Kitabı oku: «Auch eine Rosine hat noch Saft», sayfa 4

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Ein Spatz, ein Dorf und andere Begebenheiten

In meine Klasse ging während der Kriegsjahre ein Mädchen, das aus einem Dorf bei Stendal kam und das vorübergehend bei ihrer Tante in Potsdam lebte, um eine bessere Schulbildung zu erhalten. In ihrem Dorf Niedergörne bei Arneburg gab es nur eine Ein-Klassenschule, in der ihr Vater der Schulmeister und zugleich der Schäfer des Dorfes war. Sie hieß Edith Baucke, war ein liebes, intelligentes, rotbäckiges Mädchen, und wir freundeten uns bald an.

Kurz vor Ende des Krieges, als Potsdam bei dem großen Bombenangriff zerstört wurde, holten ihre Eltern sie besorgt wieder nach Hause zurück. Wir schrieben uns regelmäßig, und ein paar Monate nach Ende des Krieges lud sie mich ein, in den Ferien ein paar Wochen in ihrem Dorf zu verbringen, um mich mal wieder richtig satt essen zu können. Ich freute mich wahnsinnig, denn trotz der bei Kriegsende erbeuteten, gehamsterten oder auf andere Weise herangeschafften Lebensmittel litten wir unter großem Hunger. Selbst Kartoffelschalen und Brennnesseln wurden gekocht, Bucheckern gesucht und mühsam ausgepalt. Alles, was irgendwie entbehrlich war – Wäsche, Bestecke, Teppiche, Kleidung, Schmuck – wurde unter großen Schwierigkeiten auf dem Lande beim Bauern gegen etwas Essbares, also Kartoffeln, Eier, Speck oder Mehl getauscht, meist weit unter dem Wert, aber wir hatten keine Wahl und wollten leben. Wir hingen dabei wie die Affen auf Trittbrettern und Dächern der völlig überfüllten Vorortzüge, die aber glücklicherweise nicht sehr schnell fuhren, sonst hätten sie uns unterwegs wie reife Pflaumen abgeschüttelt. Wie stolz waren wir, wenn wir einen halben Rucksack mit Kartoffeln nach Hause brachten, und oft waren die sogar geklaut, das heißt, wir haben sie heimlich von den Feldern gestoppelt und durften uns dabei nicht von den Bauern erwischen lassen.

Ich erinnere mich, dass ich in dieser Zeit bei einer anderen Schulfreundin, die aufs Land gezogen war, zum Essen eingeladen wurde. Wir aßen im Wohnzimmer und auf jedem Teller lag ein kleiner Braten, also in dieser Zeit eine große Delikatesse, und wir verspeisten alles bis auf den letzten Brocken. Kurz nach dem Essen brachten wir das Geschirr in die Küche. Dort sah ich auf dem Tisch einen ganzen Berg dunkelgrauer Federn liegen. Ich fragte, was das für Federn seien. Meine Freundin sagte, ach, das sind nur die Federn von den Spatzen, die wir eben gegessen haben … Mir ist noch heute übel, wenn ich daran denke, obwohl ich zugeben muss, dass mir der kleine Spatz damals sehr gut geschmeckt hat.

Eines Tages, in den Herbstferien, fuhr ich der Einladung meiner Freundin Edith folgend allein mit dem Zug bis nach Arneburg bei Stendal, wo mich meine Freundin und ihr großer Bruder Fritz mit dem Pferdefuhrwerk vom Bahnhof abholten und mit mir nach Niedergörne fuhren. Es war ein ganz winziges Dorf mit nur wenigen Häusern, selbst die Einklassenschule war inzwischen stillgelegt worden. Die Eltern hatten einen kleinen Bauernhof, empfingen mich dünnen, blassen Stadtmenschen sehr liebevoll und warmherzig und wollten mich erst mal wieder aufpäppeln. Natürlich musste jeder auf dem Hof und auf dem Feld mithelfen, und so ging ich mit aufs Feld, half auf dem Hof, hütete die Schafe und sah zu, wie man »butterte«, also in einem Holzgefäß aus der Sahne die Butter schlug. Ich bekam frische Milch zu trinken, wunderbare nahrhafte Eintöpfe und Kartoffeln mit Fleisch und Gemüse zu essen, alles Dinge, die es zu Hause schon lange nicht mehr gab. Ich fühlte mich richtig wohl.

Nur einmal erlebte ich Stadtmensch einen Schock. Die große Schäferhündin hatte Junge bekommen. Sechs süße kleine Knuddeltiere. Eines Tages waren sie verschwunden. Ich fragte, wo sie denn seien. Ach, die sind weg, wurde mir geantwortet. Etwas später brachte ich Abfall zum Misthaufen. Dort lagen die sechs, erschlagen, mit blutigen Mündern. Ich war entsetzt. Aber man sagte mir, so sei das nun mal auf dem Land mit jungen Hunden – und junge Kätzchen würden in der Wassertonne ertränkt …

Die ersten zwei Wochen vergingen wie im Flug. Ich schlief mit Edith in ihrem Bett und abends redeten wir noch stundenlang, bis wir todmüde einschliefen. Eines Tages bemerkte ich, dass es an meinen Beinen und Armen zu jucken begann und sich rote Stellen bildeten, die sich zu schmerzenden Eiterbeulen entwickelten. Ich fühlte mich hundeelend und schwer krank. Auch Edith und ihre Eltern waren erschrocken. Sie vermuteten, dass ich das ungewohnte gute Essen nicht vertrage und deshalb mein Körper rebellierte. Ich musste unbedingt zu einem Arzt und so beschlossen wir, dass ich am besten auf schnellstem Wege nach Hause zurückkehren sollte. Sie fuhren mich wieder mit dem Pferdefuhrwerk bei strömendem Regen zum Bahnhof und ich nahm todkrank den nächsten Zug nach Stendal und von da aus den Zug nach Berlin. Dort kam ich aber erst mitten in der Nacht an, und vom Bahnhof Westkreuz fuhr keine S-Bahn mehr nach Babelsberg. Ich war ganz allein auf dem Bahnsteig. Also legte ich mich frierend im Wartehäuschen auf die Bank, deckte mich mit einer Zeitung zu und versuchte trotz der Kälte und des Regens, der durch das Dach tropfte, zu schlafen. Nach einiger Zeit entdeckte mich bei seinem Rundgang die Bahnhofsaufsicht und nahm mich mit in den warmen Aufsichtsraum, wo ich dann bis zum ersten Zug gegen 5 Uhr bleiben durfte. Natürlich war meine Mutter entsetzt, als sie mich sah. Sie ging sofort mit mir zum Arzt, ich fühlte mich sehr krank, hatte Fieber, Schmerzen und konnte meine geschwollenen Beine und Arme kaum noch bewegen. Glücklicherweise schlugen die Medikamente und Salben, die mir der Doktor verordnete, bald an und die schrecklichen Beulen heilten ab. Die Narben konnte man noch lange sehen. Welche Nachkriegsseuche ich mir da aber eingefangen hatte, weiß ich bis heute nicht. Sicher hatte sie etwas mit meinem Aufenthalt auf dem Lande zu tun.

Ein paar Wochen später erwachte ich morgens mit Fieber und starken Halsschmerzen. Zuvor hatte ich oft in dem Buch »Unser Hausarzt« gestöbert und über allerhand Krankheiten und ihre Anzeichen gelesen. Ich schaute also in den Spiegel und sah im Rachen dicke weiße Beläge, worauf ich zu meiner Mutter sagte: »Mutti, ich habe Diphtherie!« Meine Mutter lachte ungläubig und sagte: »Woher willst du denn das wissen«, aber sie ging doch sofort mit mir zu unserem Hausarzt. Der guckte mir in den Hals und sagte kurz und knapp: »Diphtherie. Muss sofort ins Infektions­krankenhaus. Ist sehr ansteckend.« Also fuhr ich mit meiner Mutter trotz des hohen Fiebers und der großen Ansteckungsgefahr für alle anderen Fahrgäste mit der vollbesetzten Straßenbahn nach Potsdam ins Krankenhaus, denn eine andere Fahr­gelegenheit gab es damals nicht. Dort landete ich in einem riesigen Saal mit etwa 20 Betten und lauter erwachsenen Frauen, hörte tolle Liebes- und Lebensgeschichten und weniger für Kinderohren Geeignetes, sodass ich nach zwei Wochen in ein Kinder­zimmer mit einem 2-jährigen kleinen Mädchen verlegt wurde. Ich musste insgesamt sechs Wochen in diesem Krankenhaus bleiben, ohne Besuche, denn da es ein Infektionskrankenhaus war – untergebracht in einer alten Schule –, durften Besucher nur unten auf der Straße stehen. Auch meine Mutter musste draußen bleiben, und so konnten wir uns über all die Zeit nur durch Winken oder lautes Rufen aus dem Fenster verständigen.

Als ich wieder zur Schule durfte, hatte ich eine Menge nachzuholen, denn niemand hatte mich in diesen Wochen mit Hausaufgaben versorgt und meine Lehrerin hat nur kühl gesagt, ich müsste mich allein drum kümmern, den Stoff nachzuholen, sie hätte keine Zeit dafür. Glücklicherweise hatte ich eine Mitschülerin, die mir half den Anschluss zu finden, sonst hätte ich es wohl kaum allein geschafft.

Wie wenig sich unsere damaligen Klassenlehrerinnen um das Wohl der ihnen anvertrauten Schülerinnen kümmerten, bemerkte ich auch am Beispiel einer Mitschülerin, die von der ersten Klasse an ungewaschen und in schmutziger Kleidung in die Klasse kam. Ihr Kopf hatte eine dunkle Dreckkruste, die Haare strähnten und ihr Kleid wurde nie gewaschen, bis es ihr quasi vom Körper fiel. Nie hat eine der Lehrerinnen die Eltern aufgesucht oder die Mutter zu einem Gespräch gebeten, um das an sich intelligente, aber durch ihr Äußeres abstoßende und ausgegrenzte Kind aus ihrer schrecklichen Situation zu befreien. Erst als Inge älter und selbstständiger wurde, hat sie selbst mehr auf ihr Äußeres geachtet und sich und ihre Kleidung selbst gewaschen. Als ich sie einmal nach Hause begleitete, war ich über den Zustand der Wohnung entsetzt, in der sie mit ihren Eltern und drei Geschwistern lebte. Die ungemachten Betten hatten keine Bezüge, sie schliefen alle in den schmutzigen Inletts, die Mutter saß im Zimmer und las oder strickte, während alles um sie herum verdreckt und unaufgeräumt war. Als die Kinder größer wurden und selbst ihre Umwelt wahrnahmen, haben sie alle mitgeholfen, sich und die Wohnung einigermaßen in Ordnung zu halten, aber die körperliche Verwahrlosung ihrer frühen Jahre hatte niemand verhindert.

Noch eine schreckliche Erinnerung habe ich an Inge und ihre Familie. Ich hatte mir als etwa 8-jährige von meinem Taschengeld zwei weiße Mäuse gekauft, mit dem zur Aufbewahrung geeigneten Glasbehälter und etwas Spielzeug für sie. Ich fütterte die beiden lustigen Mäuse und beobachtete sie voller Freude bei ihrem Spiel mit dem Laufrad. Was ich allerdings nicht bedacht hatte, war, dass sie sich in Windeseile vermehrten und ehe ich mich versah, hatte ich statt der zwei Mäuse zehn, zwanzig, ja, immer mehr kamen hinzu. Meine Mutter sah das mit Sorge und empfahl mir, die Tiere doch auch an Schulfreundinnen zu verschenken. Inge war gleich bereit, die gesamte Mäusefamilie zu übernehmen, und nahm sie freudestrahlend mit nach Hause. Ihr Vater sah die Mäuse, nahm ihr den Behälter aus den Händen und schütte den gesamten Inhalt mit den Tieren in den brennenden Ofen. Weinend erzählte mir Inge am nächsten Tag die Geschichte und mir wird noch heute schlecht, wenn ich an diese schreckliche, grausame Handlung ihres Vaters denke. Obwohl ich ihn kaum kannte, habe ich ihn dafür gehasst.

Vater

Mein Vater spielte in meinem Leben leider nur eine untergeordnete Rolle. Ich kann mich nicht erinnern, jemals mit ihm gespielt oder sonst etwas zusammen mit ihm unternommen zu haben – außer, dass wir, als ich noch sehr klein war, ein- oder zweimal mit den Fahrrädern zum Pilze sammeln in den Wald und an den Teufelssee gefahren sind. Er war ja fast meine ganze Kindheit hindurch nicht zu Hause. Gleich am Anfang des Krieges wurde er zur Wehrmacht eingezogen, nach einem Jahr für kurze Zeit reklamiert, weil er als Lackierer in einer kriegswichtigen Fabrik arbeitete, aber dann kam er wieder an die Front, diesmal in Russland, geriet in russische Gefangenschaft und kehrte erst 1948 krank, aufgeschwemmt und völlig verändert nach Hause zurück. Die Ehe mit meiner Mutter, die in den Kriegs- und Nachkriegs­jahren allein für sich und uns Kinder gesorgt hatte, die arbeitete und inzwischen gewohnt war, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, sich nicht mehr unter­zuordnen, wie sie es in den ersten Jahren ihrer Ehe getan hatte, war nicht mehr zu retten und nur wenige Jahre darauf wurde sie geschieden. Ich lebte zu dieser Zeit bereits bei meinen Großeltern und sah meinen Vater nur selten. So blieb er immer ein Fremder für mich und der Kontakt zu ihm war auch später auf wenige Begegnungen beschränkt. Heute weiß ich, wie sehr mir mein Vater in meiner Entwicklung gefehlt hat, wie sehr ich seine Geborgenheit, seine Sicherheit, seine Liebe und seinen Rat gerade als Kind und auch später als Heranwachsende gebraucht hätte. Als er aus der Gefangenschaft nach Hause kam, hatte auch er Hemmungen, auf seine inzwischen fast erwachsenen Töchter zuzugehen, deren Kindheit er durch den Krieg nicht miterleben durfte und die ihm nach seiner Rückkehr als fremde junge Mädchen gegenüberstanden. Besonders als es eine neue Frau in seinem Leben gab, scheute er den Kontakt mit uns; ich hatte den Eindruck, es war ihm peinlich uns seine neue Lebensgefährtin vorzustellen. Er heiratete sie kurz nach der Scheidung von meiner Mutter. Christa war seine große Liebe, eine junge Mitarbeiterin Mitte 20; er war damals Anfang 50. Beide bezogen eine gemeinsame Wohnung, meinem Vater ging es wieder gut, sie waren glücklich und sparten für eine AWG-Neubauwohnung. Seine junge Frau verschwieg ihm aber, dass sie kurz nach der Heirat an Unterleibskrebs erkrankte, verschwieg es ihm aus Liebe bis zuletzt. Erst als sie wenige Tage vor ihrem Tod mit unerträglichen Schmerzen in eine Klinik eingeliefert werden musste, erfuhr mein Vater geschockt, dass seine geliebte Frau sterben würde. Er hat ihren Tod nie überwunden. Kurz darauf war seine AWG-Wohnung bezugsbereit, für die er jahrelang eingezahlt hatte. Sie durfte aber nur mit zwei Personen bezogen werden. Er heiratete also eine flüchtige Bekannte, bezog mit ihr die Wohnung, erkrankte kurz danach ebenfalls an Krebs und starb ungeliebt und vereinsamt in seiner Wohnung. Ich hab ihn während dieser Monate ein paar Mal besucht, aber uns blieb nur noch wenig Zeit Versäumtes nachzuholen – der Krieg mit all seinen Folgen hatte unsere Familie zerstört.

Meine Mutter

Meine Mutter hatte in unserer Familie für mich die dominierende Rolle. Sie war meine ganze Kindheit hindurch meine engste Bezugsperson, die mich beschützte, ernährte, die mir die ersten Märchen vorlas und viele selbst erdachte Geschichten erzählte. Die Scheidung von unserem Vater nach vielen Ehejahren, von denen sie allerdings durch Krieg und Gefangenschaft nur wenige miteinander verleben konnten, hat sie nur schwer verkraftet und ihm nie verziehen. Zu hart traf sie die Demütigung, schon bald nach seiner Rückkehr aus Russland wegen einer wesentlich jüngeren Frau verlassen worden zu sein, ohne Anspruch auf irgendeine finanzielle Unterstützung durch ihn – wie es bei Scheidungen in der DDR damals üblich war. Jeder hatte anschließend nur für sich selbst zu sorgen, sogar nach einer lange bestehenden Ehe mit Kindern. Glücklicherweise hatte sie schon früh und in den Kriegsjahren ihr Leben selbst in die Hand genommen. Um für uns Kinder tagsüber da zu sein, trug sie jahrelang frühmorgens Zeitungen aus. Damals musste man die Zeitungen noch bis in die obersten Etagen der mehrstöckigen Häuser bringen, die Briefkästen unten im Hausflur, so wie heute meist üblich, gab es noch nicht. Wie oft habe ich ihr vor der Schule, am Wochenende oder in den Ferien beim Zeitungsaustragen in aller Frühe geholfen. Der schwere Zeitungsberg wurde aufs Fahrrad geladen und dann ging es von Haus zu Haus, treppauf-treppab, immer bis unters Dach der oft vierstöckigen Häuser – das war Schwerarbeit. Viele Jahre später konnte sie dann glücklicherweise einen körperlich leichteren Job bekommen und arbeitete als Kassiererin bei einer großen Firma in Babelsberg.

Uns Kindern gegenüber war sie immer offen für alles, was wir unternahmen, versuchte unsere Wünsche und Wege zu verstehen und zu unterstützen, auch wenn sie für sie völlig unbekannt waren. Sie war eine wunderbare, äußerst aktive, allem Neuen zugewandte Frau. Aber in dieser für sie sehr kräftezehrenden Zeit des Krieges und der Nachkriegszeit, wo es darum ging, das Lebensnotwendige zu organisieren, blieb wenig Kraft für ihre eigenen Interessen und so auch kaum Zeit, ein Buch zu lesen. Bei uns zu Hause gab es in meiner Kindheit überhaupt nur drei Bücher, die einsam in unserem Schrank standen. Ich erinnere mich an »Drei Männer im Eis«, »Unser Hausarzt« und den »Knigge« – wer weiß, woher sie den hatten –, den ich schon im Alter von acht oder neun Jahren aufmerksam studierte und dabei die Grundbegriffe des menschlichen Miteinander erlernte. Von da an beobachtete ich interessiert, wer wem in den Mantel half, die Tür öffnete und den Vortritt ließ. Ich konnte es nicht erwarten lesen zu lernen, und kaum konnte ich erste Sätze entziffern, stürzte ich mich auf jedes Buch, wurde schnell regelmäßiger Gast in der Leihbücherei und streifte auf eigene Faust quer durch die Weltliteratur. Bücher begannen mich zu faszinieren, ich ver­schlang sie regelrecht. Ich nutzte jede Minute, um in irgendeiner Ecke zu »schmökern« – wie meine Mutter immer sagte und warnte: »Du verdirbst Dir die Augen!!« Trotzdem hat sie mir später zu jedem Fest Bücher geschenkt und noch heute ist es so, dass ich die Welt vergesse, wenn ich mich in ein fesselndes Buch vertiefen kann, da können sich neben mir Menschen unterhalten, der Fernseher oder das Radio laufen, es stört mich nicht. Damals aber halfen mir Bücher, mich aus der Wirklichkeit des schrecklichen Krieges und der Nachkriegszeit in die wunderbaren und faszinierenden Geschichten fremder Personen, Welten und Orte hineinzuträumen.

Meine Mutter begann erst spät im Alter, als sie endlich mehr Zeit für sich selbst hatte, begeistert Bücher zu lesen und mit uns darüber zu sprechen. Als ihre Augen schlechter wurden und ihr das Lesen schwer fiel, brachte ich ihr oft Hörbücher und interessierte sie für das Hören von Konzerten und ganzen Opern. Es war eine späte, aber sehr glückliche Erfahrung für sie. Übrigens fuhr sie bis ins hohe Alter von über 95 Jahren täglich mit zwei Bussen zu uns in die Wohnung, machte sich nützlich soweit es ging und war glücklich, während unserer Reisen unsere Wohnung und die Katze hüten zu dürfen. Nur selten ließ sie sich mit dem Auto abholen oder nach Hause fahren. Sie genoss es, dass sie sich mit den Leuten unterwegs im Bus unterhalten konnte und dass sie erstaunt gefragt wurde: »Was, Sie sind schon über 90 und noch so fit und unternehmungslustig?« Sie war von einer unglaublichen Vitalität, sehr phantasiereich im Erfinden von Geschichten und – schauspielerisch recht begabt, wie wir erst spät feststellten. Dann führte sie uns perfekt gespielt und mit großer Ernsthaftigkeit aufs Glatteis und genoss amüsiert unsere Verblüffung.

Gestörte Träume

Das große Mietshaus, in dem meine Großeltern wohnten, hatte einen Hof, der unmittelbar an den Schulhof des Beethoven-Lyzeums grenzte, und ich konnte den Mädchen täglich in ihren Pausen beim Spiel zusehen. Mein sehnlichster Wunsch war es, ebenfalls dort zur Schule zu gehen. Von den Schulleistungen her wäre das kein Problem gewesen, aber meine Eltern und auch meine Großeltern hatten nicht den Mut, mich auf ein Lyzeum zu schicken; für sie war es etwas für die »besseren« Leute, da gehörten wir nicht hin. Niemand in unserer Familie hatte zuvor ein Lyzeum besucht und das Abitur abgelegt und so befürchteten sie, dass man mich dort ausgrenzen würde und ich es nicht schaffen könnte. Außerdem kostete es Schulgeld!! Ich teilte ihre Sorgen nicht, hätte es zu gern probiert und war tod­unglücklich. Aber gerade zu dieser Zeit wurde für begabte Kinder, die nicht zum Lyzeum durften, ein neuer Schulstrang eingerichtet, der ohne Schulgeld mit einem breit gefächerten Stundenplan bis zur Mittleren Reife führte. Ich wurde dafür ausgewählt und war froh über diese für mich unerwartete Möglichkeit.

Ich habe von meiner Mutter und meinen Großeltern unendlich viel Liebe empfangen und viel Verständnis gefunden für alles, was ich anstrebte, aber ich wollte Wege gehen, die sie nicht kannten, die ihnen Angst machten, weil sie sie nicht kannten und bei denen sie mir nicht helfen konnten. So stand ich bei allen für mich lebensweisenden Entscheidungen immer wieder alleine da und musste mir schon als Kind und junges Mädchen mühsam jeden Schritt vorwärts selbst suchen. Ich habe in meiner Unerfahrenheit unendlich viele Fehler und Umwege gemacht und auf dem Weg zu meinen Berufswünschen viel kostbare Zeit verloren, die mir später immer wieder fehlte und die ich nie mehr aufholen konnte.

Ich wollte unbedingt Tänzerin werden, aber niemand in meiner Familie oder näheren Umgebung hatte damit Erfahrung. So habe ich erst über einen großen Umweg zur Stoll-Peterka-Schule in Westberlin gefunden und später, als die Staatliche Ballettschule in Ostberlin gegründet wurde, war ich schon zu alt für die 6- oder 7-jährige Ausbildung, für mich kam nur noch die 3-jährige in Frage, die meine berufliche Karriere als Tänzerin von vornherein eingrenzte. Daneben spielten natürlich Krieg und Nachkriegszeit eine entscheidende Rolle; es war die denkbar ungünstigste Konstellation für den Beginn eines Lebens mit Zerstörung, Neuorientierung, den erst langsamen Wiederaufbau und letztendlich mit der Teilung unseres Landes, bei der ich in den östlichen Teil Deutschlands gehörte, die Grenze zu Westberlin lag direkt vor unserem Wohnort.

Bei meiner Schwester fünf Jahre später war alles schon besser geordnet, die Chancen für Arbeiterkinder waren größer und sie hat – auch durch Ansporn und Wegbereitung durch ihre Klassenlehrerin – den Weg zu Abitur und Studium geschafft; sie ist Jour­nalistin geworden.

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