Kitabı oku: «Papaverweg 6», sayfa 3
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»Siehst du die Tussi dort drüben?«
Seit zwei Tagen trägt Fanny ihr rosa gefärbtes Haar in Rastazöpfen. Peter weiß, dass die Fünfzehnjährige gern Gangsta-Rapperin wäre, aber Fanny ist zu schüchtern, niemals wird sie sich auf eine Bühne trauen. Dabei ist sie durchaus talentiert, ihre Texte sind rhythmisch fein gearbeitet, und zu sagen hat sie auch etwas.
Sie stehen ein paar Meter vom Jugendzentrum entfernt. Fanny raucht, und Peter raucht passiv mit, weil Fanny ihn darum gebeten hat. Manchmal will sie mit ihm reden, über ihre Mutter und ihren Stiefvater und deren Erwartungshaltungen, die sie nicht erfüllen kann. Über die Schule und ihre Klassenkameraden, von denen niemand so denkt wie sie. Über Probleme kann Fanny nur reden, wenn sie raucht. (Wozu soll Peter es ihr verbieten? Damit sie es hinter seinem Rücken tut und allein vor sich hin grübelt?)
»Welche Tussi?«, fragt er und blickt in die Richtung, die Fanny mit einem leichten Nicken vorgegeben hat. Er sieht keine Tussi, stattdessen entdeckt er auf der anderen Straßenseite das zarte Mädchen aus dem Dachgeschoß.
»Mannomann, bist du blind, oder was?«, stöhnt Fanny und verdreht die Augen. »Das Elfchen dort drüben mit den langen braunen Haaren!«
»Die gerade hinter dem roten Daihatsu hervorkommt?«
»Siehst du eine andere?«
»Nein.«
»Eben. Das ist eine von den Gelatinis.«
»Von den Gelatinis? Echt? Die sieht gar nicht so aus.«
»Die sehen alle nicht so aus! Das ist ja das Ätzende. Lauter süße Mädchen, die kein Wässerchen trüben können. Die Lehrer lieben sie heiß, also dürfen sie machen, was sie wollen.«
Fanny hat ihm schon einmal von den Gelatinis erzählt. Bei der Clique handelt es sich um eine Art Mädchenmafiabande, deren Treiben darin besteht, alle, die nicht nach ihrer Pfeife tanzen, in den sozialen Medien zu verunglimpfen. Immer schön so, dass es gerade noch legal ist und trotzdem wehtut. Mit den Lehrern zu sprechen sei – laut Fanny – zwecklos, denn die vier Mädchen haben gute Noten und sind beim Lehrpersonal beliebt.
»Und wie heißt das Mädchen?«, fragt Peter.
»Die?« Fanny drückt die Kippe mit der Schuhspitze aus und hebt sie hoch, um sie zum Mistkübel zu tragen.
»Leonie.«
Leonie? Heißt die Kleine aus dem Dachgeschoß Leonie?
»Und die anderen?«, fragt er.
»Wie, die anderen?«
»Na, die anderen Gelatinis. Die haben ja hoffentlich Namen. Angela! Livia! Rosalinda! Vincenza!«
Fanny lacht.
»Tabea, Rebecca und Pamina.«
Na bitte!
»Pamina? Wie in der Zauberflöte?«
»Keine Ahnung. Die Pamina, die ich meine, heißt so. Gehen wir wieder rein?«
Peter nickt. »Aber die Zauberflöte sagt dir schon etwas, oder?«, fragt er, als er die Glastür aufstößt und für Fanny offen hält.
»Dieses altmodische Kindermusical von diesem Mozart?«
Fanny, Fanny! Was die für Ideen hat. Obwohl: Peter kann die Zauberflöte auch nicht hören. Zwar kann er mit Rapmusik noch weniger anfangen, aber dieses »Heissa Hopsassa« treibt ihn regelrecht in den Wahnsinn.
»Kindermusical!« Er lacht. »Vielleicht solltest du die Werbung für die Staatsoper übernehmen, ein Musical verkauft sich bestimmt besser als eine Oper! Nur das ›altmodisch‹ würde ich streichen.«
»Ha, ha! Sehr witzig!«
»Nein, Fanny, gar nicht witzig. Die Werbebranche könnte wirklich was sein für dich. Überleg dir das mal!«
Sie bleibt stehen und funkelt ihn an. »Ich und Werbung? Träum weiter! Mit meinem Zeugnis kann ich Klofrau werden!«
»Hey, das will ich nicht mehr hören, klar? Du hast Talent! Nur weil ein paar deiner Lehrer das nicht erkennen, heißt das noch lange nicht, dass ich nicht recht habe.«
»Du bist ein Träumer, Peter Lindner. Und ein Freak obendrein. Aber ein lieber.«
Sie lächelt ihn traurig an. Was bringt es mir schon, wenn du an mich glaubst?, sagen ihre Augen.
Er sieht ihr dabei zu, wie sie sich zu den Jungs an den Fußballtisch stellt. Ein Träumer, klar. Ein »Freak«! So haben schon viele über ihn gedacht. Seine ehemaligen Schulkollegen, die Vollidioten, die er in der Lehre kennengelernt hat, und die Typen in der Fabrik sowieso. Selbst seine Eltern haben in ihm nur den Alien gesehen. Und ein paar Frauen würden Fanny wohl ebenfalls recht geben, nur dass sie es nicht als Kompliment sehen, wenn sie ihm sagen, dass er ein »Träumer« oder gar ein »Freak« sei.
Vielleicht ist das der Grund, warum er das Mädchen mit den rosa Rastazöpfen und auch die anderen Teenager hier so mag. Sie sind ihm ähnlicher als alle anderen, die er in seinem verkorksten Leben kennengelernt hat.
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Während Oskar an der Kassa steht (nun hat er es doch noch zum Supermarkt geschafft), während er nach seiner Geldbörse greift und eilig einen Fünfziger herauszieht, um die anderen in der Schlange nicht mit dem Zählen der Münzen aufzuhalten (zu Hause wird er das Kleingeld wieder in eines der beiden großen Gurkengläser werfen), betritt Peter das Geschäft von der anderen Seite.
Würden beide ihren Blick heben und auf die große Glastür schauen, würde Peter den seinen nicht zielstrebig auf die Obstabteilung richten und Oskar den seinen nicht auf die Geldbörse, dann könnten sie einander zuwinken. So aber lenkt Oskar seinen Rollator neben die Einkaufswagen, wo er ein paar Sekunden stehen bleibt, um die Geldbörse sowie die Einkäufe in die Leinentasche zu legen, während Peter nach einer Plastikschüssel mit Weintrauben greift und noch eine Banane darauflegt. Was soll er heute essen? Germknödel hatte er gestern, Kochsalat mit Debreziner vorgestern. Kartoffelpuffer? Zu aufwendig. Auf Tiefkühlpizza hat er auch keine Lust, also spaziert er ohne bestimmte Idee zur Fleischtruhe und entscheidet sich kurzerhand für eine Tasse mit Suppenhuhnstücken und vorgeschnittenem Wurzelwerk. Zwar sagt man, Hühnersuppe sei etwas für Kranke, aber es kann nicht schaden, vorzubeugen. Noch ein Säckchen Backerbsen sowie eine Großpackung Schokoriegel (Eigenmarke Discounter) und dann ab zur Kassa.
Was für ein Glück, die Schlange ist nicht lang, auch scheint er eine flotte Kassiererin erwischt zu haben. Er legt die Einkäufe auf das Förderband und sieht sich gelangweilt um. In der Schlange nebenan erkennt er die Mutter eines Jugendlichen, der bis vor einem Jahr noch regelmäßig ins Jugendzentrum gekommen ist. Er sieht der Frau dabei zu, wie sie den Einkauf auf das Band legt, und stellt sich vor, was seine Kollegin wohl zu dem Coca-Cola und dem großen Plastikbecher mit dem Vanillepudding sagen würde. Birgit regt sich oft und gerne darüber auf, dass sich die Jugendlichen hauptsächlich von »künstlichem Mist« ernähren. Aber Birgit ist kein Maßstab. Birgit fände selbst die Idee, sich ein in Plastik verpacktes Suppenhuhn zu kaufen, abstoßend.
Die Mutter des Buben blickt kurz zur Seite, an Peter vorbei, und starrt dann wieder auf den Rücken des Mannes vor ihr. Währenddessen wiegt die Kassiererin Peters Banane und zieht die restlichen Lebensmittel über den Scanner. Er steckt alles in den Plastiksack, zahlt und verlässt den Supermarkt. Schlendert die Straße entlang und lässt den Einkaufssack schwingen. Die Abgase der Autos kratzen im Hals, auch ist ihm ein wenig kalt, er hätte statt des Schirms eine Jacke mitnehmen sollen. Jetzt freut er sich auf die warme Suppe und den freien Abend. Er lässt den Sack heftiger schwingen und singt leise vor sich hin: »Suppenhuhn, Suppenhuhn, ach, wie ist das Leben dumm!«
Am Papaverweg angekommen, sieht er gerade noch, wie der Alte mit seinem Rollator um die Ecke biegt. Peter verlangsamt seinen Schritt. Er wird bis zur Parallelgasse gehen und über einen Umweg von unten hinauf in den Papaverweg einbiegen. Bis dahin wird der Zimmermann hoffentlich in seinem Haus verschwunden sein. Aus irgendeinem Grund, den sich Peter nicht erklären kann, plaudert der Nachbar von gegenüber besonders gern mit ihm. Schon einmal ist Peter das Tiefkühlgemüse an seinem Zaun aufgetaut, bloß weil er nicht und nicht zu reden aufhören wollte, immer wieder fiel ihm etwas ein, und dann noch etwas und noch etwas und: »Ach ja, was ich Sie noch fragen wollte!«
Peter schwenkt den Sack und schlendert die Thujenhecken entlang. Hier, nur eine Gasse weiter, verstecken sich die Menschen, gibt es nichts zu sehen als Grün und nochmals Grün, anders als am Papaverweg, wo alle Häuser nur hüfthohe Mauern und Zäune aus Maschendraht haben. Wer nicht gesehen werden will, der sieht auch selbst nichts, denkt Peter, und dass das nicht gut wäre für den alten Zimmermann und die Tratschgans aus dem Erdgeschoß. Die Leute am Papaverweg schauen gern, das Schauen und Tratschen, so kommt es ihm vor, halten die Menschen in seiner Gasse am Leben.
An der Gabelung bleibt er stehen und späht vorsichtig um die Ecke. Vom Alten und seinem Rollator ist nichts mehr zu sehen, auch sonst wirkt die Gasse, als wäre die Menschheit ausgestorben. Keine lärmenden Menschen, keine brummenden Autos, keine knatternden Motorräder. Hier ist die Welt noch in Ordnung, zumindest sieht es auf den ersten Blick so aus, auch wenn der Schein trügt, wie Peter inzwischen weiß. (Aber das, was sich hinter den Wänden abspielt, geht ihn nichts an. Das ist ja das Schöne am Leben in der Großstadt: dass man sich aus allem raushalten darf.)
Er biegt in den Papaverweg ein, schleicht an den unteren Häusern vorbei, an den Mülltonnen und Autos und öffnet das niedrige Gartentürchen, das seine Ankunft mit einem penetranten Quietschen ankündigt. Dann folgt er dem mit Steinplatten ausgelegten Weg zur Eingangstür, kramt den Schlüssel aus der Hosentasche und sperrt auf. »Suppenhuhn, Suppenhuhn«, flüstert er, als er zielstrebig zu den Postkästen tritt. Dort hebt er zuerst die eigene Klappe (nichts drin), lässt sie wieder fallen, blickt kurz hinter sich und widmet sich dann der Klappe seiner Nachbarin. Hat er sich’s doch gedacht! Der Briefumschlag liegt noch drin, die Werbeprospekte jedoch, die er vor zwei Tagen hineingeworfen hat, sind verschwunden.
In Gedanken vor sich hin pfeifend, schleicht er die Stufen zum ersten Stockwerk hoch. Im Stiegenhaus riecht es nach Moschus, Zimt und Kreuzkümmel. Ist der Ägypter also wieder in der Stadt gewesen, und nun kocht er sich seinen Couscous.
Peter geht an Alices Wohnung und der von Zelechowski vorbei und bleibt vor der Tür mit der Nummer 6 stehen. Stellt fest, dass die Benachrichtigung des Gerichtsvollziehers noch immer dort steckt. Dabei muss Muggi in der Zwischenzeit hier gewesen sein, sonst würden die Werbeprospekte noch in ihrem Postkasten liegen.
»Wie überaus interessant!«, murmelt er, dann tritt er vor die eigene Tür und sperrt auf. Geht in die Wohnküche, in der es nach Lack und Schmieröl riecht, stellt den Einkaufssack auf den Sessel und drückt auf den Knopf der Espressomaschine. Es ist eine jener alten Maschinen, wie man sie normalerweise nur in Kaffeehäusern findet. Vor ein paar Jahren sprang sie Peter auf willhaben.at ins Auge, seitdem steht sie hier.
»Suppenhuhn, Suppenhuhn, bald wirst du im Topfe ruh’n!«, singt er ausgelassen, dann stellt er einen großen Topf Wasser auf den Herd, lässt die Hühnerstücke und das vorgeschnittene Wurzelwerk hineinplumpsen und schält einen der Schokoriegel aus seiner Plastikverpackung.
10
Wie jeden Freitagabend kommt Alice kurz nach sieben Uhr nach Hause. Stellt die Ikea-Tasche im Vorzimmer ab, streift den großen Rucksack von den Schultern und läuft die Treppen erneut hinunter, um den schweren Trolley Stufe für Stufe in den ersten Stock zu ziehen.
Vorhin, nach ihrer Rückkehr vom Biosupermarkt, hat sie bei Herrn Zimmermann an der Tür geläutet. Diesmal hat er ihr nicht viel abgenommen, nur einen halben Wecken Brot, zwei Tomaten und ein Bund Radieschen.
Seitdem der alte Mann sie auf die vielen Taschen angesprochen hat, die sie alle paar Tage nach Hause schleppt, und sie ihm erklärt hat, was sie damit bezweckt (»Ich rette die nicht verdorbenen Lebensmittel vor der Mülltonne, Herr Zimmermann!«), läutet sie jeden Dienstag und Freitag an seiner Tür, um ihn etwas von der geretteten Ware aussuchen zu lassen. Mittlerweile hat er keine Scheu mehr, wenn sie die Taschen in seinem Vorzimmer abstellt, und wenn sie ihm Samstagvormittag etwas Selbstgekochtes bringt, scheint er sich aufrichtig zu freuen.
»Wissen Sie was, liebe Alice?«, sagte er, als er vorhin in ihre Tasche griff. »Weil ich doch jetzt so vieles gratis bekomme, sammle ich jede Münze, die mir im Supermarkt herausgegeben wird, in zwei großen Gurkengläsern. Die bekommen dann meine Enkelkinder.«
Was für eine entzückende Idee! Sie muss unbedingt Henrik davon erzählen, vielleicht kann er die Anekdote in einen seiner Vorträge einbauen.
Sie beginnt, das Gemüse aus den Taschen zu räumen. Sieht Herrn Zimmermanns funkelnd blaue Augen unter den dichten Augenbrauen vor sich, die aufmerksam jeden ihrer Handgriffe verfolgen. Die Alten sind nicht so rückständig, wie manche behaupten. Man muss ihnen nur ein bisschen Zeit geben, muss mit ihnen plaudern und ihnen das Gefühl geben, dass auch sie etwas bewirken können. Als sie Herrn Zimmermann bei ihrem ersten Besuch erklärt hat, warum sie zweimal die Woche mit ihrem Trolley und dem Wanderrucksack loszieht, hat er sehr schnell begriffen, worum es den Mitgliedern von No Waste! geht. Ganz entsetzte Augen machte er, als sie ihm erzählte, wie das in den Supermärkten und den Backshops abläuft und welche Mengen tagtäglich in die großen Müllcontainer geworfen werden, nur damit die Kunden auch dreißig Minuten vor Ladenschluss noch volle Regale vorfinden. Dass das eine Verhöhnung all jener sei, die sich auf den Feldern und in den Backstuben abrackern, wenn man am Ende einfach alles in die Container kippe, hat sie sich in Rage geredet.
»Aber wenn ich für die Lebensmittel nicht bezahle, verdienen dann die Bauern und Bäcker nicht noch weniger?«, setzte er ihr entgegen.
Also führte sie ihre Rede weiter aus: »Wenn wir wieder bewusster einkaufen, wenn die Lebensmittel endlich wieder verbraucht statt weggeworfen werden, wird die Lebensmittelindustrie gezwungen sein, umzudenken. Der Markt richtet sich nach der Nachfrage. Was wir erreichen wollen, ist, dass die Menschen das durchschauen. Es liegt auch an unserem eigenen Kaufverhalten, wie Lebensmittel gehandelt werden. Wenn Sie heimische Bauern unterstützen wollen, dann kaufen Sie regionale Produkte, Herr Zimmermann. Geben Sie am richtigen Ort ein bisschen mehr Geld aus und holen Sie sich dieses Geld zurück, indem Sie sich aus meiner Tasche bedienen.«
Wie verschmitzt er sie angelächelt hat. »Sie haben vollkommen recht, liebe Nachbarin! Dann lass ich mein schlechtes Gewissen ab jetzt fahren und bin so frei.«
Alice mag den alten Mann. Lehrer für Französisch und Biologie ist er gewesen, »vor einer halben Ewigkeit«, wie er selbst gemeint hat. »Ich bin jetzt mehr als ein Vierteljahrhundert in Pension. Ist das nicht eine herrliche Ressourcenverschwendung?«
Auch Claudia war ganz angetan, als Alice ihr am Nachmittag von ihrem Nachbarn erzählte – von seiner Schlabberweste, den Haarbüscheln in seinen Ohren und den schmalen, blauen Augen unter den wilden Augenbrauen.
»Den stell ich mir ja entzückend vor! Aber pass auf, dass du ihn nicht am Hals hast, Alice. Nicht, dass er sich zu sehr an dich hängt. Oder dass er sich gar in dich verknallt!«
Alice schüttelte den Kopf. »Nein, so einer ist er ganz bestimmt nicht.«
Sie holt das Gemüse Stück für Stück aus dem Trolley und legt es auf den Tisch. Die nächsten zwei Stunden wird sie damit zubringen, den Salat von den welken Blättern zu befreien, das überreife Obst zu verarbeiten und das Gemüse zu schneiden. Viel Zeit hat sie nicht, es wird also wieder ein Eintopf werden.
Die Joghurts, einen großen Teil des Blattsalats und das Obst wird sie anschließend ins Foyer des Jugendzentrums bringen, wo seit ein paar Wochen der neue FreeFoodFridge steht, einer jener öffentlichen Kühlschränke des Vereins, in dem das gerettete Essen zwischengelagert wird, bis es von jemandem, der es brauchen kann, geholt wird. Seitdem es einen solchen Kühlschrank auch in ihrer Nähe gibt, ist das Verteilen der Lebensmittel wesentlich einfacher gewor-den. Die Mohnweckerln, Kornspitze, Topfengolatschen und Semmeln sind bei den Jugendlichen heiß begehrte Ware, und auch die Joghurts gehen meist weg. Das Gemüse wurde bis vor Kurzem vor allem von den Jugendarbeitern mitgenommen, aber in den letzten Wochen kommen nun auch die Bewohner der umliegenden Gemeindebauten, um sich etwas davon zu holen. Es dauert meist eine Weile, bis sich herumspricht, dass die gerettete Ware in Ordnung ist und keineswegs nur den Obdachlosen gehört.
Manchmal, wenn Alice beim Küchentisch sitzt und Gemüse klein schneidet, erinnert sie sich an ihren allerersten Einsatz als Lebensmittelretterin. Obwohl außer ihr noch zwei junge Männer gekommen waren und sie extra den großen Rucksack mitgenommen hatte, musste ihr der Supermarktangestellte eine Bananenschachtel heraussuchen, damit sie ihren Anteil nach Hause tragen konnte. Nachdem sie das viele Gemüse und Obst auf den Tisch gelegt hatte, bekam sie augenblicklich die Panik. Wie sollte sie das alles essen? Schließlich holte sie die Töpfe aus dem Schrank, begann zu kochen und fror am Ende das meiste ein. Den Salat, die Joghurts, die Radieschen und Semmeln nahm sie tags darauf in die Vorlesung mit, um sie den anderen in die Hände zu drücken. Zu ihrer großen Enttäuschung fand sie, als sie das Universitätsgebäude am Abend wieder verließ, einen der Salatköpfe in dem Mistkübel am Ausgang, ein Bund Radieschen lag auf einer Bank bei der Straßenbahnhaltestelle.
Lektion eins: Verteile nur dort, wo du dir sicher sein kannst, dass man dir die Ware nicht nur aus Verlegenheit abnimmt.
Bevor sie die nächste Rettungsaktion in Angriff nahm, luchste sie ihrer Mutter den alten Einkaufstrolley ab und überlegte, an welchen Orten es Sinn machte, die Lebensmittel zu verteilen. Erst danach begleitete sie die anderen erneut. Spazierte direkt vom Supermarkt in einen nahe gelegenen Park, in dem ihr ein Obdachloser und ein Pärchen etwas abnahmen, und fuhr anschließend zum Jugendzentrum, wo man sich über das Gebäck, den Frischkäse und die Joghurts freute. Erst danach ging sie nach Hause. Putzte das Gemüse, bereitete Karottensuppe und Gemüsestrudel zu, kochte Apfelmus ein und grillte den geschnittenen Paprika, um ihn anschließend in Olivenöl einzulegen. Danach fotografierte sie alles, was sie selbst nicht brauchte, und stellte die Fotos auf die Facebook-Seite von No Waste!, wo die geretteten Lebensmittel für die Abholung reserviert werden konnten. Dann füllte sie den gegrillten Paprika in leere Gläser, behielt die Kommentare auf Facebook im Auge, antwortete, lief zur Gegensprechanlage, öffnete die Wohnungstür, plauderte mit einem jungen Pärchen, das sich Obst und Apfelmus abholte, trank mit einem älteren Mann, der ein großes Stück vom Gemüsestrudel aussuchte und im Gegenzug eine Flasche Landwein mitgebracht hatte, ein Glas, bekam ein bisschen Angst, als der Mann keine Anstalten machte, nach Hause zu gehen, atmete erleichtert auf, als er es dann doch tat, und nahm sich vor, die Lebensmittel in Zukunft direkt an der Tür zu übergeben.
Lektion zwei: Die Übergabe muss schnell gehen.
Zwei Wochen später musste sie die Einmachgläser ausleeren, da der Paprika zu schimmeln begonnen hatte. Das war der Zeitpunkt, an dem sie beinahe aufgegeben hätte.
»Lektion drei: Wie mache ich Lebensmittel haltbar?«, fasste sie für Claudia zusammen, die daraufhin in einen Lachkrampf ausbrach.
»Gott sei Dank gibt es jetzt den FreeFoodFridge«, sagte Alice. »Seitdem ist es easy. Ich leg die Sachen rein, und das war’s.«
»Wahnsinn!«, rief Claudia. »Wie sehr du dich verändert hast!«
Wie schön, Claudia wieder gesehen zu haben. Seit fünf Jahren lebt Alices ehemalige WG-Genossin nun schon in Amsterdam. Seitdem gibt es niemanden mehr, mit dem sie in der Art und Weise reden kann, in der man es nur mit der besten Freundin tut.
Alice steht auf und geht zum Schreibtisch. Öffnet das Musikprogramm auf ihrem Laptop, entscheidet sich für Ana Moura und schaltet die Lautsprecherboxen ein. Danach holt sie das große Holzbrett aus dem Unterschrank und sieht auf die Uhr. Wenn sie nicht zu spät kommen will, muss sie sich beeilen, in einer Stunde beginnt Henriks Vortrag, und sie hat ihm versprochen, bis neun Uhr mit dem Eintopf nachzukommen. Diesmal hat man ihn in das Vereinslokal eines Fotoklubs bestellt, einer der Fotografen hat eine Bildreportage über Henriks Tätigkeit als Lebensmittelretter gemacht, woraufhin die anderen im Klub neugierig geworden sind.
Alice greift nach einer Karotte. Ihre Eintöpfe, Aufläufe und Gemüsekuchen kommen bei den Informationsveranstaltungen gut an, der Gaumen ist eben doch der beste Beweis dafür, dass an den Sachen, die sie am Ende des Tages abholen, nichts faul ist.
Schade, dass Claudia keine Zeit hat, sie zu begleiten.
»Ich treffe mich noch mit Elias, und danach muss ich mir ein bisschen Zeit für meine Schwester nehmen. Heimatbesuche sind extrem stressig, tut mir leid!«, erklärte sie mit bedauerndem Blick, nachdem Alice sie gefragt hatte, ob sie nicht Lust hätte, mitzukommen.
Der Satz tat ihr weh. Sie ist jetzt eine von vielen, die Claudia treffen möchte, wenn sie nach Wien kommt. Eine von vielen, die Claudia wieder vergisst, sobald sie in den Bauch des Fliegers steigt. Ihr Lebensmittelpunkt liegt in Holland. Dort hat sie neue Freundinnen, mit denen sie ins Café oder ins Kino geht. Neue Freundinnen, von denen sie Alice erzählt, wenn sie – nur mehr sehr selten – via Skype miteinander telefonieren.