Kitabı oku: «Papaverweg 6», sayfa 2

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Das Wohnhaus mit der Nummer 6 feiert still seinen fünfzehnten Geburtstag. Es hat die junge Mutter gekostet, und sie hat ihm geschmeckt. Danach hat es sein Maul wieder geöffnet und die Frau auf den Gehsteig gespuckt – ganz vorsichtig, auf dass sie wiederkommen möge.

Jetzt ist es in seinem Inneren still. Sogar der Mieter aus Top 2, der das Haus nur selten verlässt, hat seinen lindgrünen Anzug angelegt, den Fernseher ausgeschaltet und sich eine große ­Portion Aftershave auf die frisch rasierten Wangen geklatscht. Wie jeden zweiten Freitag fährt Hamed El Sayed in ein ­Kaffeehaus in der Innenstadt, wo er sich mit seinem Freund, dem pensionierten Rechtsanwalt und Mundartdichter Erich Wondrasch treffen wird. Dort werden die beiden Kaffee trinken, zwei Partien Schach spielen, ein wenig plaudern, einen Toast mit Käse und Ketchup essen, und anschließend werden sie sich noch ein Bier genehmigen.

Wie jeden zweiten Freitag wird Hamed gegen achtzehn Uhr nach Hause kommen. Wird seinen Anzug gegen eine bequeme Jogginghose tauschen, ein einfaches Bohnengericht zube­reiten, die Wohnzimmerfenster und die Tür zum Gang weit ­öffnen und den Fernseher einschalten. Die anderen im Haus werden von seinem Tagesablauf nicht viel mitbekommen. Nur der Geruch der Fremde wird wie jeden Abend durchs Haus ziehen.

Als Hamed den Papaverweg verlässt, sitzt Oskar beim Küchentisch und hört Ö1. Der Regen hat ein wenig nachgelassen, jetzt blinzelt sogar die Sonne zwischen den Wolken hervor. Trotzdem. Der Sommer ist vorbei, laut und deutlich hat man im Mittagsjournal den Beginn einer längeren Regenperiode bestätigt. Ansonsten hat Oskar nicht viel von den Nachrichten mitbekommen, denn er hat über die junge Frau nachgedacht, die am Vormittag die Wohnung im Dachgeschoß besichtigt hatte. Vor allem ihr Zopf ist ihm aufgefallen. Ein Zopf, wie ihn sich seine verstorbene Frau gewünscht hat. Ella hat trockenes, sehr krauses Haar gehabt, weswegen sie alle vier Wochen zum Friseur ging, um es nachschneiden zu lassen. Im Gegensatz zu ihr, die ihr Haar gerne länger getragen hätte, hat Oskar die wilde Pracht auf ihrem Kopf gefallen. Wie ein Filmstar hat seine Ella ausgesehen – vor allem in jungen Jahren. Erst als sie damit begann, ihr Haar zu färben, wurde es immer dünner, und nach der Chemotherapie ist es schließlich gar nicht mehr nachgewachsen.

Gedankenverloren sieht Oskar dem Ägypter dabei zu, wie er das Gartentürchen öffnet, seine Gehhilfe ein Stück weit nach vorne schiebt und das Türchen sorgfältig wieder schließt. Hameds Rollator ist ein wenig breiter als der von Oskar. Heute liegen in dem Korb eine Wasserflasche, eine lederne Tasche sowie eine hastig zusammengefaltete Regenpelerine. Normalerweise blickt Hamed beim Verlassen des Hauses kurz zu Oskars Küchenfenster, heute jedoch wendet er sich sofort der großen Straße zu. Bestimmt hat er es eilig, denkt Oskar, der weiß, dass der Mieter das Haus an den Schachtagen um dreizehn Uhr fünfzehn verlässt. Jetzt ist es schon dreizehn Uhr fünfunddreißig.

Ob er sich ebenfalls auf den Weg machen soll? Am Morgen hat er die letzte Milch aufgebraucht, und Wurst ist auch keine mehr im Kühlschrank. Brot wird er keines brauchen, bestimmt hat Alice wieder einen Wecken dabei, wenn sie am Abend an seiner Tür läuten wird, und für den Fall, dass es diesmal kein Brot gibt, hat er noch ein paar Semmeln im Tiefkühler.

Er blickt die Gasse hoch. Noch hängen dunkle Wolken über den Silhouetten der Hochhäuser, noch kann es jederzeit wieder zu regnen beginnen.

Seitdem Oskar sein Haus nur noch mit seiner Gehhilfe ver­lassen kann (und dass er es nicht mehr ohne tun wird, hat er seiner Tochter Doris versprechen müssen), geht er nicht mehr gern vor die Tür. In seiner Wohngasse spielt es keine Rolle, dass er langsam ist, da kennt man ihn, aber oben, an der großen Straße, reagieren die Menschen selbst bei Sonnenschein ungeduldig und gereizt. Schlimm genug, dass sein Rollator die Hälfte des Gehsteigs einnimmt, aber wenn er jetzt auch noch den aufgespannten Schirm halten müsste, bei dem Wind … nein, das geht gar nicht.

Noch im Frühling hat Oskar beim Verlassen des Hauses nach seinen Wanderstöcken gegriffen. Richtig sportlich sah er mit ihnen aus, ganz und gar nicht nach altem Tattergreis, sondern nach einem, der noch regelmäßig Wandertouren unternimmt. Als wäre er auf dem Weg zum Bahnhof, um mit dem Wiesel-Zug ins Grüne zu fahren. Aber dann ging er auch mit den Stöcken immer unsicherer, musste immer häufiger stehen bleiben und sich an der Hausmauer abstützen. Es sind nicht nur die Knie, die ihn im Stich lassen, die von Woche zu Woche steifer und gleichzeitig weicher werden. In letzter Zeit überfällt ihn manchmal ein derart heftiger Schwindel, dass ihm ganz schwarz vor Augen wird. Und auch an guten Tagen tanzt im Sonnenlicht eine Unzahl grauer Schleierflecken vor seinen Augen.

»Keine Schleiereulen, sondern Schleierflecken«, versuchte er dem Augenarzt das Symptom zu beschreiben, worauf die­-ser lachte und ihn bat, in den Apparat zu schauen. Doch mit ­seiner Netzhaut war alles in Ordnung, und auch der Sehtest ergab nichts Neues.

»Für Ihr Alter sehen Sie exzellent! Also doch eine Eule, Herr Zimmermann! Die schwimmenden Flecken müssen Ihnen keine Sorge bereiten, die sehen andere schon mit vierzig. Aber Ihr Schwindel gefällt mir nicht. Ich tippe auf den Kreislauf, Sie sollten das mit Ihrem Hausarzt abklären.«

Der Blutdruck, ach ja. An den hat er heute auch noch nicht gedacht.

Oskar öffnet die Schublade und nimmt zwei Medikamentenblister heraus. Eine Kapsel für den Blutdruck, eine fürs Hirn. Er steht auf und schenkt sich ein Glas Mineralwasser ein. Dann holt er noch einen Apfel aus dem Obstkorb. An apple a day keeps the doctor away!

Warum nennt man die Schleiereulen eigentlich Schleiereulen?, fragt er sich, als er sich mit dem Apfel an den Tisch setzt. Hat es bloß mit dem weißen Gesichtchen zu tun, oder war da noch mehr? Und wieso weiß er es nicht? Als Biologie­lehrer müsste er sich doch sicher sein! Oder hat er auch dieses Wissen verlegt? So, wie er seine Geldbörse in letzter Zeit manchmal an den seltsamsten Orten findet?

Eines jedoch weiß er gewiss: Die Eulen sehen bei völliger Dunkelheit ebenso wenig wie er. Das hat er auch zu seinen Schülern gesagt: »Das Märchen von der Eule, die selbst in schwärzester Nacht fliegt, beweist nur, dass man nicht alles glauben soll, was man liest.«

So unrecht hat er also nicht, sein Augenarzt. Wie die Eule sieht auch er nur, was in der Ferne geschieht. Beim Lesen hingegen tut er sich trotz der Brille schwer. Aus diesem Grund bringt ihm seine Enkeltochter jetzt alle paar Wochen ein neues Hörbuch mit, das sie aus der Bücherei ausleiht und für ihn auf CD brennt, damit er wegen der Rückgabefrist nicht unter Zeitdruck gerät. Und weil er nicht weiß, was er während des Hörens mit den Augen, die früher über die Buchstabenreihen gewandert sind, anfangen soll, blickt er eben aus dem Fenster, dorthin, wo sich etwas tut.

Auch jetzt betrachtet er die Fassade des gegenüberliegenden Wohnhauses. Seine einst eierschalene Farbe ist schmutzig, die aufgemalten Blumenranken auf den Trennwänden zwischen den Balkonen sind kaum noch zu erkennen, der grüne Lack der Balkongeländer beginnt bereits abzublättern, und das Blech auf dem Dach glitzert schon seit einigen Jahren nicht mehr in der Sonne. Still und ein wenig erschöpft wirkt das Haus, wie ein müdes Tier, das geduldig auf dem Rasen Platz genommen hat, um darauf zu warten, dass seine Menschen nach Hause kommen.

Oskar wartet mit ihm. Er kennt sie alle. Weiß, wann wer das Haus verlässt und wiederkehrt, kennt die Motoren­geräusche der Autos und das Klacken und Fiepen der Zentralverriegelungen, und wenn es draußen dunkel wird, kann er allein anhand der Art, wie die Klappe des Müllcontainers fällt, sagen, wer gerade seinen Abfall entsorgt hat.

Jetzt fragt er sich, was aus dem Haus werden wird, wenn er nicht mehr hier sitzt. Aber das ist natürlich Unsinn. Das Haus wird sich durch seinen Tod nicht verändern. Es wird weiterhin die Menschen verschlucken und die unverdaulichen Reste nach einer viel zu kurzen Zeit wieder ausscheiden, wie es das immer getan hat.

Oskar stemmt sich an der Tischplatte hoch, tritt zu dem Radio und zieht den Stecker. Dann setzt er sich wieder, öffnet die Lade und holt das linierte A5-Heft hervor, das unter den Medikamenten, Kugelschreibern, Servietten und Taschentüchern liegt. Dreiundfünfzig Namen hat er darin eingetragen. Es sind die Namen jener dreiundfünfzig Mieter und Eigentümer, die in den letzten fünfzehn Jahren, die das Haus nun schon vor seinem Fenster steht, ein- und ausgezogen sind. Jetzt wird bald ein neuer Name dazukommen. Vielleicht sogar zwei.

Kann es sein? Ein Baby? Ob die Frau mit dem Zopf die Wohnung genommen hat? Sie hat so zufrieden gewirkt. So lächelt niemand, der sich erneut auf die Suche machen muss.

Aber welche Mutter zieht in ein Haus wie das am Papaverweg 6? Da gibt es doch viel bessere Wohnungen. Wohnungen mit Lift, Wohnungen mit Kinderwagenabstellplätzen, Wohnungen mit bunten Schaukeln und Sandkisten im Innenhof.

6

Ein Haus an der Peripherie der Großstadt. Eine Gasse mit Einfamilienhäusern und Gartenzäunen, eine beschauliche Insel mitten im Plattenbautenmeer.

Seitdem die U-Bahn verlängert wurde, ist das Viertel näher an die Innenstadt herangerückt. Musste man früher noch im ­eisigen Wind an der Straßenbahnhaltestelle warten, ist man heute in fünfzehn Minuten im Herzen der Millionenstadt.

Das Haus mit nur zehn Parteien besticht durch seine zentrale und doch idyllische Lage. So hat Herbert Sucht die Anzeige, die er soeben gelöscht hat, formuliert.

Judith Brodkorb gehört zu den Schnellen, gleich nach dem Besichtigungstermin hat sie das verbindliche Mietanbot unterzeichnet. Bestimmt sieht sie sich schon mit dem Kinderwagen die dörflich anmutende Gasse entlangspazieren, und nächsten Herbst werden sie und der kleine Bub Kastanien sammeln.

»Brodkorb, was für ein bescheuerter Name!«, lacht Herbert.

In zwei Wochen wird er an der Gegensprechanlage und auf den Postkästen zu finden sein. In die Wohnung mit der ­Nummer 10 kommt wieder Leben, und das ist gut so.

Herbert fragt sich, wie lange ihn das Haus diesmal in Ruhe lassen wird. Richtig gegruselt hat es ihn, als er vor drei Monaten das Mail von Ilse Reiter in seinem Posteingang vorge­funden hat. Ganz kurz hat er sogar überlegt, abzulehnen. (Lassen Sie mich mit Ihrem verfluchten Haus in Ruh!) Andererseits darf er sich nicht beschweren. Die Wohnungen am Papaverweg 6 gehören zwar nicht zu den lukrativen Objekten, aber steter Tropfen höhlt bekanntlich auch den Stein. Drei Monatsmieten Provision sind nicht nichts, und bis jetzt hat er die Wohnungen stets ohne großen Aufwand an den Mann gebracht – oder an die Frau, ob mit oder ohne Kind. Die Menschen müssen nur in die kleine, dörfliche Gasse einbiegen, schon sind sie entzückt. Und dass die meisten von ihnen selten länger als das verpflichtende Jahr plus die drei Monate Kündigungsfrist bleiben, ist schließlich auch kein Nachteil für ihn.

Diesmal jedoch war alles wie verhext. Dabei sind laut Mirko alle, die Top 10 besichtigt haben, ganz begeistert gewesen. Kein Wunder, die Wohnungen im Dachgeschoß sind die schönsten im Haus. Wenn er Mirko glauben kann (und warum sollte er lügen?), haben bei den Besichtigungen alle so getan, als könnte es ihnen gar nicht schnell genug gehen mit dem Unterschreiben des Mietvertrags. Aber jedes Mal, wenn Herbert einem der Interessenten ein verbindliches Mietanbot zukommen ließ, sprang dieser sofort wieder ab. Einer schrieb, dass er es sich anders überlegt hätte, ein anderer meinte, er habe noch einen zweiten, anschließenden Besichtigungs­termin gehabt und sich für die andere Wohnung entschieden (und das in nur vierzig Minuten!), und die nette Frau mit den dicken Brillengläsern, die Mirko so sympathisch gewesen war, antwortete weder auf Herberts erstes Mail noch auf sein zweites, in dem er sich erkundigte, ob das Mietanbot bei ihr angekommen sei.

»Hast du dich verplappert?«, fragte er Mirko, aber der schüttelte empört den Kopf. »Für wie blöd hältst du mich denn?«

Für sehr blöd, dachte Herbert, doch er sprach es nicht aus, lieber nahm er die Sache selbst in die Hand. Und jetzt ist er sie ja auch los, die Wohnung mit der Nummer 10.

Vielleicht hat Mirko wirklich nur Pech gehabt. Zwar ist er nicht der Hellste, denkt Herbert, aber er hat ein gutes Gespür für die Menschen. Besonders für die kleinen Leute. Mirko ist die Geduld in Person. Mirko lässt sich Zeit, selbst wenn es sich um das billigste Loch handelt. Stets steht er mit seinem Mäppchen in der Mitte des Raums, lässt die Kunden Schubladen herausziehen, Balkontüren öffnen und wieder schließen, nickt auffordernd und beantwortet jede noch so dumme Frage mit einem freundlichen Lächeln.

Herbert selbst kann das nicht. Vor allem nicht bei diesen verwöhnten Studenten und frischverliebten Pärchen, die alle so tun, als wären sie weiß Gott wer, nur weil sie jung und hip sind (oder glauben es zu sein). Am schlimmsten jedoch sind Öko-Mütter mit bunten Tüchern. Dieses entsetzliche Dauergrinsen! Als müsste die ganze Welt das Leben ihres Kindes feiern. Entweder tragen sie ihr Baby im Tuch, oder aber sie haben das Tuch wie einen Rock um ihre Jeans gebunden und lassen ihre Kleinkinder die frisch gestrichenen Wände mit Maisbällchenresten und Rotz beschmieren. Und immer die Erwartung, dass er sich onkelhaft hinunterbeugt und säuselt: »Na, wer bist denn du?«

Und dann kommen ihre Fragen:

»Ist das Fenster kindersicher?«

»Sind die Kanten in der Küche nicht gefährlich?«

»Haben die Steckdosen einen Kinderschutz?«

»Darf man im Gemeinschaftsgarten ein Planschbecken aufstellen?«

»Gibt es in diesem Haus denn gar keinen Kinderwagen­abstellraum?«

Mirko bleibt ruhig. Mirko nickt verständnisvoll mit dem Kopf, streichelt den Kleinen über das verschwitzte Haar und fragt, ob sie sich schon ihr Kinderzimmer angeschaut hätten. (»Was? Das hast du noch gar nicht gesehen?«) Und schon nimmt er sie bei der Hand. (»Soll ich es dir zeigen?«)

Erklär einmal einem Vierjährigen, der bereits seine Modell­eisenbahn (die er gar nicht besitzt) durchs Zimmer zischen ge­sehen hat, dass die Wohnung vielleicht doch eine Spur zu klein, zu warm, zu kalt, zu dunkel oder zu grasgrün ausgemalt ist.

Nein. Das muss er Mirko lassen. Mit Kindern kennt er sich aus. Und heute entscheiden nun einmal zu einem großen Teil die Kinder. Deswegen hat er sich ja so geschreckt, als er, kurz nachdem es an der Gegensprechanlage von Top 10 geläutet hatte, den Kindersitz in dem kleinen Renault entdeckt hat. Und tatsächlich. Sobald er die Tür geöffnet und der Frau die Hand zum Gruß hingehalten hatte, ist auch schon ihre Frage gekommen: »Es wird hier doch keine Probleme geben, wenn ich mit meinem vier Monate alten Sohn einziehe?«

»Probleme?«, hat er den Überraschten gespielt. »Wie kommen Sie denn auf die Idee? Eine ruhigere Gasse wie diese werden Sie in ganz Wien nicht finden! Hier können Sie den jungen Mann mit seinem Dreirad herumfahren lassen, ohne Angst haben müssen!«

Judith Brodkorb hat ihn freudestrahlend angegrinst. Wie gut, dass sie ihren Sohn nicht mitgenommen hat. Er braucht sich einem Kind nur zuzuwenden, schon fängt es zu plärren an. Als gingen von seinen Augen bedrohliche Strahlen aus, die nur Kinder sehen können.

Herbert Sucht schüttelt sich, überfliegt das unterschriebene Mietanbot und überträgt die Daten in den Computer.

Name: Mag. Judith Brodkorb.

Geburtsdatum: 6. Juli 1990.

Beruf: Universitätsassistentin in Karenz.

Alleinerzieherin, notiert er in Klammern.

Solche Notizen können einmal wichtig sein, immerhin verlässt sich die Reiter auf ihn.

»Und die Leute hier?«, hat ihn die Brodkorb aus ihren ­großen, unschuldigen Rehaugen angeschaut. »Die sind doch hoffentlich nett?«

Also hat er sich ein breites Schaukelpferdgrinsen ins Gesicht gezaubert (fast so eines, wie Mirko es bei den Besichtigungen trägt) und in euphorischem Tonfall geäußert: »Sie werden sehen, Frau Brodkorb, hier gibt es noch so etwas wie echte Nachbarschaft!«

7

Wer aber sind die Bewohner des Hauses mit der Nummer 6?

Beginnen wir im Erdgeschoß. Gleich neben dem Treppen­aufgang in Top 1 befindet sich das achtzig Quadratmeter große Reich der Ilse Reiter. Ihr gehören acht der insgesamt zehn Wohnungen. Daneben, in Top 2, lebt Hamed El Sayed. Zu Hameds Glück ist Frau Reiter nicht oft zu Hause, Hamed kann seine Vermieterin nämlich nicht leiden. Obwohl, das stimmt nicht so ganz, eher sollte man vielleicht sagen, dass Frau Reiter ihren ägyptischen Mieter nicht ausstehen kann, weswegen dieser ihr aus dem Weg geht, ganz nach dem Motto: »Der Klügere gibt nach«.

Manchmal fragt sich Hamed, wieso Frau Reiter ausgerechnet eine der großen Wohnungen für sich behalten hat. Angeblich lebt sie in einem riesigen Haus im steirischen Eibiswald, kommt nur hierher, wenn es »etwas zum Kümmern« gibt. Wieso vermietet sie nicht die große Wohnung und behält eine der kleinen, die immerhin auch alle vierzig Quadratmeter messen, für sich? (Oder ist sie gar nicht so verschlagen und geldgierig, wie Frau Neuhold behauptet?)

Ute Neuhold und ihr Mann Horst wohnen in Top 3, Schlafzimmer an Schlafzimmer mit Hamed. Die beiden Pensio­nisten sind neben Frau Reiter und dem schweigsamen Jugendarbeiter im ersten Stock die einzigen Eigentümer im Haus. Aber auch die Neuholds sind oft monatelang nicht zu Hause. Seitdem Ute und Horst in Pension sind, packen sie alle halben Jahre ihre Koffer. In der Zeit, in der sie hier sind, er­­zählen sie allen, die es hören wollen (und auch jenen, die es nicht hören wollen) von ihren Abenteuern. Wer immer sich auf mehr als nur ein schnelles Schwätzchen am Gang einlässt, muss sich auf ihr Sofa setzen und an die Wand projizierte ­Bilder anschauen – unendlich viele Bilder von Wiesen und ­Flüssen und Bergen, von bunten Saris, Blumenmärkten, buddhistischen Tempeln und geschmückten Elefanten, von roten Häusern am Rande riesiger Tannenwälder, speienden Geysiren und weiten, ­weißen Eiswüsten –, denn die Neuholds lieben das Außergewöhn­liche, weswegen ihnen das Königreich Bhutan näher ist als die steirische Toskana, der brasilianische Urwald bekannter als die Hügel der Weststeiermark und das lebendige Hongkong ­tausendmal lieber als das langweilige Eibiswald der Ilse Reiter.

»In Eibiswald ist’s uns zu kalt!«, beliebt Frau Neuhold zu scherzen, dabei ist auch der Himalaya nicht warm, von Spitzbergen ganz zu schweigen.

Seit Susa und Tom nicht mehr hier wohnen, ist es Hamed, der auf dem Sofa der Neuholds Platz nimmt. Zuerst drückt ihm Ute den Wohnungsschlüssel in die Hand und erklärt, wie viel Wasser die Leuchterblume am Fensterbrett bekommt und wie viel Dünger die Glücksfeder neben dem Stereoturm be­­nötigt, danach werden der Beamer und die Leinwand auf­gestellt. Vor einer Woche war es wieder so weit. Hamed hörte sich die Anweisungen an und nickte eifrig mit dem Kopf. Danach bekam er sämtliche Fotos aller vergangenen Reisen zu sehen. Während des Schauens blinzelte er, streckte das linke Bein aus, stopfte sich den Polster in den Rücken, und obwohl ihm die Lendenwirbelsäule und auch die Hüfte weh­taten, obwohl er schon gar nicht mehr wusste, wie er auf dem viel zu weichen und niedrigen Sofa der Neuholds noch sitzen sollte, lächelte er tapfer, als Horst ihn fragte, ob er noch Zeit für die peruanische Hochebene habe, und gab zur Antwort: »Oh ja, ich kann genug nicht kriegen von eure schöne Fotos!«

Als er zurück in seine Wohnung kam, drehte er ein paar Runden durch die Wohnküche, absolvierte seine Turnübungen, putzte sich die Zähne und stellte sich die Frage, wie es kommt, dass die einen durch die Welt tingeln und Robbenfleisch verspeisen, während die anderen mit einer Chipstüte vor dem Fern­seher sitzen und sich Sendungen wie Universum an­­sehen, und das, ob­wohl sie genügend Geld angespart, keine Schmerzen, keine Läh­mungserscheinungen und auch keinen Tumor im Kopf haben.

Würde er selbst reisen, wenn er genügend Geld hätte und gesund wäre? Aber was soll er schon in Spitzbergen, in Singapur oder im Königreich Bhutan? Was soll er in Südafrika, im australischen Outback oder in Peru? Es reizt ihn doch nicht einmal, in ein Flugzeug zu steigen, um nach Ägypten zu ­fliegen. Selbst bei seiner Schwester Hebba in München ist er seit mehr als zwei Jahren nicht mehr gewesen.

Drei Tage nach dem gemeinsamen Abend stiegen die Neuholds mit ihren Koffern und der Kameratasche in ein Taxi. Seitdem ist Hamed wieder ganz allein im Erdgeschoß.

Steigen wir hinauf in den ersten Stock.

Ganz hinten, in der Wohnung mit der Nummer 7 (direkt über den Neuholds) wohnt Peter Lindner – jener Mieter, der so gern und lange schläft. Auch sonst ist er sehr still, fast könnte man glauben, dass er sich vor den Menschen fürchtet oder sie einfach nicht mag. (Beides jedoch wollen wir von einem Jugendarbeiter nicht annehmen.) Jedes Mal, bevor Peter seine Wohnung verlässt, blinzelt er durch den Spion und horcht eine Weile nach, ob er auf dem Gang Geräusche vernehmen kann. Hört er etwas, lässt er sich Zeit, dann tritt er von einem Bein aufs andere, bindet sich die Schuhbänder neu, bohrt in der Nase oder steht einfach nur da. Erst wenn es draußen wieder mucksmäuschenstill ist, schleicht er auf Zehenspitzen durchs Stiegenhaus, schlüpft aus dem Haus und geht schließlich, mit gesenktem Blick, die Gasse hinauf.

Neben der Wohnung des scheuen Peter Lindner befindet sich die Wohnung mit der Nummer 6. Seit drei Monaten wohnt in ihr eine Frau namens Muggi Klein. (So zumindest steht es auf dem Türschild). Ein einziges Mal hat Peter eine Frau in die Wohnung gehen gesehen. Sie war etwa fünfundvierzig Jahre alt, ungefähr 1,80 Meter groß und hatte hennarotes, schulterlanges Lockenhaar sowie eine etwas zu männlich geratene griechische Nase (wie Peter fand). Seitdem ist noch kein ein­ziges Geräusch durch die papierdünnen Wände gedrungen. Keine Fernsehdialoge, keine Radiomusik, kein Weckerrasseln. Auch fällt Peter auf, dass die Rollos der Klein stets zu drei Vierteln heruntergelassen sind.

Warum mietet jemand eine Wohnung, schreibt seinen Namen auf das Türschild und ist dann nie da? Und wieso steckt seit acht Tagen ein Schreiben des Gerichtsvollziehers zwischen Türstock und Tür? Seitdem Peter den Zettel entdeckt hat (der jedoch nicht an eine Muggi, sondern an eine Muriel gerichtet ist), denkt er vor dem Einschlafen über seine mysteriöse Nachbarin nach. Von geheimen Drogendepots im Spülkasten bis hin zu ominösen Scheinfirmen und Identitätsraub reichen seine Theorien.

Dass auch die Wohnung mit der Nummer 5 leer steht, hat (zumindest Peters Ansicht nach) einen durchaus mensch­lichen Grund. Jürgen Zelechowski ist Nationalratsabge­­­ordneter. Dass er in Scheidung lebe, ließ er Peter kurz nach seinem Einzug im März wissen, dass die Wohnung für ihn eine Übergangslösung sei, bis er etwas Besseres, Größeres, Ruhigeres gefunden habe. Davor jedoch wollte er es offensichtlich doch ein bisschen lauter und lebendiger haben, ­weswegen alle paar Tage ein anderes Frauenauto am Zaun gegenüber hielt. Aus den Autos stiegen stets ähnlich aus­sehende, schlanke Frauen in Businesskostümen, die man bis weit nach Mitternacht lachen und (wenn man besonders gut lauschte) auch stöhnen hörte. Tags darauf stiegen die Frauen wieder in ihre Autos, um den Papaverweg für immer zu ver­lassen. Manche schluchzten dabei leise in sich hinein, andere wirkten erleichtert, und wieder andere taten so, als würden sie nur ein bisschen durch die Gegend fahren und gleich wieder zurückkommen.

Anfang Juni blieb der Platz am Zaun wieder leer, und ein paar Wochen darauf stand auch der Wagen des Abgeordneten nicht mehr auf dem Parkplatz mit der Nummer 5. Nicht etwa, weil Zelechowski eine größere (schönere, hellere, leisere) Wohnung gefunden hat, sondern weil er und seine Frau sich wieder versöhnt haben. (Wie er Peter eines schönen Julitages wissen ließ, ohne dass dieser danach gefragt hatte. Aus irgendeinem Grund schaffte es der Politiker stets, seine Tür ausgerechnet in jenem Augenblick zu öffnen, in dem Peter an ihr vorüberschlich.)

Durch die Versöhnung der Eheleute steht die Wohnung mit der Nummer 5 nun schon seit einigen Wochen leer, und das wird sie noch weitere neun Monate tun. So lange dauert es nämlich, bis das verpflichtende erste Jahr plus die dreimonatige Kündigungsfrist (wie im Mietvertrag vorgesehen) ver­strichen sind. In diesem Punkt ist Ilse Reiter sehr streng, schließlich ist ihr Haus kein Taubenschlag!

Fehlt noch die vorderste Wohnung im ersten Stock, jene mit der Nummer 4. In ihr wohnt seit knapp vier Jahren Alice Winter – ein zierliches, etwas zu blasses Geschöpf mit ­dunkelblonden Haaren (kurzer Pony und Pferdeschwanz), das, sobald es draußen ein wenig kühler wird, einen dicken Schal um den Hals trägt. Im Moment jedoch ist Alice nicht zu Hause. Gerade eben sitzt sie mit ihrer besten Freundin Claudia in einem Bistro nahe des Museumsquartiers und trinkt Chai Latte. Obwohl sich die beiden Frauen viel zu erzählen haben (immerhin sehen sie einander nur noch selten, seit Claudia in Holland lebt), wird Alice an diesem Nach­mittag nicht lange bleiben können, denn heute ist Freitag. Jeden Freitag pünktlich um siebzehn Uhr fünfzig holt sie die nicht verkaufte Ware vom Biosupermarkt ab, um sie vor der Mülltonne zu retten. Aber dazu später.

Steigen wir noch in das Dachgeschoß. In die Wohnung mit der Nummer 10 (die sich direkt über der Wohnung von Peter Lindner befindet) wird bald Judith Brodkorb mit ihrem Sohn ziehen. Noch weiß niemand von den beiden, in zwei Wochen jedoch wird man sie nicht überhören können.

In der mittleren Dachgeschoßwohnung wohnt seit etwas mehr als einem Jahr Martin Engelmayr mit seiner Freundin Gudrun Sachs und deren fünfzehnjähriger Tochter Leonie.

Martin Engelmayr ist Anfang dreißig. Mit seinen langen, rotblonden Haaren, die er meist oben am Kopf zum Dutt zu­­sammengebunden trägt, dem ebenso rotblonden Bart, den Tattoos auf seinen Oberarmen und dem protzigen Geländewagen auf dem Parkplatz ist er nicht gerade ein Sympathie­träger. Zumal er oft stundenlang auf seinem Balkon steht und raucht. »Bestimmt ein arbeitsloser Schmarotzer!«, heißt es am Papaverweg, wo die Gerüchte schneller von einem Gartentor zum anderen flitzen als der chinesische Bub vom Nachbarhaus auf seinem Skateboard.

Anders als Martin Engelmayr ist seine Freundin Gudrun Sachs eine absolut unscheinbare Frau (sieht man von dem Umstand ab, dass sie acht Jahre älter ist als ihr Lebensgefährte). Nicht dick, nicht dünn, nicht groß, nicht klein, keine Piercings, keine Tattoos. Ihre Kleidung ist dezent, ihr kinnlanger Haarschnitt ebenfalls. Und auch ihre Tochter Leonie (zart, hellbraunes Haar) sieht aus, als könnte sie kein Wässerchen trüben.

Ganz vorne im Dachgeschoß liegt die Wohnung mit der Nummer 8. Azra und Emir Bosić sind gleich nach Fertig­stellung des Hauses eingezogen. Oskar, der das Ehepaar seit beinahe fünfzehn Jahren an seinem Fenster vorübergehen sieht, schätzt die beiden auf Anfang fünfzig. Da die Bosićs zur Zeit ihres Einzugs an die fünfunddreißig gewesen sein müssen und Oskar noch nie Kinder gesehen hat, nimmt er an, dass es keine gibt. Die beiden Eheleute jedoch sind wie zwei ineinander verschränkte Glieder einer Kette. Wenn Herr Bosić auf den Balkon tritt, um eine Zigarette zu rauchen, stellt sich seine Frau dazu, und wenn sie die Blumen gießt, tritt er auf den Balkon und zündet sich eine an. Auch zum Einkaufen gehen die beiden stets zu zweit, dann trägt er den schwarzen Stoffsack, während sie sich die Henkel der geblümten Plastiktasche über die rechte Schulter legt. An den Sonntagnachmittagen gehen die Bosićs spazieren. Dann kommen sie, wie sie gehen: Hand in Hand, mit zum Horizont gerichteten Augen.

Was für eine schöne »Zweinsamkeit«, denkt Oskar manchmal, wenn er die beiden an seinem Fenster vorübergehen sieht.

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