Kitabı oku: «Papaverweg 6», sayfa 4

Yazı tipi:

11

Ein paar Wochen nachdem Claudia nach Amsterdam gezogen war, stellte Alice fest, dass sie sich das WG-Leben mit niemand anderem als ihrer besten Freundin vorstellen konnte. Also begann sie, die Immobilienseiten und Facebook-Gruppen zu durchforsten, um sich nach einer kleinen Mietwohnung umzusehen. Noch bevor sie etwas Passendes gefunden hatte, lernte sie Mike kennen. Er war ein paar Jahre älter als sie, hatte gerade das Studium für Medien & Design absolviert und war nach Wien gekommen, um eine Stelle in einem Start-up anzunehmen. Sie lernten einander auf einer Party kennen. In der Küche, über einem Teller mit Heidelbeermuffins. Griffen in derselben Sekunde nach demselben Muffin und lachten. Blieben sitzen und schlugen sich die Bäuche voll, prosteten einander mit Rotwein zu und waren froh, jemanden zum Plaudern gefunden zu haben, denn weder Mike noch Alice kannten die anderen Gäste. Im Laufe des Abends erzählte Alice von dem Blog, den sie starten wollte, worauf Mike ihr anbot, ihr als Experte zur Seite zu stehen. Als Mike und sie ein Paar wurden und er vorschlug, dass sie doch zu ihm ziehen könne, suchte Alice statt nach einer neuen Wohnung nach Nachmietern und übergab die Wohnung, in der sie drei Jahre lang mit Claudia gewohnt hatte, an zwei junge Studentinnen.

Kein Jahr danach bekam Mike ein Jobangebot aus Berlin. Offensichtlich war das ihr Schicksal: dass alle, die sie besonders gern mochte, das Land verließen.

Mike packte seine Sachen und schlug ihr vor, mit ihm zu kommen. Ein Angebot, das sie keine Sekunde lang ernst nahm. Erstens, weil sie beide wussten, dass sie sich zwar gut verstanden, aber nicht genug liebten, um gemeinsam in einer neuen Stadt von vorne zu beginnen, zweitens, weil Alice Wien ohnehin nicht verlassen hätte. Sie wollte ihr Studium an der BOKU beenden, außerdem fand sie Berlin nicht so toll, um dort leben zu wollen.

Auf Mikes Übersiedelung folgten zwei Monate Liebeskummer (ja, er ging ihr dann doch ab) und der Umzug an den Papaverweg. Seitdem lebt sie hier. Zwar ist ihre Wohnung nicht perfekt – hellhörig ist sie (was Alice jedoch nicht sehr stört), und so billig wie ursprünglich gedacht ist sie auch nicht, weil es jedes Jahr eine saftige Nachzahlung gibt –, aber Alice mag die kleine Gasse mit den Einfamilienhäusern. Sie mag das Laub, das der Wind jeden Herbst durch die Gassen fegt, und sie mag die Nähe zur Alten Donau. Sie mag es, dass die U-Bahn, die ins Zentrum führt, gerade einmal sieben Gehminuten entfernt liegt, und sie mag den Bus, der sie an den Stadtrand bringt, dorthin, wo der Wind über die Ähren der Weizenfelder streicht und ihr den Kopf leerfegt.

Wenn sie anderen verrät, wo sie wohnt, wird sie manchmal bedauernd angeschaut. Immer noch haben die Bezirke jenseits der Donau keinen guten Ruf, zu arm, zu hässlich, zu modern, zu billig, zu wenig hip, heißt es oft. Bei dem Wort »Donau­stadt« denken viele an den Kaisermühlenblues oder den Rennbahnweg, an Messerstechereien und rohe Gewalt, an Bier­bäuche und Ruderleibchen. Auch an den Film Nordrand denken einige, obwohl Alices Gasse gar nicht im Norden der Stadt, sondern im Osten liegt. Aber für jene, die gern schimpfen, hat es noch nie einen Unterschied gemacht, an welchem Rand sie wohnt. »Transdanubien«, ätzen sie, »dort möcht ich nicht einmal begraben sein!«

Seit ihrem dritten Studienjahr – Alice hat zuerst das Bachelorstudium der Volkswirtschaftslehre begonnen und ist dann auf Umwelt- und Bioressourcemanagement umgestiegen – kommt sie für ihre Miete selbst auf. Zwar verdient ihr Vater nicht schlecht, reich sind ihre Eltern jedoch nicht. Außerdem wollte sie so schnell wie möglich unabhängig sein. Also regis­trierte sie sich auf diversen Freelancer-Plattformen, verfasste Produktbeschreibungen und Ratgebertexte, schrieb Texte für Landingpages und saugte sich Reiseberichte für diverse Hotels und Reisebüros aus den Fingern, und das, ohne die Orte, über die sie schrieb, jemals besucht zu haben. Drei Cent pro Wort erhielt sie anfangs. Das hieß, dass sie lernen musste, ihren Perfektionismus sausen zu lassen. Qualitativ hochwertig war das, was sie abgab, nicht, aber das wurde auch gar nicht verlangt.

Die Erfahrungen, die Alice als Texterin sammelte, passten besser zu ihrem Studium als jeder andere Job. Wenn du für ein Unternehmen, das seinen Sitz im Ausland hat, um Steuern zu sparen, den ganzen Tag am Laptop sitzt und dabei gerade einmal acht Euro brutto in der Stunde verdienst, lernst du auch etwas über Volkswirtschaft. Und wenn du nach seitenlangem Werbeblabla in den Supermarkt gehst, um das, was du soeben mühsam verdient hast, in nur fünf Minuten wieder auszu­geben, lernst du sogar mehr, als wenn du einen Vortrag über Mikroökonomie besuchst.

Als ihr eigener »Marktwert« stieg und sie immer wieder größere und auch spannendere Aufträge erhielt, wurde es einfacher. Über ein Freelancer-Portal stieß Alice schließlich auf die Ausschreibung eines Psychiaters aus Würzburg, der nach einer Schreibkraft suchte, die für ihn transkribierte. Der Psychiater zahlte einen anständigen Preis, außerdem empfand Alice die Arbeit als entspannend und durchaus interessant. Vor allem aber war es endlich einmal etwas Dauerhaftes, das ihr immerhin die halbe Miete einbrachte.

Im Gegensatz zu ihren Kommilitonen, die hinter einer Bar oder an einer Kinokassa jobbten, konnte sich Alice ihre Zeit frei einteilen. Wenn sie sich für eine Prüfung vorbereitete, nahm sie weniger Textaufträge an, hatte sie mehr Zeit, holte sie wieder auf. Bald war sie routiniert, sie schrieb schnell und zuverlässig, man mochte ihren Stil, das sprach sich herum. Abgesehen davon wäre sie ohne die vielen Produktbeschreibungen für allerlei unnötigen Krimskrams (wie etwa eine lachende Wandsonne aus Holz um stolze 199 Euro) und die vielen Rezeptideen, die sie für eine vegane Produktreihe kre­ierte (der erste Auftrag, der ihr Spaß machte), nie auf die Idee gekommen, einen eigenen Blog zu schreiben. Auf alice-im-warenland.at begann sie, gegen jenen Kaufwahn vorzugehen, den sie, um ihre Miete zu verdienen, mit Werbe­texten anheizte. Auf ihrem Blog wollte sie beweisen, dass es auch anders geht. Dass ein Leben ohne Schnickschnack möglich ist. Dass Glück nicht daher rührt, dass man das neueste Handy besitzt und die modernsten Klamotten trägt.

Es war die Zeit des Do-it-yourself-Booms, und Alice sprang auf den Zug auf. Sobald sie das Geld für die Miete beisammenhatte, stellte sie sich in den Lernpausen in die Küche. Neben praktischen Anleitungen, wie man ressourcenschonend kocht und ohne Giftstoffe putzt, widmete sie sich in ihren Blogbeiträgen vor allem der Vermeidung von Haushaltsmüll. Ein Thema, das ihr bald so ans Herz wuchs, dass sie es auch für ihre Masterarbeit wählte. Die allwissende Müllhalde – Erforschung des privaten Mülls und daraus resultierende Strategien zur Ressourcenschonung lautete der Titel, den sie bis zuletzt gegen den Rat ihres Betreuers verteidigte. Durch die Arbeit an ihrer Masterarbeit lernte sie auch die Plattform No Waste! kennen und trat ihr schließlich als aktives Mitglied bei. Sieben Monate nach ihrem ersten Einsatz als Lebensmittelretterin sah sie Henrik das erste Mal. Verknallte sich bis über beide Ohren in ihn und stürzte sich in eine Liebes­beziehung, die von Anfang an keine »richtige« Beziehung sein durfte, da Henrik zwar an die Liebe glaubt, nicht jedoch an die Monogamie, die in seinen Augen nur ein weiterer Beweis dafür ist, dass die westliche Gesellschaft an einer krankmachenden Besitz- und Kontrollsucht leidet. Eine Zeitlang versuchte sie, sich vom eigenen Besitzdenken zu kurieren – weil das, was Henrik sagte, tatsächlich logischer klang als ihre eigenen Hollywood-Phantasien. Was für einen Unterschied machte es für sie, ob er an den Tagen, an denen sie einander nicht sahen, eine andere küsste? Also lernte sie (um sich von ihrer Eifersucht abzulenken) noch intensiver, feilte an ihrer Masterarbeit, ließ sich, als aus der Plattform No Waste! ein Verein wurde, in den Vorstand wählen, lernte eine Menge nachhaltiger Projekte und Initia­tiven kennen, berichtete darüber auf ihrem Blog, büffelte für die letzten Prüfungen, hatte Angst, nicht zu bestehen, bekam Panikattacken, konnte kaum noch schlafen, schluckte eine Menge Rescue-Tropfen und Innere-Stärke-Globuli und beendete ihr Studium schließlich mit Auszeichnung. Danach fuhr sie mit Henrik nach Spanien, kam verfrüht nach Wien zurück, feilte an dem Sachbuchmanuskript, das seit zwei Jahren beinahe fertig in ihrer Schublade lag (Arbeitstitel: Ein Leben ohne Müll), schickte es in einem Anflug von Mut an drei Verlage, die sich für das Thema Nachhaltigkeit interessierten, und erhielt keine drei Wochen später das Mail einer Münchener Lektorin, die ihr Interesse kundtat und Alice bat, sich ein wenig zu gedulden, da gerade Urlaubszeit sei und sie sich noch mit ihrem Team besprechen wolle.

So weit, so gut. Trotzdem. Wenn sie sich nicht bald nach einem Job umsieht, wird sie ihre Miete weiterhin als Texterin verdienen müssen. Die Frage ist, ob sie das will. (Die Frage ist, was sie überhaupt will. Eine Frage, die sie seit Wochen von einem auf den anderen Tag verschiebt.)

Wenigstens spart sie durch ihre Tätigkeit als Lebensmittelretterin so viel Geld, dass sie es sich jetzt leisten kann, jene Aufträge abzulehnen, die ihrer eigenen Überzeugung widersprechen. (Nie wieder Produktbeschreibungen für sinnloses Dekorationsmaterial, Plastikspielzeug und Handyhüllen!)

Bis zu zehn Stunden pro Woche verbringt Alice mit dem Abholen, Aussortieren, Kochen und Verteilen. Dienstagabend holt sie das nicht verkaufte Gebäck einer nahe gelegenen Bäckerei, Freitagabend fährt sie mit der U-Bahn zu einem Biosupermarkt. Darüber hinaus springt sie manchmal ein, wenn einer der Lebensmittelretter ausfällt oder bei einer Firmenfeier etwas übrig bleibt. Alice sieht es als Job. Ein Job im Dienst der Zukunft.

»Eine Win-win-Situation!«, sagte sie zu Claudia, als sie am Nachmittag von ihrer Tätigkeit erzählte, worauf die Freundin sie skeptisch anschaute.

»Hast du dich eigentlich schon irgendwo beworben?«

Claudias Frage verschlug Alice die Sprache. Seitdem spürt sie einen Knoten im Bauch und ein Kribbeln in den Wangen. Seit Claudias Frage hat sie den Wunsch, die Vorhänge vor die Fenster zu ziehen, das Handy auszuschalten und sich ins Bett zu legen.

Sie schwitzt die Zwiebeln in Öl an und reduziert die Hitze. Die Zwiebeln müssen mindestens drei Minuten im heißen Öl gewendet werden. Das hat sie mit der Zeit herausbekommen: Wenn sie sich für die Zwiebeln keine Zeit nimmt und auch das Gemüse nicht lange genug röstet, schmeckt der Eintopf nicht einmal halb so gut. Sie öffnet das blaue Kästchen mit den Gewürzen. Entscheidet sich für eine Paprika-Chili-Mischung, Sternanis, Koriandersamen und ein wenig Curry. Während der Eintopf vor sich hin köchelt, steigt sie unter die Dusche. Wenigstens verlangt Henrik nicht von ihr, dass sie sich nach einem Job umsieht. Das war ja auch einer der Gründe, warum sie sich so in ihn verliebt hat – damals, vor etwas mehr als einem Jahr. Weil er nicht so denkt wie die meisten. Weil er nicht der Ansicht ist, dass es das Wichtigste sei, in einem tollen Job zu landen, Karriere zu machen und am besten noch Kinder in die Welt zu setzen, um dann alles richtiger zu machen als alle anderen Generationen davor.

12

Zwei Wochen später zieht Judith Brodkorb in die Wohnung unter dem Dach. Bereits um halb sieben Uhr morgens steht der weiße Lieferwagen auf dem Parkplatz. Als Oskar sich an sein Küchenfenster stellt (heute hat er lange und tief geschlafen), sieht er zwei Männer am Wagen lehnen und rauchen. Einer von ihnen ist schon etwas älter und ziemlich dick, der andere ist jung und athletisch gebaut. Nur an der langen, geraden Nase, die beiden aus dem Gesicht ragt und die Oskar ein wenig an Pinocchio erinnert, erkennt er, dass die beiden miteinander verwandt sein müssen. Wahrscheinlich Vater und Sohn.

Es ist ein Samstagmorgen Mitte September. In Oskars Küche gurgelt die Melitta-Kaffeemaschine, aus dem Radio dringt Franz Schuberts Grazer Galopp. Die meisten Wohnungen gegenüber sind noch hinter den Rollos versteckt, nur die Bosićs haben ihre Fenster sperrangelweit offen stehen, um die frische Morgenluft ins Zimmer zu lassen, und auch Hamed hat vorhin seine Balkontür geöffnet und zu Oskar herübergewinkt.

Oskar stellt sich an die Anrichte, greift in den Brotkasten und holt den Dinkelstriezel heraus. Eigentlich hat er ihn Alice am Dienstag nur aus Höflichkeit abgenommen – sie hat darauf bestanden, dass er ihn kosten und ihr, sollte er ihm tatsächlich nicht schmecken, wieder zurückgeben soll –, jetzt ist er enttäuscht, dass kaum noch etwas davon übrig ist.

Er schneidet sich zwei dicke Scheiben herunter und holt die Butter aus dem Kühlschrank. Haarsträubend, welch exquisite Dinge in den Kaufhäusern und Bäckereien am Ende des Tages übrig bleiben! Die Jungen haben schon recht, wenn sie sich die Lebensmittel gratis abholen. Damit sparen sie nicht nur eine Menge Geld, sondern setzen obendrein ein Zeichen. Fast schon unheimlich, wie sehr sich die Jugend verändert hat. Oder kommt es ihm nur so vor? Als er ein junger Lehrer gewesen ist, haben die Schüler und Studenten noch lautstark revoltiert (sogar neben das Rektorenpult haben sie gekackt!), um die Gesellschaft aufzurütteln, heute setzen sie sich hinter ihre Computer, gründen Plattformen und basteln an Aufklärungsvideos, die sie dann über die sozialen Netzwerke verbreiten.

Vorige Woche hat er sich gemeinsam mit seiner Enkeltochter durch Alices Internetseite geklickt. Ganz angetan ist Lilli von den Beiträgen und Videos gewesen. Vor allem aber gefällt ihr, dass sich ihr Opa von geretteten Lebensmitteln ernährt. Richtig cool findet sie ihn jetzt. Seine Tochter hingegen hat sich wenig begeistert gezeigt.

»Und was, wenn du dir eine Lebensmittelvergiftung holst? Das ist doch alles nicht mehr frisch!«

»Wenn ich am Montag einkaufen gehe, ist am Mittwoch auch nicht mehr alles frisch«, hat er trotzig entgegengehalten. »Außerdem ist ein Mindesthaltbarkeitsdatum kein Ablaufdatum! Oder glaubst du, deine Mutter hat alles gleich weggeschmissen?«

Doris hat gestöhnt und das Gesicht verzogen. »Nein, du hast recht. Die Mama hat den Schimmel von der Wassermelone gekratzt«. Und dann, mit Blick zu Lilli: »Das schau ich mir an, wie du reagieren würdest, wenn ich das bei dir mache!«

Als er sich die Szene vor Augen ruft, muss er schmunzeln. Ganz rot ist Doris im Gesicht gewesen. In dem Moment hat sie ihrer Mutter so verblüffend ähnlich geschaut, dass er das Gefühl gehabt hat, Ella stünde neben ihm.

Er streicht sich ein wenig von der Marillen-Marzipan-Marmelade auf den Striezel, schenkt sich eine Tasse Kaffee ein und setzt sich an den Küchentisch, auf dem das Sudoku-Heft liegt. Trägt ein paar Zahlen ein und hebt dann wieder den Kopf, um die beiden Männer zu beobachten, die ein schweres Möbelstück nach dem anderen zum offen stehenden Gartentor schleppen. Die Frau mit dem dicken Zopf hat Oskar noch nicht gesehen, er ist sich nicht sicher, ob es tatsächlich ihre Möbel sind, die ins Haus getragen werden. Bei dem Zeug, das die beiden aus dem Lieferwagen hieven, steht jedoch fest, dass in die Wohnung unter dem Dach ein Kind zieht. Oder sind es gar mehrere? So viele Spielsachen! In dem blauen Renault, der damals vor seinem Zaun geparkt hat, ist nur ein Babysitz zu sehen gewesen. Jetzt heben die Männer nicht nur eine Gehschule aus dem Lieferwagen, sondern obendrein noch ein riesiges Feuerwehrauto, ein Dreirad, eine Spielwerkbank, eine Holzrutsche und ein Schaukelpferd.

»Das ist ja mehr, als unsere drei zusammen gehabt haben!«, murmelt Oskar und beißt vom Striezel ab. Wie herrlich der schmeckt! Wenn Alice am Dienstag zur Bäckerei geht, muss sie ihm unbedingt wieder so einen mitbringen. Und wenn keiner übrig ist, soll sie einen für ihn bestellen. Am besten, er gibt ihr genügend Geld mit und lässt gleich einen Dauerauftrag einrichten: Dinkelstriezel für Herrn Zimmermann, jede Woche ein Stück!

Er kaut genüsslich und blickt auf das Geschehen auf dem Parkplatz. Jetzt kommt sie doch aus dem Haus, die junge Frau mit dem Zopf. Das Baby auf ihrem Arm ist noch klein, da wird selbst die Gehschule noch warten müssen. Oskar sieht die Frau auf den jungen, athletisch gebauten Mann einreden. Dieser nickt ein paarmal und klettert dann in den Wagen. Das Kind beginnt zu weinen, die Frau lässt es an der Hüfte hoppeln und küsst es abwechselnd auf beide Wangen und Fäustchen. Oskar hört das Schreien bis in seine Küche. Und wie es schreit! So viel Aufregung für so einen kleinen Wurm, denkt er. Ein paar Sekunden später verschwindet die Frau mit dem Kind wieder im Haus, das Plärren verebbt. Der junge Mann klettert mit einem Ficus benjamini aus dem Laderaum und stellt ihn auf den Boden. Kratzt sich an der Stirn, blickt zu den Balkonen hoch, greift in die Hosentasche und zieht ein Päckchen Zigaretten hervor.

13

Nachdem Oskar das Frühstücksgeschirr längt abgewaschen hat, liegt Peter noch auf seinem Bett, gähnt und scrollt sich durch die Anzeigen auf willhaben.at. Heute Nacht wird Paul die Fahrräder liefern, bis dahin will er wissen, wie es mit der Verfügbarkeit von billigen Sätteln aussieht. Auch nach neuen Schläuchen wird er sich umsehen müssen.

Er reckt die Füße unter der schwarz-rot gestreiften Bett­decke hervor und wackelt mit den Zehen. Aus irgendeinem Grund schmerzt sein linkes Bein, außerdem wird in der Wohnung über ihm seit Stunden gehämmert und gebohrt, und auch das Baby der Neuen schreit wie am Spieß. Seit halb sieben Uhr geht das nun schon so, und das an einem Samstagmorgen! Nicht einmal die Ohropax haben geholfen, den Lärm auszusperren.

Er hat ja gleich geahnt, dass nichts Besseres nachkommen wird. Das ist immer schon so gewesen in diesem Haus. Lauter Vollidioten! Statt dass die Neue mit ihrem Kind spazieren geht, lässt sie es zur Hilti plärren. Dabei muss die Wohnung über ihm ohnehin schon aussehen wie Schweizer Käse, so oft, wie die Mieter, die bis zum Sommer darin gewohnt haben, ihre Bohrmaschine angeworfen haben. (Wie viele Löcher in der Wand braucht ein Mensch eigentlich?)

Noch schlimmer als das Bohren jedoch war das hysterische Gegacker, das jeden Donnerstagabend durch die Decke sickerte. Wie in einem Hühnerstall kam sich Peter manchmal vor, wenn der Nachbar über ihm sein »Ga-ga-ga-ha-ha« losließ! Wie kann ein Mann so dämlich lachen? Am liebsten wäre er nach oben gerannt, hätte an die Tür geklopft und dem Gockel den Hals umgedreht, doch Maria hielt ihn zurück. »Reiß dich zusammen, die dort oben können nichts für deine schlechte Laune. Vielleicht solltest du lieber selbst wieder mehr lachen!«

»Wieso Donnerstag? Was machen die beiden dort oben?«, fragte er, doch auch Maria wusste keine Antwort.

Erst als ihm seine Kollegin von der Donnerstag Nacht im ORF erzählte, ging ihm ein Licht auf.

»Wir sind Kaiser! Das musst du dir unbedingt anschauen, da machst du dich an vor Lachen«, sagte Birgit und schaute ihn entsetzt an, als er meinte, dass er kein Empfangsgerät besäße und sich die Sendung auch nicht in der TVthek an­­sehen wolle.

Und dann brach die Zeit des Babymachens an. Bei offenem Fenster, zwischen Mai und September. Als hätten die beiden von der Donnerstag Nacht direkt zu einer Pornoseite gewechselt. Täglich! Bis zu vier Mal! Anfang Oktober wurde es dann wieder still, und im Mai sah Peter eine Reihe Regal­bretter im Stiegenhaus lehnen. Daneben stand die junge Frau mit dem dicken Bauch. Susa hieß sie. Wozu sie Peter ihren Namen nannte, obwohl ihr Mann bereits die Möbel zum Lieferwagen trug, leuchtet ihm bis heute nicht ein. Als er ihr die Hand reichte und »Viel Glück im neuen Heim« wünschte (schließlich ist er ein höflicher Mensch), berührte ihr Bauch beinahe den seinen. Wie wenn sie einen prall aufgeblasenen Wasserball verschluckt hätte. Der Nabel unter dem dünnen Pulli wie ein Ventil. Richtig geekelt hat ihn vor der Frau. Als könnte ihre Haut jederzeit aufplatzen und all das Wasser darin mitsamt dem Embryo herausspritzen.

»Wünschst du dir eigentlich Kinder?«

Die Frage kam von einem seiner Dates – damals, als er noch geglaubt hat, sich das mit dem Kennenlernen von Frauen antun zu müssen. (Als er gehofft hat, dass es vielleicht doch noch einmal eine geben könnte, die ihm etwas bedeutet ...)

Kinder …?

»Nein. Ich mag nur Teenager«, hat er geantwortet. »Und auch nur dann, wenn sie nicht in meiner Wohnung leben.«

So schnell hat er gar nicht schauen können, wie die Frau nach dem Kellner gerufen hat.

Wie hat sie geheißen? Daniela? Manuela?

Nein, Manuela war die Rothaarige mit den Sommersprossen und dem feuerorangen Flaum auf den Wangen, der in der Sonne so grell flimmerte. Vor dem Palmenhaus, im Sommer vor sechs oder sieben Jahren. Aperol Spritz (mit Prosecco statt Wein!), dazu Erdnüsse im Paprikamantel. Alles an und um Manuela war orange, nur ihr Kleid nicht. Manuela trug ein kleines Schwarzes. Dazu flache Schuhe mit Glitzermaschen.

Aber Manuela war nicht diejenige, die ihn nach Kindern gefragt hatte. Manuela hatte einen winzigen, dürren Hund, der die ganze Zeit über zitternd auf ihrem Schoß saß.

»Magst du Hunde?«

»Keine Ahnung. Hab noch nie einen gekostet.«

Ihr schrilles Lachen.

Mein Gott, war diese Frau dämlich!

Er legt das Handy zur Seite und sieht in das lachende Gesicht auf dem Nachtkästchen. Dann schlägt er die Bettdecke zurück, steht auf, schnappt sich die Jeans vom Boden, schlüpft hinein, zieht die Rollos hoch und öffnet das Fenster. Im Garten gegenüber kehrt der Alte die Herbstblätter von den Steinfliesen. Der bewegt sich auch schon in Zeitlupe, denkt Peter.

Er wendet sich vom Fenster ab, geht in die Wohnküche und öffnet die Balkontür. Dann nimmt er den Siebträger der Espressomaschine ab, klopft den Inhalt in den Müll, fährt mit einem Löffel in die Illy-Dose, füllt frischen Kaffee nach und presst das Pulver fest. Schraubt den Einsatz wieder fest und geht dann zu den Boxen. Steckt das Handy an und öffnet die Ö1-App. Aus den Lautsprechern dringt Schönbergs Verklärte Nacht.

Im Badezimmer hält er die Zahnbürste unter den Wasserstrahl und überlegt, wie er es anstellen könnte, keine Kopfschmerzen vom Lack zu bekommen. Vielleicht sollte er wieder im Keller arbeiten. Wenn da bloß nicht die Angst wäre, dass der Langhaarige ihm Probleme machen könnte. Besser, der Kerl mit dem Haarknödel, der den halben Tag über auf ­seinem Balkon steht und auf die Gasse glotzt, bekommt gar nicht erst mit, was er tut, sonst erzählt er es noch der Reiter, und die war­tet schließlich nur darauf, dass sie ihm etwas anhängen kann.

Sechs Jahre ist es jetzt her, dass Peter seine Ersparnisse auf das Konto seines ehemaligen Vermieters überwiesen hat. Seitdem macht ihm die Reiter das Leben zur Hölle. Die wider­wärtige Schabracke hat es einfach nicht verkraftet, dass nicht sie diejenige war, die seine Wohnung zum Kauf angeboten bekommen hat. Peter hat die Geschichte erst im Nachhinein erfahren, von der Tratschgans aus dem Erdgeschoß. Alles hat ihm Frau Neuhold erzählt, angefangen von den Problemen mit der Baupolizei und den Pfuschern bis hin zu den Streitigkeiten unter den Eigentümern. »Dass Sie die Wohnung so ­billig bekommen haben, war dem Holzinger seine Rache an der Reiter«, hat sie ihm mit einem schadenfrohen Grinsen im dickwangigen Gesicht mitgeteilt.

Wenn es stimmt, was die Neuhold ihm erzählt hat, gab es zu Beginn drei Eigentümer. Die Reiter besaß fünf der Wohnungen, Peters Vermieter Ewald Holzinger besaß drei, und dann gab es noch eine Frau. Dass die Reiter sie so lange mit ihren schmutzigen Intrigen erpresst haben soll, bis sie ihre zwei Wohnungen weit unter Wert an sie verkauft hat, ließ ihn die Neuhold wissen, und auch von dem Alten hat er eine ähnliche Version gehört.

Ewald Holzinger ließ sich nicht erpressen. Statt an die ­Reiter zu verkaufen, unterbreitete er seinen Mietern ein faires Kaufangebot. Die Zinsen sanken, die Immobilienpreise stiegen – die Neuholds schlugen zu. Die anderen wollten trotzdem Mieter bleiben. Also verkaufte Holzinger die Wohnung, in der die Bosićs wohnten, zu einem guten Preis an die Reiter und behielt die letzte für sich. Wenn Ilse Reiter auch diese Wohnung haben wollte, musste sie eben sparen. Oder zur Bank gehen. (Oder wieder etwas erben, wie es am Papaverweg hieß.)

Unterdessen kamen und gingen die Mieter in Top 7. (»Weil die Reiter einen nach dem anderen hinausgeekelt hat!«, wackelte die Neuhold wissend mit dem Kopf.)

Bis er kam. Als Ilse Reiter ihn beschuldigte, den Müll nicht ordnungsgemäß zu trennen, zuckte Peter mit den Schultern, und als sie ihm vorwarf, ihren Mercedes mutwillig zerkratzt zu haben, sah er sie ein paar Sekunden lang erschrocken an und brach dann in einen derart heftigen Lachkrampf aus, dass sie rasch um die Ecke verschwand und jedem, der es hören wollte, erzählte, dass der Mieter von Top 7 ein gemeingefährlicher Psychopath sei. Ab diesem Tag wandte sie sich mit ihren Beschwerden wieder direkt an Peters Vermieter, bis es diesem endgültig zu dumm wurde, er zum Hörer griff und Peter die Wohnung zum Kauf anbot. Vier Wochen später wurde Ewald Holzinger aus dem Grundbuch gestrichen und Peter Lindner eingetragen.

Seitdem lässt ihn die Reiter nicht mehr in Ruhe. Eine Zeitlang beleidigte sie ihn mit frechen Kaufangeboten, und als das nichts nützte, begann sie, ihren Mietern allerlei an den Haaren herbeigezogene Schauermärchen über ihn zu erzählen. Hätte sie ihm nur ein einziges Mal einen fairen Preis genannt, hätte er sich vielleicht überreden lassen. Aber hunderttausend? Er ist doch nicht blöd und verkauft eine Zweizimmerwohnung nahe der U-Bahn um hunderttausend Euro! Um hunderttausend bekommt man nicht einmal eine Dreißig-Quadrat­meter-Garçonniere im Souterrain!

Nein. So leicht wird ihn die Reiter nicht los. Zumal das Jugendzentrum, in dem er arbeitet, nur ein paar Gehminuten entfernt liegt, und im Sommer braucht er sich nur auf sein Rad zu schwingen und ist in einer Viertelstunde an der Alten Donau.

»Hunderttausend?«, hat ihn die Neuhold gefragt. »Bei uns hat sie es sogar mit neunzigtausend versucht! Aber wir lassen uns nicht hinausekeln, nicht wahr, Herr Lindner?«

Seit Neuestem spricht die Tratschgans von schlechten Energien. Dass man das Haus einer Reinigung unterziehen müsse, meint sie. »Fällt es Ihnen nicht auf, Herr Lindner? Unser Haus kommt einfach nicht zur Ruhe!«

Peter glaubt nicht an den esoterischen Quatsch der Neuhold. Eines jedoch liegt auf der Hand: Das Haus zieht die Schwachköpfe regelrecht an. Man muss sich doch nur diese Muggi Klein anschauen! Mietet eine Wohnung, nur um dann nie hier zu sein und sich ein Schreiben vom Gerichtsvollzieher an die Tür stecken zu lassen. Seit drei Wochen hängt der Zettel jetzt schon dort! Wenn sie wenigstens hier wohnen würde, dann hätte er Mitleid mit ihr, irgendein Dach über dem Kopf braucht schließlich jeder, aber dass sich seine Nachbarin für eine leer stehende Wohnung in Schulden stürzt, findet er ­einfach nur dumm.

Peter spuckt die Zahnpasta aus, spült, gurgelt und trinkt kaltes Wasser nach. Säubert die Zahnbürste, geht ins Schlafzimmer, schließt das Fenster und zieht sich den weichen Kapuzenpulli über den Kopf. Wieder in der Wohnküche stellt er eine Tasse unter die Düse der Espressomaschine, drückt langsam den Hebel nach unten und rührt zwei Löffel Zucker in den Kaffee. Dann setzt er sich mit der Tasse auf den Balkon. Von oben wehen das Klopfen des Hammers und das Schreien des Babys nach draußen und mischen sich mit dem Trio für Horn, das aus Peters Lautsprecherboxen dringt.

Was für ein Mist, dass er keine Chance gehabt hat, mit der Frau zu sprechen. Bis auf sie hat er jeden erwischt, der sich Top 10 angeschaut hat. Es ist ja auch eine Frechheit, dass die Makler verschweigen, wie hellhörig das Haus ist. Und von der tatsächlichen Höhe der Betriebskosten, die jedes Jahr mit der Nachberechnung ans Tageslicht kommt, wusste natürlich auch keiner der Interessenten. Also ließ Peter die nackten Tatsachen aus dem Sack. Richtig dankbar waren ihm die Leute, nachdem er sie aufgeklärt hatte, dass bis jetzt noch jeder aus allen Wolken gefallen sei, sobald die erste Jahresabrechnung im Postkasten gelegen habe.

»Schauen Sie sich die Zusammensetzung der Kosten doch einmal an! Dreiundfünfzig Euro Betriebskosten? Glauben Sie an Märchen? Wir zahlen hier mindestens doppelt so viel! Die wollen doch nur, dass die Miete billiger ausschaut, als sie in Wirklichkeit ist.«

Und damit er beweisen konnte, dass die Wohnungen das Geld in keinem Fall wert sind, hängte er noch an, dass man in dem Haus jeden Furz durchhöre – wortwörtlich.

»Ich weiß sogar, wann meine Nachbarin die Darmgrippe hat!«

»Aber warum wohnen Sie noch hier?«, fragte ihn eine Frau mit Birnenfigur und großen, runden Brillengläsern.

»Ich?«, hob er die Schultern. »Weil ich die Wohnung geerbt habe. Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul!«

Nur an dem Tag, an dem die junge Mutter die Wohnung besichtigt hat, ist er nicht zu Hause gewesen. Oder aber er hat sie aus irgendeinem Grund verpasst.

»Kleine Sünden bestraft Gott sofort«, flüstert Maria, wackelt mit den pink lackierten Zehen und beginnt zu kichern. Sie hat ihm gegenüber Platz genommen und sieht ihn belustigt an. »Das hast du jetzt davon, dass du die nette Frau mit der Brille verscheucht hast. Die wäre bestimmt leise gewesen!«

Typisch Maria, dass sie ausgerechnet jetzt auftaucht.

»Ja, ja, mach dich nur lustig!«, mault er und verzieht das Gesicht. Dann steht er auf, tritt an das CD-Regal, wählt Klaus Nomi und schiebt den Lautstärkeregler nach rechts. Wenn Maria etwas nicht ausstehen kann, dann ist es Klaus Nomi. »Wie wenn man mit einer Kreissäge durch Eisblöcke fährt«, hat sie den Klang seiner Stimme einmal in Worte gefasst.

₺661,34

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
0+
Hacim:
340 s. 1 illüstrasyon
ISBN:
9783701181155
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi:
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre