Kitabı oku: «Papaverweg 6», sayfa 5

Yazı tipi:

Peter setzt sich wieder auf den Balkon und verscheucht Maria aus seinem Kopf. Versucht stattdessen, an die Fahrräder zu denken, die Paul bereits in seinem Kastenwagen hat. Angeblich sind diesmal ein paar ganz brauchbare dabei, das wird die Sache vereinfachen. Letztes Mal hat er fast nur ausgeweidete Rahmen bekommen, sodass Peter erst wochenlang nach passenden Rädern und Sätteln suchen musste.

Das Babygeschrei wechselt den Ort. Die Neue kommt mit dem Babysitz aus dem Haus und stellt ihn am Gartentor ab. Das Kind strampelt mit den Beinen und brüllt. Eilig läuft die Mutter aus Peters Blickfeld, um eine halbe Minute darauf mit dem Kinderwagen wieder aus dem Haus zu kommen. Sie hebt das Kind aus dem Maxi-Cosi und legt es in den Kinderwagen, dann sperrt sie den Babysitz in ihr Auto und schiebt den ­Kinderwagen die Gasse entlang.

Peter fragt sich, wie lange es dauern wird, bis sich die Ersten über das Geplärr aufregen. Aber sogar wenn wieder Ruhe einkehrt: Spätestens wenn die Neuhold den Kinderwagen im Treppenhaus sieht, wird es den nächsten Tango geben. Die Tratschgans spielt zwar die Freundliche, doch wenn es darum geht, sich bei der Reiter über die Mieter zu beklagen, ist sie die Erste.

Peter sieht der Mutter nach. Das Babygeschrei verebbt in der Ferne, übrig bleiben das hämmernde Geräusch, das aus der Wohnung über ihm dringt, und Klaus Nomis Let me, let me, let me freeze again.

Er hätte jetzt verdammt gern eine Zigarette. Nur eine einzige, zum Kaffee. Aber er hat Maria versprochen, keine neue Packung mehr zu besorgen. Und seit beinahe fünf Monaten hält er sich sogar an sein Versprechen.

14

In einem Hinterzimmer im Souterrain treffen sich jeden Monat die Vorstandsmitglieder von No Waste!. Nicht das Große ist ihr Ziel, sondern das Kleine, denn jedes Große setzt sich bekanntlich aus Milliarden von Nanoteilchen zusammen. Wir alle sind Molekül.

Henrik sitzt auf dem Königsplatz, mit Blick auf die rote Tür, die hinauf zum Gehsteig führt. Hinter der großen Fenster­scheibe in Alices Rücken schieben sich Stöckelschuhe ins Bild, danach Stiefeletten, Turnschuhe, Lederschuhe und Ballerinas. Sie alle tanzen und taumeln durch den Nieselregen und verschwinden dann wieder.

Es ist Samstag, 16. September 2017. Vor nicht einmal vierzig Stunden gab es in London einen Terroranschlag. Von Nordkorea flog eine Mittelstreckenrakete über Japan hinweg, und in Bangladesch demonstriert man seit Stunden gegen das Massaker an den Rohingya. Trotzdem spricht niemand über die Meldungen des Tages, auf dem Programm stehen andere Themen. Auch mag man sich nicht entmutigen lassen. Sollte der nordkoreanische Diktator auf den Knopf drücken (oder auch der amerikanische Präsident, um zu beweisen, dass sein Knopf eben doch der größere und schnellere ist), wird es egal sein, woher die Lebensmittel kommen. Hauptsache aus der Dose, wird es dann heißen, gut verschweißt, vierzig Jahre lang haltbar und am besten noch auf dem Mars genießbar.

Um den Tisch sitzen – neben Alice und Henrik – fünf weitere junge (und nicht mehr ganz junge) Lebensmittelretter: Paul, der bei der Müllabfuhr angestellt ist und in seiner Freizeit Philosophievorlesungen besucht, Lydia, die als Tierpflegerin in Schönbrunn arbeitet, ihr Freund Gernot, der Softwareentwickler, und Denise und Nadja, die beiden Publizistikstudentinnen. Soeben haben sie die Anschaffung vier weiterer FreeFoodFridges beschlossen. Seitdem sie staatliche Förderungen erhalten, geht sich das finanziell aus.

Sechseinhalb Jahre zuvor haben Paul, Henrik und Lydia No Waste! aus dem Nichts heraus gestartet. Haben eine Internetplattform mit angehängter Facebook-Seite erstellt. Begonnen haben sie mit Tauschmärkten. Kleidung, Schuhe, Möbel, Kinderspielsachen, Bücher. Später dann die erste private Iss-mich-Gruppe auf Facebook. Wer zu viel im Topf oder im Kühlschrank hatte, postete ein Bild und gab das Essen an der Tür gratis ab. »Schenken statt wegwerfen!« Das war ihr Motto.

Zwei Jahre nach der Gründung der Plattform wagten sich die Mitglieder von No Waste! über die Lebensmittelrettung im großen Stil. Fuhren zu Marktständen, Bioläden, Bäckereien und Mittagsküchen und boten an, die überschüssige Ware am Ende des Tages abzuholen und obendrein dafür zu sorgen, dass rechtlich alles im grünen Bereich bleiben würde. Druckten Flyer und Aufkleber, veranstalteten Informationstage, Essens-Flohmärkte und Feste. Als Alice vor etwas mehr als zwei Jahren Mitglied wurde, zählte No Waste! bereits mehr als vierhundert Mitglieder und war allen, die sich für die Rettung von Lebensmitteln engagierten, ein Begriff. Seitdem es in Frankreich ein Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung gibt und auch die österreichischen Medien häufig darüber berichten, wie viel Genießbares am Ende des Tages in die Container geworfen wird, steht der Handel unter Druck. Die Konsumenten haben gern ein reines Gewissen, wenn schon nicht Fairtrade oder bio, wenn schon die Arbeitsbedingungen nicht stimmen, soll wenigstens die nicht verkaufte Ware gespendet werden. In letzter Zeit fragen auch jene Supermarktfilialen an, die einst in rüdem Ton mitgeteilt haben, dass sie keine Lebensmittelretter bräuchten.

Wenn Alice von ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit erzählt, wird ihr von vielen auf die Schulter geklopft. »Toll, was ihr da macht!«, heißt es dann, und: »Bravo! Weiter so!« Die Zeiten, in denen man beim Wort Lebensmittelrettung angewidert die Nase gerümpft hat, sind vorbei, und auch Alices Blog wird von immer mehr Leuten entdeckt, verlinkt, zitiert und als Quelle genutzt. Henrik ist stolz auf sie. »Du zeigst, dass man unsere Ideale im Alltag leben kann!«, ermutigt er sie, wenn sie selbst an sich zweifelt.

Manchmal (wie in diesem Moment, da sie vor dem großen Fenster des Vereinslokals sitzt) fragt sie sich, wie er wirklich über sie denkt. Seit einem Jahr und einem Monat kennt sie ihn jetzt. Für die anderen ist es selbstverständlich, sie bei den Veranstaltungen an seiner Seite zu sehen.

»Wie geht es Henrik?«, fragt man sie, wenn sie ohne ihn kommt, und wenn sie selbst es ist, die zu Hause bleibt, lässt man ihr Grüße ausrichten.

Sie ist die Frau neben dem coolen Dumpster Diver, der sich nur an seine eigenen Regeln hält.

Jedes Mädchen träumt insgeheim von einem Ritter, der loszieht, um die Welt zu retten. Zwar hat Henrik kein Pferd, dafür besitzt er ein altes Postfahrrad. Auf diesem fährt er von Geschäft zu Geschäft, von Marktstand zu Marktstand, von einem Treffen zum nächsten. Henrik trägt keine glänzende Rüstung, sondern eine bunte Fleecejacke und alte Cordhosen. Er tritt der Welt des Konsums in den Arsch und zeigt den Helden des Kapitalismus den Mittelfinger. (»Schaut her, wie ich ohne euer Scheißgeld auskomme!«) Dass das Leben viel zu kurz sei, um sich zu schinden, dass es Wichtigeres gäbe als materiellen Besitz, dass der Mensch nur frei sein könne, wenn er sich von den gesellschaftlichen Zwängen löse. Dass jeder, der in Österreich meine, Opfer der kapitalistischen Gesellschaft zu sein, bloß zu feig sei, die Konsequenzen daraus zu ziehen (»Jeder kann aus dem Rad heraustreten!«), dass es selbst Mütter mit kleinen Kindern geschafft hätten, dass jeder Zwang nur Einbildung sei, dass der Durchschnittsmensch in Wirklichkeit bloß zu faul sei, um wirklich frei zu sein, weil er eben doch lieber mit dem geleasten Wagen fahre als mit dem Fahrrad, und weil er nach der Arbeit, die ihm keinen Spaß mache, am liebsten vor seinem Plasmabildschirm hocke und Fertigprodukte in sich hineinstopfe, um sein eigenes Elend und das der Welt um ihn herum zu vergessen.

»Freiheit heißt, Verantwortung zu übernehmen und Risiken einzugehen!«, predigt Henrik gegen Bier und einen vollen Teller aus der Mittagsküche. Geld nimmt er für seine Vorträge keines an. Henrik ist Mitglied bei zwei Tauschkreisen und lebt von jenen Dingen, die andere nicht mehr haben wollen. (»Was dir nicht mehr neu genug ist, das nehm ich mir gern!«)

In Henriks Wohnung, die im Souterrain liegt (ein ehemaliges Lager, das der Besitzer Henrik samt Stromkosten gratis zur Verfügung stellt, weil er seinen Idealismus schätzt), stehen Möbel, die Paul und seine Kollegen neben den Müllcon­tainern gefunden haben. Sogar eine funktionierende Waschmaschine hat Paul aufgetrieben.

Als Alice Henriks Wohnung das erste Mal betrat, kam sie aus dem Staunen nicht heraus. Heute empfindet sie sein Reich als kalt, feucht und dunkel. Das Sofa riecht nach Schweiß, der kleine Ofen, den Henrik mit Holz beheizt, reicht nicht aus, um dem Raum in den Wintermonaten die Feuchtigkeit zu nehmen, und das Klo am Gang nervt sie ebenso wie die Lampenschirme im Siebzigerjahrestil, die ihr anfangs so gut gefallen haben. Sogar das selbst gezimmerte Hochbett findet sie nicht mehr hip, ganz im Gegenteil, beim Lesen kann sie sich nicht einmal aufrichten, ohne mit dem Kopf gegen die Decke zu stoßen. Außerdem stört es sie, dass bei Henrik jeder ein- und ausgehen darf. Wie auch jetzt. Der Vereins­raum, in dem sie sich treffen, ist Henriks Wohnküche. Das Possessiv­pronomen »mein« hat Henrik aus seinem Wortschatz gestrichen: »Was meins ist, ist auch euer«, lautet sein Motto.

Alice starrt auf die Kuppe ihres linken Daumens. Am Nachmittag hat sie sich an der Käsereibe verletzt, jetzt brennt die Stelle. Auf dem Tisch steht die Schüssel mit dem Avocado-Paprika-Salat, die anderen haben wieder herzhaft zugegriffen, auch die Mürbteigtaschen mit der Birnenfüllung sind gut angekommen.

Sie blickt von einem zum anderen. Wieso ist sie sich plötzlich nicht mehr sicher, ob Henriks Ideale auch die ihren sind? Hat es damit zu tun, dass sie wieder öfter mit Claudia skypt? Dass ihr die Freundin von französischen Filmkomödien, ihrem geplanten Kurzurlaub nach London und dem Lieblingsinder erzählt? Wenn Alice und Henrik zu einer Filmvorführung gehen, handelt es sich entweder um eine kritische Dokumentation über den weltweiten Handel oder einen prämierten Kurzfilm. Französische Liebeskomödien sind nicht Henriks Ding. (Ganz abgesehen davon, dass Kinogehen nicht ohne Geld funktioniert). Seine Reisen gestaltet Henrik so, dass sie weder der Umwelt schaden noch dazu führen, dass irgendwelche Ausbeuter an ihm Geld verdienen. Hotels sind für ihn ein No-Go, weswegen ihr gemeinsamer Sommer­­urlaub (zumindest für Alice) in einer Katastrophe endete, weil der Kerl, bei dem sie übernachten durften, sein Wohnzimmer für Hinz und Kunz geöffnet hatte, sodass sie wie die Öl­­sardinen auf seinem Boden lagen.

Auch in Restaurants geht Henrik nicht. Stattdessen vernetzt er sich mit der lebensmittelrettenden Community vor Ort und nimmt an gemeinsamen Kochabenden teil. Genau aus diesem Grund hat sie sich in ihn verliebt. Weil er weiter denkt als alle anderen, weil er nicht nur leere Reden schwingt, sondern seine Überzeugung wirklich lebt. Dennoch stieg sie nach nur fünf Tagen gemeinsamen Urlaubs in den Zug, während Henrik einen weiteren Monat in Barcelona blieb. Nach seiner Rückkehr benahm er sich ihr gegenüber wie immer. Nie würde er auf die Idee kommen, ihr Vorschriften zu machen. Henrik lebt seine Überzeugung und mischt sich nicht in die ihre ein. Sie kann ihm nicht vorwerfen, unfair zu sein. Auch hat er sie nie belogen.

Alice sitzt stumm beim Tisch, schleckt über die wunde Stelle an ihrem Daumen und hört den anderen zu. Denise und Lydia legen die neuesten Zahlen vor: In den letzten drei Monaten haben sich vierunddreißig neue Mitglieder auf der Plattform registriert. Denise öffnet den Plan der No Waste!-Partner auf ihrem Laptop und erläutert, wo es bereits viele Abholer gebe und wo man dringend welche brauche.

Als Alices Blick auf Paul fällt, bemerkt sie, dass er sie beo­b­­­achtet. Sie fragt sich, ob er mitbekommt, was in ihr vorgeht. Paul ist der Einzige der Anwesenden, der Henrik besser kennt als sie. Die anderen sehen in ihm nur den strahlenden Wortführer. Sie kennen weder den heillosen Romantiker noch den depressiven Henrik. Sie wissen nichts von den Heul­attacken, die ihn manchmal überkommen. Von dem Selbstmitleid, in dem er sich so gerne suhlt.

Anfangs hat sie sich noch auserkoren gefühlt, weil er sie an seinen Gefühlen teilhaben ließ. Zuerst hat er ihr unglaublich schöne Geschichten erzählt, und später dann hat er ihr seinen Schmerz gezeigt. Seine Wut und den Hass, den er gegenüber seinem Vater, dem ewig planenden Baumeister, empfindet. Erst nachdem sie sich bereits hoffnungslos in ihn (in seine ­Verletztheit) verliebt hatte, bekam sie mit, dass sowohl seine Depressionen als auch die Schimpftiraden gegen den kapitalistischen Vater nur Teil einer riesigen Henrik-Show sind. Dass sie vor allem nicht die einzige Frau ist, bei der er sich über seine verpatzte Kindheit ausweint.

Trotzdem lässt sie sich immer wieder überreden, zu bleiben und seinen mageren Körper an sich zu drücken. Auch an diesem Abend wird sie mit ihm das Geschirr abräumen und sich neben ihn unter die Decke legen. Wird mit offenen Augen auf dem Hochbett liegen, auf den Lichtschein der Hoflampe starren, wird wieder mal feststellen, dass sich das brennende Gefühl der Sehnsucht längst in Taubheit verwandelt hat, und sich fragen, wie es in ihrem Leben weitergehen soll.

15

Am Sonntag kommen Doris, Jan und die beiden Kinder zu Besuch, denn Oskar hat Geburtstag. Draußen regnet es, im Esszimmer ist es so dunkel, dass Doris die Lichter einschaltet.

Sie essen gebackenen Emmentaler, ein Essen, das sich Oskar gewünscht hat. Vor zwei Jahren hat Oskars Enkeltochter verkündet, dass sie keinen einzigen Bissen Fleisch mehr in den Mund nehmen werde. »Nie wieder«, hat sie geschworen. »Macht ihr, was ihr wollt, ich will keine Tiermörderin mehr sein!«

Oskar weiß, dass es nicht um das Mitleid mit den Tieren geht, nicht nur. Lilli warf schon als Kindergartenkind den Teller auf den Boden, wenn Doris ihr ein Stück Fleisch auf den Teller legte.

Leicht hatte es seine Tochter mit den beiden Kindern nicht. Lukas begann bei jeder Erbse zu würgen, und Lilli machte bei jedem Stückchen Fleisch Terror, fegte den Teller vom Tisch und kreischte so laut, dass einem die Ohren zu wackeln begannen.

Jetzt ist Lukas erwachsen, seit drei Jahren studiert er an der Technischen Universität, und Lilli macht nächstes Jahr die Matura.

Nach dem Essen holt Jan das große Halmabrett aus dem Zimmer hinter der Küche. Es ist wie früher, denkt Oskar. Auch früher sind wir hier gesessen, haben Mensch ärgere Dich nicht oder Fuchs und Henne gespielt. Unter der Woche diente ihm der Tisch als Arbeitsplatz, hier saß er, wenn er seine Schulstunden vorbereitete oder Schularbeiten korrigierte.

»Wieso richtest du dir nicht ein Arbeitszimmer ein?«, fragte Ella, als Barbara und Michael bereits ausgezogen waren und zwei der drei Kinderzimmer leer standen. »Dieses ewige Hin und Her mit dem Tischtuch ist doch umständlich!«

Ella nahm den Auszug der Kinder leichter als er. Sie genoss die Stille und die neu gewonnene Zeit, stundenlang saß sie in ihrem weichen Lesesessel und las in ihren Büchern.

Als Jan das Spielbrett auflegt, kommt Oskar wieder in die Gegenwart zurück. Er stellt seine roten Männchen auf die roten Kreise und bemerkt, dass er wieder einmal der Langsamste ist.

Während er mit Jan und den Kindern Halma spielt, schiebt Doris den Staubsauger von einem ins andere Zimmer. Danach geht sie mit dem Wedel durch das Haus, um die Spinnweben aus den Ecken zu holen. Das Herbstlaub im Garten, sagt sie, wird sie nächste Woche rechen, wenn es dann hoffentlich wieder trocken ist.

»Ich kann mir auch eine Putzfrau nehmen, du musst das nicht tun«, sagt Oskar (wie meist), doch Doris lässt sich nicht beirren, er soll mit Jan und den Kindern spielen, sie erledigt inzwischen seinen Haushalt.

»So viel ist es ja nicht«, sagt sie. »Du hast deine Sachen noch erstaunlich gut im Griff.«

Oskar hört das Wort »noch« und das Staunen heraus und fragt sich, wie sie es meint. Bis jetzt hat er es jeden Sonntagmorgen geschafft, alles rechtzeitig zu verräumen, und in die Schubläden und Kästen schaut die Tochter nicht. Er hat nicht mehr die Geduld, alles an seinen Platz zu legen, und manchmal passiert es ihm, dass er Dinge an Orten findet, an die sie nicht gehören. Aber wem passiert das nicht? Er ist alt und hat keine Lust mehr, sich um den Kleinkram zu kümmern.

Oskar hört dem Schnattern der Enkeltochter zu, Lilli ist die Einzige in der Familie, die beides kann, ununterbrochen plappern und trotzdem jede Runde im Halma gewinnen. Lukas grinst ihn über das Spielbrett hinweg an, und Oskar muss schmunzeln, weil er den großen Bruder heraushängen lässt, der sich mit ihm, dem alten Mann, gegen die Kleine verschwört.

Nachdem Doris fertig ist, werden die Sachertorte und die Geschenke ins Zimmer getragen. Oskar packt eines nach dem anderen aus: Eine Hör-CD mit dem Titel Der Hundert­jährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand (von Lilli), eine neue Fernsehdecke und ein Bildband über den Amazonas (von Doris), ein großes, mit Milka Naps gefülltes Häferl mit der Aufschrift 31777 Tage alt – aber wer zählt schon mit? (von Lukas) und eine Flasche Quittenlikör, »zwecks der Haltbarkeit« (von Jan).

Nach der Torte stoßen sie alle mit dem Likör an, nur Lilli rümpft die Nase. Oskar schluckt den Alkohol pur, das tut er sonst nie. Gut schmeckt er schon, denkt er, wenn man mit jemandem anstoßen kann.

»Hast du eigentlich schon eine Antwort wegen der Fichte bekommen?«, fragt Doris, worauf Oskar den Kopf schüttelt.

»Und die Regenrinne? Hast du schon angerufen? Die gehört endlich gereinigt, hinten rinnt alles die Mauer hinunter.«

»Ich kann das machen!«, sagt Lukas. »So schwer kann das doch nicht sein, eine Regenrinne zu säubern.«

Lukas, er hat keine Angst vor der Höhe, er ist noch jung.

»Ich ruf beim Koller an«, sagt Oskar, »der soll sich das anschauen.«

»Der Koller ist doch schon längst in Pension, Papa. Du hast doch gesagt, dass du jemanden gefunden hast, der dir das machen wird.«

Oskar hält Jan sein Schnapsglas hin.

»Trinken wir noch einen?«, fragt er.

Am Ende des Nachmittags steckt Oskar den Enkelkindern je einen Geldschein zu, sie schieben ihn, unter höflichem Protest und mit glühenden Backen, in ihre Hosentaschen. Er würde auch seiner Tochter gern etwas geben. Doris soll sich auch einmal etwas Schönes kaufen, aber er kennt sie, sie wäre beleidigt.

»Wir haben doch alles, was wir brauchen«, sagt sie stets, und damit hat sie nicht unrecht, als Volksschullehrerin bekommt sie mittlerweile ein schönes Gehalt, und Jans Praxis wirft auch genug ab. Früher war es noch schwer für die beiden, vor allem in der Zeit, als Jan sich selbstständig machte und die Kinder noch klein waren, aber jetzt haben sie ausreichend Geld zur Verfügung. Diesen Sommer sind sie sogar nach Florida gereist.

Nachdem die Familie weg ist, setzt sich Oskar an den Küchentisch und dreht das Radio auf. Still ist es auf einmal, jetzt, da Lilli nicht mehr plappert. Er denkt an früher, als seine Tochter und Jan noch in der Nähe wohnten. Als Ella noch am Leben war und Lukas ein Wurm, den sie durch den Donaupark schoben. Er war damals schon in Pension, das gab ihm die Möglichkeit, an allem teilhaben zu können. Beinahe jeden Tag spazierten Ella und er hinüber zur Tochter, um ihr den Buben für eine Stunde (später dann für zwei oder drei) abzunehmen. Wie schön Ella mit ihrem Enkelsohn auf dem Arm aussah, fast schöner noch als früher, als sie selbst eine junge Mutter gewesen war. Sie hatten jetzt mehr Zeit. Mehr Ruhe. Das war das Wunderbare am Großelterndasein, dass sie nicht die volle Verantwortung trugen. Ella war sanfter geworden, toleranter. Anders als bei Barbara hielt sie sich bei Doris mit guten Ratschlägen zurück.

Viel hat Ella von ihren beiden Enkelsöhnen nicht gehabt. Den ersten hat sie kaum kennengelernt, und beim zweiten blieb ihr kaum Zeit. Lukas war noch kein Jahr alt, als bei Ella Magenkrebs diagnostiziert wurde. Fünf Monate später war sie tot.

Oskar steht auf, benommen von den Erinnerungen und vom Likör. Stellt sich an die Küchenanrichte, greift nach dem Schneidbrett und holt das Brotmesser aus der Lade. Er hat nicht viel Hunger, er wird sich nur eine dünne Scheibe vom Schwarzbrot herunterschneiden, um den Alkohol aufzutunken. Er holt die Butter und den Emmentaler aus dem Kühlschrank, bereitet ein Käsebrot zu, setzt sich mit dem Teller und einem Glas Mineralwasser wieder an den Küchentisch und holt die Medikamente aus der Schublade.

Am Vormittag, bevor Doris, Jan und die Kinder ge­kommen sind, hat Oskar mit seiner Ältesten telefoniert. Barbara hat ihm gratuliert und dann von ihrer Arbeit erzählt, dass sie sich bereits auf die Pension vorbereite, hat sie ihm verraten, und dass es sich seltsam anfühle, das Programm für übernächstes Jahr zu planen, obwohl sie, wenn es herauskäme, nicht mehr Verlagsleiterin sein würde.

Plötzlich muss Oskar wieder an die große Buchmesse denken. Barbara hatte für ihn und Ella ein Doppelzimmer in einem modernen Hotel mit Hallenbad und Sauna gebucht, ein Geschenk zu ihrem vierzigsten Hochzeitstag. Einen ganzen Vormittag lang liefen Ella und er von einem Stand zum nächsten. Ließen sich Programme und Reklamezettel in die Hand drücken und hörten sich Lesungen an, nicht weil sie sich für die Autoren interessierten, sondern weil sie sich nicht mehr auf den Beinen halten konnten. Als sie am frühen Nachmittag beim Mittagessen saßen, sah ihn Ella so bekümmert an, dass er ganz nervös wurde und mit dem Stuhl zu ruckeln begann.

»Was ist denn?«, fragte er, und, um sie zum Lachen zu bringen, weil er dachte, ihr saures Gesicht hätte mit Barbara zu tun, die sie ganz allein durch die Hallen laufen ließ: »Hab ich Mayonnaise auf der Nase oder warum schaust du mich so an?«

»Ach nichts«, sagte sie nur und steckte die Gabel in den Salat.

Fünf Minuten später brach es aus ihr heraus: »Ich kann einfach nicht mehr! Hier steht ein Buch ans andere gereiht, ein Stand neben dem anderen, das hat doch keinen Charme! Nicht einmal gemütliche Ecken haben sie hier. Wie soll man denn da herausfinden, was einem gefällt?«

Meine Güte, wie erleichtert er war, als er das Messegelände endlich verlassen durfte.

Den restlichen Nachmittag schlenderten sie im Niesel­regen den Main entlang, und tags darauf besichtigten sie den Dom, die Paulskirche und den Römer, bestaunten auf dem Weg zum Palmengarten die moderne Stadt und quetschten sich am späten Nachmittag in den Badeanzug und die Schwimmhose, die Ella in den Koffer gepackt hatte und die sie seit Jahren nicht mehr am Leib gehabt hatten, um in den hoteleigenen Morgenmänteln den Wellnessbereich aufzu­suchen. Zwei Stunden lang planschten sie im großen Whirlpool und lachten, weil sie in den Jahren unförmig und faltig geworden waren. Anschließend schlüpften sie in die ver­knitterte Abendgarderobe, um sich neben Barbara und ihren Chef an den großen Tisch zu setzen, der eigens für den Verlag, in dem sie arbeitete, reserviert worden war.

Wie jedes Mal, wenn Oskar an Frankfurt zurückdenkt – an jene trotzdem so wunderbaren Tage und die vielen Komplimente, mit denen der damalige Verlagsleiter sie überschüttete, weil sie eine so begabte Tochter hatten (»Eine der besten Lektorinnen, die ich je hatte! Ach was, DIE beste!«) –, muss er auch wieder an den großen Streit zwischen seiner Frau und seiner Tochter denken. Barbara war kurz nach der Matura schwanger geworden und hatte verkündet, zu Steffen, den sie kaum kannte, nach Hamburg ziehen zu wollen. Für Ella kam die Neuigkeit wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Geschockt sah sie ihre Tochter an. »Ruinier dir doch nicht dein Leben!«, beschwor sie Barbara. »Heute gibt es doch schon bessere Lösungen für so ein Problem, heute muss man doch nicht gleich alles aufgeben.«

Noch heute sieht Oskar seine Tochter vor sich. Wie sie ihre Mutter mit fassungslosem Gesicht anstarrte. Wie sie auf irgendetwas wartete – den Versuch einer Erklärung, ein einlenkendes Stottern, vielleicht sogar eine Entschuldigung. Aber da kam nichts. Ganz im Gegenteil, Ella bohrte noch weiter: »Glaubst du, dass du glücklich wirst in Hamburg? Du kennst dort doch niemanden! Dann hockst du ganz allein mit dem Kind fest! Und für eine Beziehung ist das auch nicht gut, glaub mir. Ihr seid doch noch so jung!«

Warum hat Ella sich damals so festgebissen? Warum hat sie in den Tagen vor Barbaras Abreise nicht zumindest versucht, ihre Meinung zu ändern, wo doch schon klar war, dass Barbara in jedem Fall gehen würde?

Nach dem Streit hatte Barbara stumm ihre Sachen gepackt und war bis zu ihrer Abreise zu einer Freundin gezogen. Und noch Monate später, wenn Ella in Hamburg anrief, ließ sie sich verleugnen. Oskar versuchte, die Wogen zu glätten, inständig bat er seine Tochter, sich mit der Mutter zu ver­söhnen, aber sie sagte nur: »Papa, wenn du uns besuchen willst, bist du jederzeit willkommen. Aber die Mama will ich hier nicht sehen.«

Als Ella und er das erste Mal nach Hamburg kamen und Barbaras Wohnung betraten, war ihr Enkelsohn vier Jahre alt. Gregor sah sie ein paar Sekunden lang aus seinen großen, verschreckten Kinderaugen an und begann schließlich zu weinen. Und auch bei ihren späteren Besuchen blieben sie für ihn stets Fremde, denen er sich nur näherte, weil es seine Mutter und die Höflichkeit von ihm verlangten.

Am Tag von Ellas Beerdigung stand der damals achtzehnjährige Enkelsohn gelangweilt neben seiner Mutter. Seine Omi hieß Dorli und lebte keine Viertelstunde von ihm entfernt. Ella Zimmermann war für ihn nicht mehr als eine Person, die er ein paarmal gesehen hatte. Wie hätte er so etwas wie Trauer empfinden können?

Oskar blickt aus dem Fenster. Der Regen hat nach­ge­lassen, auf der Gasse saust nun wieder der achtjährige Bub der Shengs auf seinem Skateboard von einer Seite zur ande­­­-ren. Früher haben auf Nummer 8 die Pichlers gewohnt, jetzt lebt in dem Haus eine chinesische Familie. Oskar sieht dem Buben eine Weile zu und lässt dann den Blick zu den Fensterreihen des Mehrfamilienhauses wandern. Im ersten Stock, hinter der zweiten Scheibe von links, sitzt Alice an ihrem Schreibtisch. Oskar fragt sich, ob sie jemals Pause macht. Entweder sieht er sie mit ihren Taschen herumlaufen oder an ihrem Schreibtisch sitzen und auf den großen Monitor starren.

Ein paar Fenster weiter taucht alle paar Sekunden der Haarschopf des Jugendarbeiters auf und verschwindet dann wieder. Oskar nimmt an, dass der Mann wieder an alten Fahrrädern bastelt. Seit Jahren schon fragt er sich, was Herr Lindner in seinem Wohnzimmer treibt.

Unten im Erdgeschoß flimmert der große Fernseher des Ägypters.

Hinter jeder Scheibe ein anderes Leben. Andere Sorgen, andere Hoffnungen, andere Träume, andere Erinnerungen.

Früher hat Oskar von den Menschen in seiner Gasse noch mehr gewusst als heute. Der Papaverweg war wie ein Mikrokosmos. Jeder kannte jeden, jeder wusste über den anderen Bescheid. Zumindest hatte man das Gefühl, auch wenn es nicht immer stimmte.

Statt auf fremde Fenster und fremde Leben hat Oskar von seinem Küchenfenster aus auf das Haus von Ellas Kusine und ihrem Mann geschaut. Ohne Luise und Fritz wären auch Ella und er nicht hierhergezogen.

Ein leiser Gedanke schleicht sich in Oskars Kopf. Es ist ein alter, sehr bekannter Gedanke, immer wieder treibt er sich in seinen Erinnerungen herum, dreht ein paar quälende Runden und hinterlässt ein flaues Gefühl in Oskars Magen.

Wären Ella und er in einer Wohnung (weit weg von Fritz) glücklicher gewesen? Wäre es anders gekommen, wenn sie damals in der Stadt geblieben wären?

Nein. Es war gut so, wie es war. Was bringt es schon, die Entscheidungen von früher zu bereuen? Ohne Fritz hätte es auch die Jahre mit Luise nicht gegeben. Im Nachhinein ergibt alles einen Sinn. Vielleicht aber, denkt Oskar, sind es auch nur wir Menschen, die aus allem einen Sinn herauslesen müssen. Eine Entschuldigung, die uns im Nachhinein mit den Niederlagen des Lebens versöhnt.

Jetzt, da er an Fritz denkt, fällt ihm auch die verstopfte Regenrinne wieder ein. Sobald die Fichte weg ist, wird er sich darum kümmern. Davor hat es ohnehin keinen Sinn. Hauptsache, Lukas steigt nicht auf das Dach. Auch Fritz hat damals nur nach einem verrutschten Dachziegel sehen wollen. Acht Stun­den später kam Luise als Witwe aus dem Krankenhaus zurück.

Oskar steht vom Tisch auf. Zieht die Schublade heraus und kramt nach den gelben Klebezetteln und dem Kugelschreiber.

REGENGERINNE, notiert er in Großbuchstaben, dann trägt er den Zettel in die Vorzimmernische und klebt ihn auf das Telefon. Anschließend geht er ins Esszimmer, wo er zuerst den Heizstrahler und danach den Fernseher aufdreht. 16

Draußen kämpft ein verzweifelter Sonnenuntergang gegen die Regenwolken an, drinnen wird gestorben. »O Scarpia, avanti a Dio!«, ruft Floria Tosca und stürzt sich in den Abgrund. Neben den Lautsprecherboxen kniet Peter und träufelt Öl auf die steifen Glieder einer Fahrradkette. Seine Hände sind schwarz und schmierig, seine Bluejeans ebenso. In der zwanzig Quadratmeter großen Wohnküche, deren Boden mit Pack­papier ausgelegt ist, sieht es seit einigen Tagen aus wie in einer Reparaturwerkstatt. Überall liegt Werkzeug: Schraubenzieher, Vierkantschlüssel, Zangen. An der Wand lehnen die Fahrräder und warten geduldig darauf, an die Reihe zu kommen.

Seitdem das Kind in der Wohnung oberhalb schreit, stopft sich Peter auch untertags das Wachs in die Ohren. Jeden Vormittag nach dem Aufstehen schiebt er den Regler des Lautsprechers so weit nach rechts, bis er trotz der Ohropax zwar die Musik, nicht jedoch das Baby hört. Jetzt dringt aus dem Radio die dumpfe Stimme des Moderators. Peter schält sich das Wachs aus den Ohren. Die Tosca ist tot, das Baby scheint eingeschlafen zu sein. Zeit für einen Kaffee.

Er öffnet die Balkontür und lässt frische Luft herein. Gegenüber steht der Alte auf dem Fußabstreifer und stellt eine Schüssel mit Futter hinaus. Der fette Kater vom unteren Ende der Gasse hat bestimmt wieder seine helle Freude daran. Schon seit einiger Zeit fällt Peter auf, dass der Alte sonderbar wird. Auch der Bewegungsapparat spielt nicht mehr mit, vor ein paar Monaten noch ist er mit seinen Wanderstöcken und dem knallroten Rucksack zum Supermarkt gegangen, jetzt traut er sich kaum noch mit seinem Rollator auf die Straße. Selbst der Garten sieht nicht mehr so gepflegt aus wie früher, meist recht nun die Tochter das Laub.

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