

Geborgenheit

Ich muss noch etwas über die Eltern meiner Mutter erzählen, die mein Leben prägten und bei denen ich einen großen Teil meiner Kindheit und Jugend verbrachte.

Mein Großvater war ein Mann mit eisernen Prinzipien: Täglich um 7 Uhr begann er als Gärtner bei der Familie Pitsch mit der Arbeit, um 11.40 Uhr machte er Mittagspause, Punkt 12 Uhr saß er zu Hause am Mittagstisch, 10 Minuten nach 12 Uhr war er mit dem Essen fertig, 10 Minuten ruhte er auf dem Sofa, 5 Minuten vor halb 1 Uhr fuhr seine Bahn zurück und pünktlich um 12.40 Uhr begann er wieder mit der Arbeit. Er sprach wenig, liebte seine Ruhe und Behaglichkeit und ließ sich rundum von meiner Oma verwöhnen.

Übrigens, während die Familie Pitsch im Sommer im Urlaub war, wohnte einmal eine Familie aus der japanischen Botschaft in ihrem Haus, die eine kleine Tochter in meinem Alter hatte. Mein Großvater wurde gebeten, mich täglich als Spielgefährtin für die kleine Yoshi mitzubringen. Ich war so vier oder fünf Jahre alt und wir spielten wunderbar zusammen, fuhren die Katze im Puppenwagen spazieren, malten und hatten jeden Nachmittag eine Stunde Akrobatik mit einer extra dafür ins Haus kommenden Lehrerin. Ich fand alles aufregend schön. Zu Mittag aßen wir meist auf der Terrasse Gerichte, die ich nicht kannte, aber die ich neugierig probierte. Einmal gab es leckere Eierkuchen, als sich plötzlich eine Biene auf Yoshis Eierkuchen setzte; sie wurde vertrieben, aber sofort wanderte der gesamte Eierkuchen in den Müll und ein neuer wurde serviert. Ich konnte es nicht fassen, der ganze wunder­volle Eierkuchen wurde weggeworfen – nur weil eine Biene davon gekostet hatte! Am Abend erzählte ich es aufgeregt meiner Oma, die kopfschüttelnd sagte, ja, Kind, das ist sehr traurig, denn man hätte den schönen Eierkuchen ruhig weiteressen können – auch wenn genug Geld für viele neue da ist. Und Essen wegzuwerfen, das wäre bei meiner sparsamen Oma nie passiert.

Sie war stets der Mittelpunkt in unserer Familie, meine über alles geliebte Groß­mutter, meine Oma Luise, deren Namen ich eigentlich als Zweitnamen führe, aber den ich inzwischen in liebevoller Erinnerung an sie zum Erstnamen gewählt habe. Zu ihr ging ich täglich nach der Schule, aß dort zu Mittag, machte meine Schular­beiten am großen Küchentisch, und dann wartete sie oft schon feingemacht mit alter, goldener Halskette und Handtasche auf mich, um zu »verreisen«, das heißt, wir fuhren mit der S-Bahn zu Geburtstagen oder den verschiedensten Anlässen in allen Teilen Berlins und ich durfte sie begleiten. Einmal waren wir bei ihrer Schwester Linda in Stahnsdorf zum Geburtstag, die einen Bauernhof mit Kuhstall hatte. Als ich die Kühe im Stall besuchte, rutschte ich aus und fiel in die Abflussrinne voller Kuhscheiße. Mein schönes weißes Kleid war hin, ich stank entsetzlich, alle lachten, ich wurde in den Wasserkübel gesteckt, abgeschrubbt und musste in geliehenen Sachen nach Hause fahren. Meine Oma hatte später viel zu tun, um den Gestank wieder aus meiner Kleidung herauszuwaschen.

Sie ist bei bester Gesundheit und klarem Kopf genau wie mein Großvater 92 Jahre alt geworden. Sie war witzig, einfallsreich, stets guter Laune und eine wunderbare Zauberköchin, die auch in schlechtesten Zeiten immer etwas Gutschmeckendes – meist Eintopf – auf den Tisch brachte. Selbst Kohlrüben, Brennnesseln als Spinat gekocht, Wirsing- und Weißkohl wurden zum Leibgericht von uns Kindern. Besonders »schmackhaft« allerdings wurde uns das Essen sehr oft durch meine Mutter gemacht, die alle Kinder um sich herum versammelte, mit dem Löffel rundum fütterte und dabei die von ihr selbst erdachten Geschichten von Paul und Klärchen erzählte. Die waren für uns so spannend, dass wir immer noch um Nachschub bettelten, nur um weiter zuhören zu können. Als besondere Belohnung gab es sogar hin und wieder Kompott, aber immer nur in kleinsten Portionen, und so war mein sehnlichster Traum als Kind, mich einmal an Erdbeerkompott satt essen zu können. Als ich mein erstes eigenes Geld verdiente, habe ich diesen Traum wahr gemacht, habe mir ein großes Glas Erdbeerkompott gekauft und es hintereinander aufgegessen, bis mir schlecht wurde.

Aber meine Oma hatte auch so einige »Scherze« drauf. Als später einmal ein Freund bei mir übernachtete, schüttete sie ihm, als er morgens leise aus der Haustür trat, einen Topf Wasser über den Kopf – zur »Abkühlung«, wie sie lachend zugab. Zum Glück hatte er Humor und ertrug die kleine Morgenwäsche mit Fassung – abgekühlt hat sie seine leidenschaftliche Liebe zu mir allerdings nicht.

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