Im Dezember 2015 ist mein Neffe vierundfünfzig Jahre alt geworden. Nach seiner Heilung hat er studiert und eine eigene Firma gegründet. Er ist glücklich verheiratet und hat zwei erwachsene und gesunde Kinder.
Kapitel 3 Während der Fahrt nach München haben wir kein einziges Mal angehalten. Den Ortsteil Neuaubing und das hohe Gebäude, in dem meine Schwester mit ihrer Familie wohnte, haben wir problemlos gefunden – als wären wir den Weg schon einmal gefahren. Es war später Nachmittag, als wir vor dem Haus ankamen. Mein Schwager spazierte mit hängendem Kopf vor dem Haus hin und her und wartete auf uns. Diese Tatsache habe ich als sehr beglückend empfunden. Als Bogdan das Auto angehalten hat und wir ausgestiegen sind, bemerkte uns Kurt und kam auf uns zu. Er führte uns in das hohe, schmale Haus, und als wir aus dem Lift im achten Stock ausgestiegen sind, stand Toni schon vor der geöffneten Wohnungstür und empfing uns mit offenen Armen. Die Begrüßung war herzlich. Wir hatten uns zwanzig Jahre nicht mehr gesehen! Das Abendessen hat auch schon auf uns gewartet und es gab viel zu erzählen. Dennoch, wir waren nach der langen Reise sehr müde und konnten auch gleich schlafen gehen, weil auch die Schlafplätze für uns vorbereitet waren. Ich fühlte mich angekommen. Am nächsten Morgen, gleich nach dem Frühstück, verabschiedete sich Bogdan von uns und fuhr nach Mönchengladbach im Rheinland, wo er seinen Studienfreund besuchen wollte. Sie hatten sich seit der Abreise des Freundes aus Polen auch nie mehr gesehen. Am Abend, als Toni, Kurt und ich zusammen beim Abendbrot saßen, teilte ich ihnen mit, dass ich in Deutschland bleiben wollte. Toni war nicht überrascht. Sie hatte es geahnt. „Ich will euch aber nicht zur Last fallen und auch nicht bei euch bleiben“, versicherte ich gleich. „Aber ich werde eine kleine Hilfe von euch brauchen. Ich möchte nur, dass ihr mich dorthin begleitet, wo ich mich als Flüchtling anmelden muss.“ Mein Schwager schaute mich an und fragte: „Sag mal, was willst du in Deutschland eigentlich machen?“ Er zählte dazu gleich langsam meine „Minuspunkte“ auf: „Du bist eine Frau, 47 Jahre alt, hast keinen Beruf – das polnische Abi zählt hier nicht –, kannst nicht Deutsch sprechen, bist eine Rentnerin …“ Ich empfand seine Worte wie einen Schlag ins Gesicht, aber ich konnte mich beherrschen und wartete, was er noch zu sagen hätte, während mein Herz raste und mir die Luft abdrückte. Das, was mich so tief traf, war seine Feststellung, dass mein Frausein ein Nachteil ist. „Sind denn in Deutschland Frauen Menschen zweiter Klasse?“, war der erste Gedanke, der mir durch den Kopf ging. Ich war in seinen Augen also eine Null für Deutschland, anderseits konnte ich ihm seine Aufzählung nicht übel nehmen, er hatte ja nichts Unwahres gesagt. Trotzdem musste ich mich erstmal innerlich sammeln. Währenddessen sprach mein Schwager weiter und sagte, dass Deutschland schon 30 % Arbeitslose hätte und ich keine Arbeit finden würde … Ich konnte ihn gut verstehen, er fürchtete, dass ich an seinem Portemonnaie hängenbleiben könnte. Ich habe ihm zugehört, aber einschüchtern wollte ich mich nicht lassen und sagte leise, aber entschlossen zu ihm: „Ich bin aber davon überzeugt, dass jeder, der hier arbeiten will, auch eine Arbeit finden wird. Außerdem hat Jaruselski im polnischen Fernsehen gesagt, dass Personen, die sich während der ersten fünf Jahre in Deutschland noch nicht zurechtgefunden haben, nach Polen zurückkommen können, ohne Konsequenzen zu befürchten. Ich habe also fünf Jahre Zeit und möchte die Chance nutzen.“ Meine treue Schwester hat am Montag fast den ganzen Vormittag am Telefon verbracht, bis sie herausfand, wo sich die Stelle für Flüchtlinge befand. Sie war in Nürnberg. Wir sind dann am 12. August 1987 gleich nach dem Frühstück mit dem Mercedes von Kurt dorthin gefahren und Toni hat für den Weg eine schmackhafte Brotzeit vorbereitet. Wir sind am Nachmittag in Nürnberg angekommen und haben vor zwei „Wolkenkratzern“ angehalten, die von einem Drahtzaun umgeben waren. Wir waren uns aber nicht sicher, ob wir richtig waren, weil keine Adresse zu sehen war. Wir sind aus dem Auto ausgestiegen, in den Hof hineingegangen und haben fast eine Stunde unruhig herumgestanden, ohne zu wissen, ob wir wirklich richtig sind und was wir weiter machen sollten. Inzwischen bekamen wir die Gewissheit, dass wir doch richtig sein mussten, weil durch das kleine Tor am Drahtzaun immer wieder ein Mensch hineinging. Um 17:00 Uhr kam aus dem ersten Gebäude eine Frau heraus und schloss die Türe hinter sich. Von dieser hat Toni die Information bekommen, dass um 19:00 Uhr ein Beamter kommen würde, um die Menschen zu registrieren. Mein Schwager, der die ganze Zeit schon unruhig auf die Uhr geschaut hatte, atmete auf. Wir haben uns auch gleich verabschiedet und ich setzte mich auf die einzige vorhandene Bank. Intuitiv habe ich Toni im letzten Moment meine zweite, schwere Tasche gegeben. Ich bin auf der Bank sitzen geblieben, fühlte mich sehr schwach, dennoch beobachtete ich ständig das kleine Tor, durch das ab und zu ein dunkelhäutiger Mensch ging. Die Unsicherheit der Eintretenden war nicht zu übersehen. Plötzlich überfiel mich ein Gedanke: „Was mache ich, wenn um 19:00 Uhr niemand kommt?“ Und in diesem Moment überkam mich eine wahnsinnige Angst. Ich spürte, wie mir das Fieber in den Kopf stieg. „Was mache ich ohne Geld und ohne Deutsch sprechen zu können? Wie komme ich nach München zurück? Während ich mich mit den düsteren Gedanken beschäftigte, merkte ich nicht mal, wie schnell die Zeit vorbeiging. Pünktlich um 19:00 Uhr betrat ein Mann das erste Gebäude und schloss die Türe hinter sich nicht. Ich atmete tief durch – ich war gerettet. Die wartenden Menschen folgten dem Mann und bildeten eine Reihe an der Wand im Erdgeschoß. Vor mir standen circa 20 Personen, sie waren ganz still. Plötzlich ist es vor dem Fenster laut geworden. Es gab einen Streit zwischen einer älteren Frau und dem Beamten. Die Frau war sehr aufgeregt und verließ die Reihe. Bei ihr sah ich einen circa 16-jährigen Jungen und ein etwas jüngeres Mädchen. Sie ging zur Seite, sprach aber immer noch sehr laut mit den Kindern – aber diesmal auf Polnisch! Das war meine Rettung. Ich verließ die Reihe und ging auf sie zu. Zunächst achtete sie nicht auf mich, aber als sie bemerkte, dass ich sie sprechen wollte, fragte sie mich nach meinem Wunsch. Ich fragte sie, ob sie so freundlich wäre abzuwarten, bis ich an die Reihe komme, weil ich noch kein Deutsch spreche und gerne verstehen würde, was der Beamte zu mir sagt. Die Frau war bereit mir zu helfen und wartete, bis ich dem Beamten gegenüberstand. Als er den Mädchennamen in meinem Reisepass erblickte, gab er mir einen Schlüssel und reichte mir einen Stapel von Vordrucken zum Ausfüllen. Dabei war seine Stimme sehr freundlich, aber wie gesagt habe ich zu diesem Zeitpunkt kein einziges Wort verstanden. Ohne die Hilfe der fremden Frau aus Schlesien hätte ich das Zimmer für die Übernachtung nicht gefunden, zu dem mir der Beamte den Schlüssel gegeben hatte. Inzwischen hatte sich die Frau beruhigt und wir kamen ins Gespräch. So habe ich erfahren, dass sie mit den Kindern lange unterwegs war, und da sie keine zwei Zimmer für die beiden Kinder bekommen hatte, mussten sie sich wieder auf den langen Weg nach Hause machen. In diesem Moment habe ich den Beamten und die ganze Aufregung der Frau verstanden, sie hatte nämlich zwei getrennte Zimmer für die Kinder verlangt! Nachdem wir uns verabschiedet hatten, machte ich mich auf den Weg zu dem Zwillingsgebäude. Dabei handelte es sich um eine Unterkunft für die Flüchtlinge. Im Haus war es ganz still und es war kein Mensch zu sehen. Die Treppe war breit und der Korridor war mit rotem Fußbodenbelag ausgekleidet. Mein Zimmer mit den Betten aus Eisen habe ich im fünften Stock gefunden. Auf dem Stockbett lagen schon einige Kleidungsstücke, also legte ich meine Tasche auf das Einzelbett und machte mich, obwohl ich sehr müde war, noch auf den Weg, um weitere Hilfe zu suchen. Ich ging langsam den Korridor entlang und orientierte mich. Plötzlich hörte ich vor einer Türe ein Lachen und laute polnische Worte! Ich hatte wieder Glück. Das waren Studenten aus Polen, die auch aus der Heimat geflüchtet waren. Sie waren gut gelaunt und dazu bereit, mir bem Ausfüllen der Anträge zu helfen. Auf dem Rückweg zu meinem Zimmer fand ich noch eine große Küche, die mit weißen, niedrigen Küchenschränkchen ausgestattet war. Das Schränkchen mit meiner Zimmernummer habe ich gleich entdeckt. Drin waren drei Teller, drei Tassen und Besteck für drei Personen. Ich habe über die Organisation staunen müssen. Mit einem Glas Wasser in der Hand kehrte ich in mein Zimmer zurück und konnte jetzt das Antibiotikum einnehmen. Im Zimmer habe ich eine junge Frau aus Polen mit einem etwa 12-jährigen Jungen vorgefunden. Sie war voller Freude und sagte mir, dass sie schon neun Stockwerke, das heißt neun Büros in dem Bürogebäude, hinter sich gebracht hatte, morgen nur noch das letzte auf sie wartete und sie am Nachmittag von ihrem Bekannten abgeholt würde. Im weiteren Verlauf unseres Gespräches habe ich von ihr erfahren, dass das Röntgen der Flüchtlinge zehn Tage lang dauert und dass man für diesen Zeitraum Essenskarten bekommt. Sie sagte mir weiter, dass ich um 03:00 Uhr in der Früh aufstehen müsste, um überhaupt in das Bürogebäude hineinzukommen, weil schon so viele Menschen da sein werden. Die junge Frau hat tatsächlich nicht übertrieben. Ich bin aber erst um 05:00 Uhr zum Bürogebäude gekommen und sah, dass sich mindesten schon hundert Menschen versammelt hatten! Woher kamen sie? Wo hatten sie übernachtet? In meinem Hotel hatte ich keinen einzelnen Menschen angetroffen! Da jede Person als Erste in das Gebäude kommen wollte, standen sie alle dicht an der Tür. Die Menge stand still und wartete. Ich bin dann jeden Tag auch so früh aufgestanden und musste mit den vielen Menschen warten, bis das Gebäude aufgemacht war. Es ging nicht anders. Drinnen waren später die schmalen, aber langen Gänge voller Menschen. Alle Stühle waren natürlich auch belegt. Hier musste ich wieder stundenlang warten, bis ich in das Büro gebeten wurde. Dieses war um Punkt 08:00 Uhr geöffnet worden und ein Beamter hatte sich vor dem geschlossenen Eingang mit gespreizten Beinen vor die Menge gestellt. Ich war am ersten Tag völlig irritiert. Der Beamte sah so aus, wie die Nazis in den polnischen Kriegsfilmen – mit denen die polnische Bevölkerung jeden Abend gefüttert wurde. Der Beamte trug zwar keine Uniform, aber immerhin eine Reithose und hohe Stiefel, die ihn so ähnlich erscheinen ließen. Er sah in die Menge, dann sagte er in einem ruhigen und nicht besonders lauten Ton folgende Worte: „Bitte stellen Sie sich in einer Reihe hin.“ Die Menge reagierte natürlich nicht, und ich habe ihn zuerst auch nicht verstanden. Er wiederholte geduldig: „Bitte stellen Sie sich in einer Reihe hin.“ Jetzt begriff ich, was der Beamte von der Menge verlangte und sagte ganz laut auf Polnisch: „Wir müssen uns in einer Reihe hinstellen, sonst werden wir nicht eingelassen!“ Die Menge fing an, sich zu bewegen. Der Beamte wartete geduldig ab und die Zeit lief. Nach einer Weile war so etwas wie eine Viererreihe entstanden und der Beamte fing an, die Menschen abzuzählen. Er hat nur zwölf Personen reingelassen, dann kurz abgewartet und die nächsten zwölf Personen in das Gebäude gehen gelassen, und so ging es weiter. Als ich reingehen durfte, wurde mir klar, warum er so gehandelt hatte. Das Hochhaus hatte keine Treppe, man konnte sich nur mit dem Lift zwischen den Stockwerken bewegen. An den folgenden Tagen bin ich dann doch um 03:00 Uhr in der Früh aufgestanden, um früher reinzukommen, es hat aber nichts genutzt. Das war ein Ding! In den frühen Morgenstunden waren jeden Tag schon so viele Wartende vor dem Gebäude und immer gab es denselben Ablauf. Ich konnte tatsächlich jeden Tag nach einer langen Wartezeit in den schmalen und überfüllten Korridoren nur eine bestimmte Angelegenheit erledigen. Es war immer knapp vor 12:00 Uhr, als ich das Gebäude mit dem Lift verlassen konnte, danach wurde pünktlich geschlossen. Jeden Tag befand ich mich also ein Stockwerk höher. Die Korridore waren sehr schmal, aber lang und ständig überfüllt. Die Luft wurde mit jedem Stockwerk knapper. Die Korridore hatten aber zum Glück an jedem Ende eine Balkontür, die zu einem Notausgang führte. Ich habe jeden Tag an der Balkontür gestanden, weil ich spürte, dass in der knappen Luft einmal eine Notsituation auf mich zukommen würde. Der August in diesem Jahr war sehr heiß und eines Tages, als ich in dem engen, überfüllten Gang Atemnot empfand, machte ich die Balkontür ein wenig auf und schnappte nach Luft. In diesem Moment kam die Beamtin aus dem ersten Büro sofort heraus und schrie mich an: „Wenn Sie krank sind, dann zurück nach Polen mit Ihnen! Wir brauchen hier keine Kranken!“ Und sie machte die Türe wieder zu. Der Hass in ihrer Stimme hat mich tief getroffen, sodass ich automatisch die Treppe runtergelaufen bin. „Aber nein! Halte durch!“, ging es mir durch den Kopf. Mit den Augen voller Tränen ließ ich mich auf einer Bank nieder und heulte mich so richtig aus. Es dauerte eine Weile, bis ich mich einigermaßen beruhigen konnte. Als es mir besser ging, verspürte ich einen riesigen Hunger. Ich hatte ja am ersten Tag bei der Anmeldung Essenskarten für zehn Tage bekommen. Man konnte wählen: Entweder hat man Trockenproviant für den ganzen Tag gewählt oder man konnte zum Mittagessen gehen. Dafür musste man aber alle drei Abschnitte für den ganzen Tag abgeben. An diesem Tag habe ich mich aus Trotz für das Mittagessen entschieden. Die Kantine war überfüllt, die vorherrschende Hitze war unerträglich und in der Luft hingen verschiedene Gerüche. Ich habe ein riesiges Schweinekotelett mit Kartoffeln bekommen, aber das Fleisch war hart wie eine Schuhsohle, sodass ich es nicht essen konnte. Da ich drei Abschnitte für ein einziges Mahl abgeben musste, bin ich an diesem Abend hungrig schlafen gegangen. Meine junge Zimmergenossin hat an diesem Tag den Registrierschein bekommen und wurde als Deutsche anerkannt. Am Nachmittag wurde sie von ihrem Freund abgeholt. Mein Aufenthalt in der Durchgangsstelle in Nürnberg hat auch zehn Tage gedauert und leider habe ich nicht verstanden, was all die Beamten von mir wissen wollten. Nicht alle Beamten waren unfreundlich und voller Hass auf die Fremden. Ich erinnere mich an einen sehr netten, höflichen Beamten, einen älteren Herrn, der sich mit mir auch nicht verständigen konnte. Als er dann meinen Mädchennamen sah, hob er seine beiden Hände ans Gesicht und klagte laut: „Deutschland, Deutschland, du hast Kinder, die deine Muttersprache nicht kennen! Er war außer sich, seine Worte habe ich aber verstanden. Wie die hasserfüllten Worte der Beamtin zuvor auch. Die Zeit, in der meine Unterlagen geprüft wurden, verging sehr schnell. Am letzten Tag war es so weit – ich musste mich entscheiden, in welche Richtung Deutschlands ich mich begeben wollte. Die nette Beamtin zeigte mir eine Landkarte Deutschlands, zeigte mit dem Zeigefinger auf München und schaute mich fragend an. Als ich ihre stumme Frage mit einem Kopfschütteln verneinte, zeigte sie auf Regensburg. Mit der Richtung war ich einverstanden und dachte an Toni und Kurt. Ich sollte mich ja nicht für München entscheiden. Danach musste ich noch auf meine Fahrkarte warten. Diese war keine reguläre Karte. Auf ihr stand: Regensburg – Regenstauf. Am Schluss wurde ich ins Erdgeschoß geschickt, wo ich von der Kasse 200 DM bekommen habe. Mit dem Geld bin ich sehr sparsam umgegangen, weil ich nicht wusste, für wie lange es reichen sollte. Es hat den ganzen Monat gereicht. Heute, 2016, wäre es unmöglich, mit 100 Euro im Monat auszukommen, es würden nicht einmal 300 reichen – was 600 DM entspricht. *** Am nächsten Tag um 06:00 Uhr in der Früh hat mich eine sehr laute, befehlende Stimme aus dem Bett gerissen: „Achtung, Achtung!“ Die laute Warnung hatte mich dermaßen erschreckt, dass ich sofort aus dem Bett sprang. „Luftangriff! In den Keller!“, war mein erster Gedanke. Das war dieselbe laute, harte Stimme wie im Krieg, die uns vor den Luftangriffen gewarnt und in einen Schutzraum befohlen hatte. Ich war blitzschnell angezogen und lief mit rasendem Herzen die Treppe aus dem fünften Stock hinunter. Vor dem Hotelgebäude war kein Mensch. Ich war aufgeregt und total desorientiert. Was war los? Nach einer Weile wurde mir bewusst, dass nach der Warnung, die mich so aus dem Gleichgewicht geworfen hatte, noch weitere Worte gefolgt waren, die ich aber nicht weiter wahrgenommen hatte. Und jetzt stand ich da. Nachdem der Schreck vorbei war und ich mich beruhigt hatte, sah ich vor dem Bürogebäude einen kleinen Bus stehen und ein Mann winkte mir schon eine ganze Weile zu. Ich ging langsam auf den Bus zu. Aus dem Bus sagte jemand auf Polnisch: „Steigen Sie doch ein! Wir werden zum Bahnhof gebracht! Wir warten nur noch auf die anderen.“ Als der kleine Bus besetzt war, brachte uns der Fahrer zum Bahnhof. Dieser kam mir sehr groß und schön vor. Was mir gleich auffiel, war die geringe Zahl von Reisenden. Ich musste sofort an Katowice denken und an den ständig überfüllten Bahnhof. Der Busfahrer brachte jeden von uns auf einen anderen Bahnsteig. Auf diesem war kein einziger Mensch zu sehen! Nachdem ich auf den richtigen Bahnsteig gebracht worden war, setzte ich mich auf eine Bank und atmete erstmal tief durch. Die Leere auf dem Bahnsteig und der fehlende Zug signalisierten mir, dass ich noch viel Zeit bis zur Abfahrt hatte und das beruhigte mich. Nach einer guten Stunde stand ich auf, um die Abfahrtzeit auf dem Fahrplan zu suchen. Es dauerte aber lange, bis ich sie gefunden hatte, weil der Fahrplan in ganz kleinem Schreibmaschinendruck geschrieben war. Diese Tatsache hat mir nicht gefallen. Konnten ältere Menschen diese kleine Schrift überhaupt lesen? Ich fand jedenfalls heraus, dass ich noch eine volle Stunde Wartezeit vor mir hatte und das war gut so. Ich setzte mich wieder auf die Bank und dachte über das in den letzten Tagen Erlebte nach. Durch den Kopf ging mir vor allem die perfekte Organisation, die mich so beeindruckt hatte, die Begegnung mit der hasserfüllten Beamtin und die heiße Luft im Flur, an der ich zu ersticken drohte. Dann dachte ich an den netten, älteren Beamten, der mit mir sprechen wollte, aber nicht konnte. Als der Zug gekommen war, hatte ich mich schon wieder im Griff. Komischerweise war immer noch kein einziger Mensch auf dem Bahnsteig zu sehen! Nachdem ich in einem Wagon Platz genommen hatte, musste ich weiter staunen! Es war weit und breit kein Mensch im Zug zu sehen und ich saß die ganze Zeit alleine im Abteil. Die einzige Person, die ich während der Fahrt nach Regensburg sah, war ein Schaffner, der mich mit einem forschenden Blick betrachtete. Schließlich bin ich in Regensburg ausgestiegen. Der Bahnhof hat mir ebenfalls sehr gefallen und mich beeindruckt. Vor diesem fand ich einen sehr großen Platz mit vielen Bushaltestellen. Auch hier waren die Fahrpläne sehr klein gedruckt, was mich ärgerte, obwohl ich damals noch keine Brille brauchte. Es hat lange gedauert, bis ich auf einer Tafel Regenstauf gefunden hatte. Inzwischen war mir ein Bus in diese Richtung vor der Nase weggefahren, was mich zusätzlich ärgerte. Das Fieber war längst hochgestiegen und ich fühlte mich krank. Bis ich endlich weiterkam, dauerte es wieder lange. Im Übergangswohnheim in Regenstauf bin ich am späten Nachmittag angekommen. Der Blockleiter des Heimes war aber da. Er gab mir einen Zettel mit drei Adressen, unter denen ich mich in drei Tagen anmelden sollte. Diese Info wiederholte er mehrmals, bis ich sie verstanden hatte. Dann führte er mich gleich in eine Dreizimmerwohnung, die im Erdgeschoß lag. Mein Zimmerchen war circa neun Quadratmeter groß und ich sollte es mit einer älteren Frau aus Rumänien teilen. „Sie ist noch nicht von einem Spaziergang zurückgekommen“, erklärte mir der nette Blockleiter. Diese Information habe ich komischerweise verstanden. Im Zimmer befanden sich zwei normale Betten, ein kleiner Tisch, zwei Stühle und ein schmaler Schrank, den ich mit meiner Zimmergenossin teilen durfte. Etwas später begrüßte diese mich und lächelte mich an. „Die ist aber alt“, dachte ich im ersten Moment. Ihr Gesicht bestand nur noch aus tiefen, dicken Falten. Sie war aber erst 68 Jahre alt! Dass die Frau ein Schuldeutsch sprach, habe ich gleich erkannt. Sie sprach mich ständig an, doch ich habe kaum etwas verstanden. Mein erster Weg am nächsten Tag führte mich in das Rathaus. Den Zettel, den ich von Herrn König bekommen hatte, hatte ich dabei, damit der Beamte wusste, warum ich hergekommen war. Der weitere Weg führte mich mit dem überfüllten Bus nach Regensburg, wo ich mich beim Arbeitsamt, dem Sozialamt und der AOK anmelden musste. Im Sozialamt hat man mich registriert. Nun stand ich vor einem großen Kalender und der höfliche Beamte zeigte auf den 25. September. Da wir erst den 25. August hatten, habe ich begriffen, dass ich in einem Monat wiederkommen durfte. Das Geld, das ich in Nürnberg bekommen hatte, musste also für einen Monat reichen. Im Arbeitsamt nahm man mich in die Kartei auf und der Beamte schüttelte nur den Kopf. Hier verstand ich kein einziges Wort. Es war bedrückend für mich. Der junge Beamte machte ein trauriges Gesicht, streckte die Hände aus und schüttelte den Kopf. Später habe ich erfahren, dass ich als Rentnerin kein Recht auf Arbeit, Arbeitslosengeld oder einen Sprachkurs hatte. Nachdem ich mich in den drei Ämtern angemeldet hatte, schaute ich mich kurz in der Stadt um und blieb eine Weile auf der alten, schönen und breiten Betonbrücke an der Donau stehen. Es gefiel mir hier, ich eilte aber zum Bus, um mich schließlich in meinem neuen Zuhause ausruhen zu können. Ich habe weiter krankhaft geschwitzt und müde war ich auch. Die hohen Temperaturen in diesem Sommer machten mir sehr zu schaffen, vor allem in dem überfüllten Bus. Die Tatsache, dass ich an diesem Tag alle drei Amtswege hatte erledigen können, ließ mich innerlich aufatmen. Nachdem ich mich ausgeruht hatte, machte ich mich am Abend auf den Weg zu einer Telefonzelle, um mich endlich bei Toni zu melden. Sie hatte schon ungeduldig auf meinen Anruf gewartet. Nun konnte ich ihr endlich erzählen, was in den letzten Tagen alles passiert war und was ich bereits erledigt hatte. Vor allem wollte sie wissen, wo ich gelandet war. Mein Bericht war lang und voller Emotionen. Dann bekam ich von Toni eine Anweisung, an die ich mich von diesem Tag an halten sollte, nämlich alle amtlichen Briefe sofort an sie weiterzuschicken, damit sie im Bilde war, in welcher Situation ich mich befand, weil ich doch kein Wort aus dem Schreiben verstehen würde. So sind wir an diesem Tag auch verblieben. *** Nach ein paar Tagen in Regenstauf bekam ich von meiner Nichte zwei Wörterbücher. Von da an habe ich jeden Tag ein paar Worte für meinen täglichen Gebrauch aus den Wörterbüchern gelernt. Wir hatten keinen Fernseher im Zimmer, auch kein Radio, also waren die beiden Bücher für mich eine wertvolle Hilfe, um die deutsche Sprache zu erlernen. Die Worte, die ich lernen und behalten wollte, habe ich in großer Schrift auf ein Blatt geschrieben und in der Früh um 06:00 Uhr beim Aufwachen gleich gepaukt. So ging es dann die ganze Zeit konsequent weiter. Jeden Tag! Ich wusste, dass ich jetzt von der Sprache abhängig war und ohne sie nicht weiterkommen würde. Ich war zufrieden, dass ich endlich etwas für mich selber machen konnte. Die polnische Stagnation war damit beendet und vorbei. Eines Tages zeigte mir meine Zimmergenossin, Frau Elisabeth, die Kleiderkammer, die sich in unserem Keller befand. Darin habe ich alles gefunden, was ich für den Herbst und Winter brauchte. Das hat mich beruhigt, weil die 200 DM tatsächlich nur für das Überleben reichten. An einem anderen Tag erlebte ich wieder ganz überraschend die heulende Sirene. Sie war dermaßen schrill und laut wie die, die ich als Kind während des Krieges erlebt hatte. Ich stürzte aus der Wohnung und blieb vor dem Haus stehen, es war aber kein Mensch zu sehen. Ich war sehr aufgeregt und konnte nicht verstehen, dass niemand auf den Alarm reagierte. Als der letzte Klang der Sirene verloschen war, wartete ich ab. Es tat sich aber weiterhin nichts. Ich ging dann weiter auf die Hauptstraße und schaute mich um. Ganz weit weg sah ich Menschen, die sich langsam bewegten und nicht nervös wirkten. Wahrscheinlich kamen sie von einem Spaziergang ins Heim zurück. Nach einer Weile erkannte ich zwischen den Spaziergängern eine Frau aus Mikolow! „Die Welt ist aber klein!“, dachte ich. Wir kannten uns nur vom Sehen her, aber jetzt ging sie auf mich zu und wir begrüßten uns wie alte Bekannte. Die Überraschung war groß und wir freuten uns über diese unerwartete Begegnung. Ich fragte sie natürlich gleich, was es mit dem Alarm auf sich hatte. So erfuhr ich, dass in dem nahe liegenden Wald eine amerikanische Einheit stationiert war und die Sirene die Soldaten zu Übungen aufgefordert hatte. „Gott sei Dank, ich dachte schon, dass ein Krieg ausgebrochen wäre“, sagte ich. „Muss da gleich der ganze Ort in Schrecken versetzt werden?“ Ich habe in Schlesien nach dem Krieg keinen Alarm mehr erlebt, deswegen habe ich mich beim lauten Schrillen der Sirene so erschrocken. Der nächste Alarm hat mich nicht mehr in Panik versetzt, aber trotzdem musste ich mich erst daran gewöhnen. *** Nachdem ich mich in Regensburg beim Arbeitsamt angemeldet hatte, bekam ich nach wenigen Tagen ein amtliches Schreiben, das ich sofort an Toni weiterschickte, so wie wir das verabredet hatten. Kaum dass es versandt war, bekam ich plötzlich einen überraschenden Besuch von Toni und Kurt. Ich stand gerade im Bad und schaute aus dem Fenster, da sah ich unerwartet ihr Auto auf den Parkplatz fahren. Rechts stieg Toni aus und eilte ins Heim, während Kurt sich eine Pfeife anzündete und sich mit dem Rücken zum Heim am Auto anlehnte. Ich ging Toni entgegen und öffnete die Wohnungstür. Sie kam ohne Begrüßung herein und fragte: „Wann fährst du?“ Ich wusste sofort, worauf sie hinauswollte und sagte ganz gelassen zu ihr: „Toni, beruhige dich, alles ist gut, ich habe Sozialhilfe bekommen. Hol doch den Kurt“, sagte ich beruhigend. Ein paar Minuten später kam mein Schwager schweigend herein und setzte sich auf den Stuhl. Toni nahm das Schreiben vom Arbeitsamt aus ihrer Tasche heraus und gab es mir zurück. Dabei erklärte sie mir, was darin stand. „Du bekommst kein Arbeitslosengeld und auch keine Rente!“, sagte sie, immer noch erregt. Daraufhin sagte ich wieder ganz gelassen: „Bitte Toni, beruhige dich doch, ich habe Sozialhilfe bekommen, damit wird alles gut! Ich bin nicht im Stich gelassen worden, ich hab Geld zum Leben bekommen und ich habe fünf Jahre lang Zeit! Ich werde Deutsch lernen und damit arbeiten können. Das ist doch die Chance, die ich brauche!“ Ich habe damals schon ein kleines Licht am Horizont für mich gesehen. *** Während ich mich jeden Tag auf das Lernen konzentrierte und für nichts anderes mehr einen Kopf hatte, machte sich Toni Sorgen um meinen gesundheitlichen Zustand. Ohne mein Wissen hatte sie in der Praxis von Pater Ober einen Termin für mich vereinbart und eines Tages bat sie mich, nach München zu kommen. Am 10. Oktober 1987 bin ich dann mit Toni und Kurt nach Aschau gefahren. Nachdem wir das Auto auf dem Campingplatz abgestellt hatten, führte mich Toni durch die großen Wiesen in die Praxis. Dass Pater Ober nicht in Aschau weilte, wusste Toni nicht. Seine Assistentin, Frau D. J., ebenfalls eine Heilpraktikerin, empfing uns. Sie untersuchte mich genau und verabreichte mir am Schluss eine Spritze in die Halswirbelsäule, was überhaupt keinen Schmerz verursachte. Das wunderte mich sehr. Während ich noch auf der Liege ruhte, unterhielt sich die Heilpraktikerin die ganze Zeit mit Toni, wobei ich kein einziges Wort verstand. Nachdem ich aufstehen durfte und mich zu Toni auf einen Stuhl setzte, sagte Toni mit staunendem Gesicht zu mir: „Frau D. J. will dich im Haus behalten, sie sagt, dass du hierher passt. Sie bietet dir eine Zweizimmerwohnung und 1200 DM im Monat an!“ „Aber Toni!“, sagte ich sofort, „das geht doch nicht! Ich muss doch erst die Sprache lernen, in eine Schule kommen, ich verstehe sie doch gar nicht!“ Jetzt stand die Heilpraktikerin auf und nahm ein Foto in die Hand, auf dem eine Nonne abgebildet war. Sie sagte zu Toni: „Diese Nonne hat Pater Ober das Pendeln beigebracht. Er hat es dann mir beigebracht und heute mache ich ihrer Schwester den Vorschlag, es zu erlernen.“ Toni war immer noch verblüfft und übersetzte mir gleich ihre weiteren Worte. Ich war von dem gesamten Angebot genauso überrascht wie Toni, sagte aber nochmal: „Bitte sag ihr, dass mich ihr Angebot zwar ehrt, aber bleiben kann ich nicht. Sag ihr, dass ich erst in eine Schule gehen möchte.“ Die Heilpraktikerin sah meine Entschlossenheit und bedauerte meine Entscheidung, stellte sich aber nicht dagegen. Wir kehrten in Gedanken versunken durch die großen Wiesen zum Campingplatz zurück. Toni erzählte Kurt immer noch staunend gleich von dem Angebot, das mir die Heilpraktikerin gemacht hatte. Er staunte natürlich auch, sagte aber nichts. Keiner von uns dreien konnte damals ahnen, dass ich nach vielen Jahren als staatlich anerkannte Pflegekraft und nach zehn Jahren Erfahrung in der Pflege und Geriatrie eines Tages nach Aschau zurückkommen würde, um Pater Ober beizustehen. *** Wir fuhren nach dem Mittagsessen gleich nach München zurück, wo ich den Zug nach Regenstauf nahm. Es wurde mir klar, dass ich nicht nur die Sprache erlernen musste, sondern auch einen nützlichen Beruf, in dem ich in meinem Alter noch eine Chance hätte. Vorerst paukte ich die Worte aus dem Wörterbuch jeden Tag weiter und weiter. Ich habe mit der Zeit auch meine Zimmergenossin Elisabeth immer besser verstanden, aber für die Spaziergänge mit ihr hatte ich leider keine Zeit. Ich fing auch an, Bücher zu lesen. Erst war es die einfache Schriftstellerin Courths-Mahler mit ihrem begrenzten Wortschatz. Natürlich habe ich auch sie am Anfang gar nicht verstanden, aber ich las weiter. Dann kam der Zeitpunkt, ab dem ich immer mehr aus den Büchern verstand. Es waren Romane mit gutem Ausgang. Ich habe die Autorin dafür bewundert, dass sie sich zutraute, Bücher zu schreiben. Das war nämlich eine Frau ohne Ausbildung, und die Themen für ihre Romane entnahm sie den Gesprächen der Damen, die Stoffe für ihre Krinolinen und modernen Kleider in dem Geschäft kauften, in dem sie als Verkäuferin arbeitete. Das waren noch die alten Zeiten, in denen sich die Damen für ihre Einkäufe viel Zeit nehmen konnten und dabei mit der Freundin im Geschäft plauderten. Die junge Verkäuferin – sie war damals 16 – hörte neugierig zu und sammelte Stoff für ihre künftigen Romane. Ein mutiges, talentiertes Mädchen! Der nächste Autor war Konsalik, aber auch die dünnen Heftchen, die Arztromane, in denen ich die Gespräche der Personen verfolgen konnte. Eines Tages während des Lernens fiel mir plötzlich ein Satz aus der Bibel ein: „Bittet und ihr werdet erhört!“ Nachdem mir die Worte auf Polnisch so plötzlich in den Sinn gekommen waren, wusste ich, was ich machen musste. Ich habe mich sofort auf ein Gespräch beim Arbeitsamt vorbereitet und am nächsten Tag fuhr ich nach Regensburg. Ich wollte den Beamten um einen Sprachkurs bitten, wohlwissend, dass ich eigentlich keinen Anspruch darauf hatte. Wie ich es erwartet habe, nahm der Beamte meine Kartei in die Hand, schaute sie lange an und fing an, den Kopf zu schütteln. Darauf war ich vorbereitet. Ich wartete ab. Dann sagte er mir, dass ich keinen Anspruch auf einen Sprachkurs habe, weil ich als Rentnerin nach Deutschland gekommen bin. Das wusste ich ja auch schon. „Bitte! Machen Sie mir doch das Leben nicht so schwer, ohne die Sprache kann ich doch nicht arbeiten gehen“, sagte ich schließlich. „Bitte, bitte, helfen Sie mir doch.“ Der Beamte blieb dabei. Das Gespräch war beendet und ich fuhr sehr enttäuscht und niedergeschlagen nach Regenstauf zurück. Kurz nach dem Besuch erlebte ich aber eine unerwartete Überraschung: In einem Schreiben teilte mir das Arbeitsamt mit, dass ich einen Sprachkurs besuchen durfte, und zwar vom 19. November 1987 bis zum 06. Mai 1988. Als ich Toni die gute Nachricht mitteilte, fragte sie nur staunend: „Wie hast du das geschafft?“ *** Das Institut für Ganzheitliches Lernen, das IGL, befand sich in der Leopoldstraße 3 in Regensburg. Am ersten Tag mussten sich alle Personen, die sich für den Sprachkurs angemeldet hatten, einem Test unterziehen. Mit diesem hat man unsere Deutschkenntnisse geprüft, danach wurden wir in zwei Gruppen aufgeteilt. Ich kam natürlich in die erste Gruppe, die bei null anfangen musste. In die zweite Gruppe kamen die Personen, die schon ein wenig sprechen konnten und im Test besser abgeschnitten hatten. In den ersten Tagen bin ich mit dem Bus nach Regensburg gefahren, was für mich natürlich eine große Ausgabe bedeutete. Dann erfuhr ich, dass manche Personen aus meinem Übergangswohnheim mit dem Auto in die Schule kamen. Es hat sich dann die Möglichkeit ergeben, dass ich mitfahren konnte, somit wurde ich wieder mal gerettet. Meine Gruppe zählte vierzehn Personen. Die Teilnehmer kamen aus verschiedenen Ländern wie Russland, Polen oder Rumänien, einer war sogar aus Arabien. Unser Unterricht hat schon am nächsten Tag begonnen. Wir haben uns in einer Reihe auf die Stühle vor der Tafel hinsetzen müssen und der junge Lehrer hat den ersten Unterricht mit uns mithilfe eines Balles begonnen. Diesen hat er jedem von uns zugeworfen, dabei sprach er einen kurzen Satz aus, aber ganz langsam und deutlich und daran angepasst, aus welchem Land der Schüler kam, zum Beispiel: „Ich komme aus Russland. Ich komme aus Arabien.“ Der junge, aber sehr erfahrene Lehrer hat den Ball jeder Person so lange zugeworfen, bis sie den Satz übernehmen und wiederholen konnte. Dabei hat er während des ganzen Unterrichtes kein anderes Wort gesprochen und jeder von uns konnte sich den Satz merken, weil er für ihn gegolten hat. Auch die Bedeutung hat jeder verstanden. Der Lehrer hat uns also ein einfaches Erfolgserlebnis beschert, ohne zu hohe Anforderungen zu stellen. Es war interessant und ich habe den Lehrer bewundert. Am nächsten Tag brachte er uns bei, wie wir uns vorstellen konnten, und an jedem weiteren Tag lernten wir neue Sätze. Wir konnten das in der Schule Gelernte zu Hause wiederholen und festigen, weil wir das, was er an die Tafel schrieb, in unser Heft abschreiben mussten. Der junge Lehrer, Herr Gottfried Schünner, hat sich auf jede Unterrichtseinheit sehr gut vorbereitet. Er hat sich viel Mühe gegeben, um uns die Sprache gut beizubringen. Manche Worte oder Unterschiede zwischen den Worten hat er sogar bildlich erklärt. Eines Tages ging es um den Unterschied zwischen „ich möchte“ und „ich will“. Herr Schünner hat sich in einen Schauspieler verwandelt und zeigte uns, wie sich ein Kellner bei der jeweiligen Phrase verhalten würde. Er brachte uns zum Lachen und wir haben den Unterschied sehr gut verstanden und auch behalten. An einem anderen Tag erzählte uns Herr Schünner, wie es war, als er als Kind mit den Eltern nach Deutschland kam. Er erwähnte dabei, dass seine Mutter immer noch „Kiche“ statt „Küche“ sagte. An diesem Tag habe ich auch erfahren, wie alt er war. Er kam am selben Tag, im selben Monat und im selben Jahr wie meine ältere Tochter auf die Welt! Er war also erst achtundzwanzig Jahre alt, hatte aber eine sehr große Erfahrung im Umgang mit uns Anfängern. Und nicht nur das, er verfügte auch über ein großes Einfühlungsvermögen, er erkannte sofort unsere Schwächen, unsere Schwierigkeiten und Probleme, die mit dem Lernen der neuen Sprache verbunden waren. Er konnte sich aufgrund eigener Erfahrungen sehr gut auf uns einstellen. Er war als Lehrer in seinem Element. *** Vor Ostern 1988 wurde meine Gruppe geprüft. Wir mussten einen Test schreiben und das fand ich gar nicht gut, es war einfach zu früh! Danach mussten die Personen, die den Test gut geschrieben hatten, in die zweite Gruppe wechseln. Eine Frau aus Opeln und ihre Tochter sowie ich haben den leichten Test bestanden und mussten die Gruppe von Herrn Schünner verlassen. Nun hatten wir einen anderen Lehrer. Ab diesem Zeitpunkt habe ich nichts mehr gelernt, auch mein Heft blieb leer. Ich habe zehn kostbare Tage verloren, weil wir jeden Tag – zehn Tage lang! – stundenlang ein blödes Lied über einen schwarzen Vogel singen mussten. Die Situation machte mich nervös, ich konnte den Zustand nicht mehr ertragen und musste etwas unternehmen. Ich habe mich mithilfe des Wörterbuches auf ein Gespräch mit dem Lehrer vorbereitet, weil ich ihn am nächsten Tag in der Pause darauf ansprechen wollte. Ich war mir aber nicht sicher, wie er reagieren und ob er sich nicht beleidigt fühlen würde. Ich musste ihn aber sprechen. Am nächsten Tag, als wir wieder dieses Lied singen mussten, ging ich in der Pause zu ihm und redete mittels der dafür erlernten Sätze mit ihm. Ich bat ihn, sich für den Unterricht vorzubereiten, weil ich schon zehn Tage verloren und nichts gelernt hatte. Und in meinem Heft stand auch nichts, wie ich mutig zugab. Mehr konnte ich nicht sagen. Für die holprige Darstellung meines Wunsches habe ich mich natürlich geschämt, aber der Lehrer hat begriffen, dass ich lernen und nicht nur herumsitzen wollte. Der Lehrer, der einen polnischen Namen hatte, sagte kein Wort, und ich bekam Angst, dass er sich beleidigt fühlte und bei der Leitung über mich beklagen würde. Ich fürchtete, dass ich womöglich aus dem Kurs fliegen könnte. Vor lauter Kummer konnte ich nachts nicht schlafen. Am nächsten Tag habe ich einen tollen Unterricht erlebt! Sogar die Tafel wurde vollgeschrieben, ich konnte alles in mein Heft abschreiben und zu Hause lernen. Ich war sehr zufrieden, obwohl der Unterricht nicht an den von Herrn Schünner anknüpfte. Nach dem Unterricht kam der junge Lehrer auf mich zu und fragte mich, ob ich jetzt zufrieden sei. Ab da bereitete er sich für jeden Unterricht sorgfältig vor. Tatsache aber blieb, dass ich zehn kostbare Tage verloren hatte. Der Unterschied zwischen den beiden gleichaltrigen Lehrern war groß und ich empfand es als ungerecht und sehr schmerzhaft, dass ich die erste Gruppe hatte verlassen müssen. Anfang Mai war der Sprachkurs für mich beendet. Viel hatte ich aber nicht gelernt, weil die kurze Kurszeit zusätzlich von Weihnachts- und Osterferien unterbrochen wurde. Die anderen Kursteilnehmer durften bleiben und das hohe Arbeitslosengeld zehn Monate lang beziehen, obwohl der größte Teil während des Unterrichtes geschlafen hatte und außerdem Deutsch reden konnte. Die Leute gaben es aber nicht zu, es ging ihnen nur darum, das hohe Arbeitslosengeld zu bekommen. Sie waren im Vorteil, weil sie bis zur Ausreise nach Deutschland gearbeitet und somit ein Recht auf Arbeitslosengeld hatten. Sie freuten sich, dass sie nicht arbeiten mussten. Sie machten aber den Sprachkurs mit, um die 800 DM im Monat zu bekommen, weil das sehr viel Geld für sie war. Ich dagegen musste mich mit 200 DM abfinden, obwohl ich lernen und arbeiten wollte. Nachdem die Zeit des Kurses für mich abgelaufen war, musste ich eine Prüfung schreiben. Man hatte mich in einem leeren Schulraum allein sitzen gelassen und ich bekam zwei Aufgaben zur Auswahl. Ich entschied mich für das Thema „Mein erster Tag in Deutschland“. Ich schrieb die Arbeit, ohne auf die Grammatik zu achten. Es sind mehrere Seiten geworden. Dabei dachte ich: „Was soll’s, ich schreibe, wie ich kann.“ Am nächsten Tag erlebte ich eine Überraschung. Der Lehrer kam mit meiner Arbeit in der Hand in die Klasse und sagte: „Das war die beste Arbeit, die man seit Jahren in diesem Institut geschrieben hat!“ Ich wurde sehr verlegen – „machte er sich über mich lustig? Die fehlende Grammatik! Die ungeschickten Sätze …“, dachte ich. Er meinte es aber ernst. Er zitierte sogar manche Ausdrücke aus meiner Arbeit, die ihm angeblich so gefallen haben. Während er meinen Aufsatz lobte, wurde mir bewusst, dass er den Inhalt und nicht die Fehler beurteilt hatte. Darüber verlor er kein einziges Wort, weil ihm klar war, dass ich in der kurzen Zeit nur den Akkusativ und den Genitiv gelernt hatte. *** Meine Unterkunft in Regenstauf, in der ich das kleine Zimmerchen mit Frau Elisabeth aus Rumänien teilte, war gut ausgelastet. Insgesamt haben in unserer Dreizimmerwohnung acht fremde Menschen zusammengelebt. Das größte Zimmer bewohnte ein junges Ehepaar mit zwei Kindern im Schulalter, das zweite kleine Zimmer ein älteres Ehepaar aus der DDR. Diese Frau hat ständig geweint und kam selten aus dem Zimmer heraus. Der Mann war schon ganz verzweifelt. Unsere gemeinsame Zeit in der Unterkunft verlief reibungslos, wir haben unter dem gemeinsamen Dach in Harmonie gelebt. Wir Frauen haben uns die Küche geteilt und manchmal auch zusammen gekocht und nachmittags geplaudert. Die Heimleitung hat für uns Flüchtlinge gesorgt. Unter anderem gab es jeden Monat einen Ausflug, an dem man teilnehmen konnte. Auch an Weihnachten und Ostern wurden wir alle zu einer Feier eingeladen, man beschenkte uns sogar. Zur ersten Weihnachtsfeier wurde jeder einzelne mit einem gefrorenen Hühnchen beschenkt, was alle in Staunen versetzte, so groß war die Überraschung. Ich lebte sehr bescheiden, sodass meine Sozialhilfe für den ganzen Monat reichte. Ich konnte sogar jeden Monat 20 DM sparen und das Geld einmal an die eine und im nächsten Monat wieder an die andere Tochter schicken. Das war viel Geld für die beiden. Ich war zufrieden mit dem, was ich hatte, vor allem mit der Möglichkeit, in Ruhe Deutsch lernen zu können, deswegen habe ich kaum an den Ausflügen teil genommen. Aber einmal ging es nach Bamberg und da wollte ich mitfahren. Bamberg ist eine sehr alte, schöne Stadt mit vielen Sehenswürdigkeiten und zahlreichen Kirchen. Man hat uns erst in eine alte und berühmte Bibliothek geführt, die nicht besonders groß war, aber ich glaube, dass sie die ältesten Ausgaben besaß. An den drei Wänden des großen Raumes befanden sich Regale, die mit sehr alten Büchern gefüllt waren. Da waren zahlreiche große, dicke Bücher in goldenen Umschlägen und man hatte den Eindruck, dass es die ersten Ausgaben waren, die man nach der Erfindung des Buchdrucks in Europa geschrieben und veröffentlich hatte. Wir hatten ja keinen Führer, der uns etwas Näheres über die alte Bibliothek hätte sagen können. Sie war sehr beeindruckend, vor jedem Regal standen Skulpturen aus Holz in Menschengröße. Diese zeigten außergewöhnliche Gestalten aus der Vergangenheit Anders konnte ich mir die Bedeutung der komischen, aber auch interessanten Gestalten nicht erklären, und die Bibliothek besaß auch eine besonders eindrucksvolle Atmosphäre. Wir haben an diesem Tag auch eine sehr alte Kirche mit künstlerischen Kostbarkeiten besucht. Vor der Kirche stand eine Tafel mit folgenden Worten: „Fotografieren verboten!“ Doch die Kunstwerke, die wir hier zu sehen bekamen, waren wunderschön, deswegen wollte ich einfach alles fotografieren. Da ich noch einen halben Film zur Verfügung hatte, fing ich an, heimlich zu fotografieren und ich freute mich innerlich, dass mich niemand dabei erwischte. Ich wollte eben Bilder für meine Kinder machen. Das schmackhafte Mittag- und Abendessen bekamen wir in einem Restaurant serviert und wir übernachteten in einem großen, alten Haus mit gutem Klima, in dem die breiten Korridore mit Parkett ausgekleidet waren. Am nächsten Tag sind wir zum Frühstück in einen großen Speisesaal geführt worden. Neben mir am Tisch hat eine ältere Dame aus meinem Übergangswohnheim Platz genommen, mit der ich noch nie gesprochen hatte. Ich kannte sie nur vom Sehen und von manchen Personen aus meinem Sprachkurs wusste ich, dass sie allen jungen Heimbewohnern, die noch kein Wort Deutsch sprechen konnten, beim Ausfüllen der verschiedenen Formulare behilflich gewesen war. Sie war eine reife Frau und älter als ich. Sie sprach ein perfektes Deutsch. Nachdem wir uns einander vorgestellt hatten, erfuhr ich, dass sie aus Niederschlesien kam, und ich hakte gleich nach, weil ich wissen wollte, aus welcher Stadt. Sie kam aus Prudnik, wie mein Mann, und in diesem Moment war ich wie elektrisiert. „Was für ein Zufall“, dachte ich. Ich nannte ihr seinen Namen und fragte, ob sie ihn kenne, was sie bejahte. Sie wusste gleich, dass sein Vater der Polizeikommandant von Prudnik gewesen war. Dann wollte ich noch wissen, ob sie diesen persönlich gekannt hatte. Das verneinte sie, aber sie meinte, dass jeder in der Stadt wusste, dass er ein Trinker war und alle sechs Kinder geschlagen hatte. Zum Glück hatte mich die neue Bekannte nicht gefragt, warum mich die Person interessierte. Es ging ja um meinen Schwiegervater, den ich nie kennengelernt hatte, weil er im Jahre 1960, in dem ich meinen Mann geheiratet hatte, längst nicht mehr gelebt hatte. Ich wollte aber noch sichergehen, dass wir tatsächlich über dieselbe Person sprachen, und setzte das Gespräch mit ihr fort. Ich erfuhr, dass der Kommandant aus der Stadt Dabrowka Wielka nach Prudnik gekommen war und drei Kinder mitgebracht hatte. In Prudnik hatte er eine reiche Bäuerin geheiratet, die auch drei Kinder gehabt hatte. In diesem Moment erinnerte ich mich, worüber mein Mann sich damals beklagt hatte: Alle sechs Kinder hatten auf dem Feld arbeiten müssen und zum Mittagsessen hatte die Stiefmutter erst ihre Kinder gerufen und dann die anderen. Er klagte, dass sie ständig hungrig gewesen waren. Die Informationen, die ich jetzt von dieser Frau bekam, haben mir gereicht, um zu wissen, dass wir tatsächlich über die gleiche Person sprachen. Ich wunderte mich nur, woher sie so viel über ihn wusste. Auf diese Weise lernte ich meinen Schwiegervater nach siebenundzwanzig Jahren über eine fremde Frau kennen. Da wurde mir bewusst, dass mein Mann kein gutes Vorbild gehabt hatte. Er war zehn Jahre älter als ich, aber klüger war er deswegen nicht. Bevor wir verheiratet waren und er das erstes Mal betrunken nach Hause kam, brach er in Tränen aus und beklagte sich bitter über seine schwere Jugend und das Leid, das er bei der Stiefmutter hatte ertragen müssen. Ich war über das Gehörte erschrocken und er tat mir in diesem Moment sehr leid. Mein Mann wurde irgendwann grundlos aggressiv und ich habe mit dem kleinen Kind aus der Wohnung flüchten müssen. So etwas hatte ich zum ersten Mal erlebt und der Schreck war groß. Die Erinnerungen wurden wieder lebendig, aber ich behielt sie für mich. Ich war froh, dass mich die neue Bekannte nicht fragte, warum mich der Kommandant aus Prudnik so interessierte. Auf diese Idee ist sie zum Glück nicht gekommen. Dann gingen mir die Erzählungen meines Mannes von damals weiter durch den Kopf: Zwei Jahre nach dem Krieg war mein Mann im Alter von siebzehn Jahren vor der Stiefmutter nach Sosnowiec zu der Schwester seiner Mutter, die 1942 verstorben war, geflüchtet. Nach zwei Jahren war der jüngere Bruder nachgekommen und nach weiteren Jahren auch die kleine Schwester. Ich fragte mich, wie mein Mann nach so vielen schlechten Erfahrungen mit dem eigenen Vater doch in dessen Fußstapfen hatte treten können, indem er dasselbe tat. Der Ausflug nach Bamberg hatte mich mit Eindrücken und Erinnerungen erfüllt, die mich auf der Rückfahrt nach Regenstauf immer noch die ganze Zeit beschäftigt haben. Den Film, den ich während des Ausfluges und am Schluss in der Kirche zu Ende geknipst hatte, brachte ich noch am selben Tag zum Entwickeln. Ich habe mit Freude und Ungeduld auf die schönen Bilder aus der Kirche gewartet. Meine Enttäuschung war aber sehr groß, als ich die Fotos in den Händen hielt. Die Aufnahmen aus der Kirche waren allesamt misslungen! Die Bilder sahen so aus, als wären sie doppelt belichtet worden. Ich bin so richtig ins Staunen geraten, weil alle andere Aufnahmen völlig unversehrt waren. Es war ein unglaubliches Erlebnis. Ich fragte mich, was hinter dem Verbot steckte, was für eine Macht, was für eine Kraft und welches Geheimnis die alte, hochinteressante und wunderschöne Kirche wohl in sich trug. War das nicht ein Fall von vielen, die zwischen Himmel und Erde passieren und die für uns Menschen unbegreiflich sind? Ich hatte mich nicht an das Verbot gehalten und dafür die Quittung bekommen. Das war wieder ein Erlebnis, das mich lange beschäftigte. *** Im ersten Jahr, das ich in Regenstauf verbrachte, wurde ich drei Mal zu verschiedenen Ärzten eingeladen. Die letzte Frau Doktor, bei der ich mich vorstellen musste, war eine ältere Dame, die mich mit folgenden Worten empfing: „Ach, so eine junge, hübsche Frau! Haben Sie keine Lust zu arbeiten?“ Der unerwartete Schlag hatte gesessen. Die Ironie in Ihrer Stimme zu hören, traf mich tief. Ihre Worte verschlugen mir die Sprache und meine Augen füllten sich mit Tränen. Mit einer Handbewegung zeigte sie auf einen Stuhl, auf dem ich Platz nehmen sollte. Dieser stand vor einem großen Tisch. Ich war so aus dem seelischen Gleichgewicht geworfen worden, dass ich nicht gleich erkannte, dass ich vor einem Gerät saß. Die Ärztin legte einen Ledergürtel um meinen Kopf, meine Hände und meine Beine. Dann schloss sie an alle Gürtelchen dünne Kabel an, die sie dann weiter mit dem Gerät verband, dann wurde es eingeschaltet. Über dem Tisch liefen schmale Papierstreifen, über die sich dünne, lange Nadeln wie bei einem Seismographen hin- und herbewegten Die Nadeln zeichneten eine Zick-Zack-Bewegung auf, deren Amplituden zunächst klein waren, aber nach jeder weiteren Sekunde wurden sie größer. Die Untersuchung konnte ich kaum abwarten, ich wurde nervös! Die Ärztin schaltete das Gerät ab und befreite mich aus den Gürteln und Kabeln. Sie bat mich zu ihrem Schreibtisch. Ich fühlte mich nach dem unfreundlichem Empfang immer noch niedergeschlagen, deswegen sagte ich ihr beim Hinsetzen nur, dass ich arbeiten will. Mehr konnte ich nicht sagen, denn meine Kehle war immer noch zu. Die Ärztin schaute mich jetzt ernst an und sagte ganz höflich zu mir: „Bei diesem Untersuchungsergebnis kann ich sie unmöglich arbeiten lassen, zuerst schicke ich Sie in ein Sanatorium.“ Nach diesen höflichen Worten spürte ich, wie sich mein Körper entspannte. Es fielen keine Worte mehr zwischen uns und ich verließ ihre Praxis schweigend. Ich kehrte erschöpft und mit einer gewissen Erleichterung und Zufriedenheit in mein Übergangswohnheim nach Regenstauf zurück. Am Abend suchte ich wieder eine Telefonzelle auf, um Toni mitzuteilen, was ich erlebt hatte. Die gute Nachricht, dass ich in ein Sanatorium kommen sollte, freute sie ebenso wie die Tatsache, dass ich einen Schritt weitergekommen war. Es hat dann nicht lange gedauert, bis ich ein Schreiben aus dem Sanatorium bekam. Man teilte mir mit, dass ich mich am 19. November 1988 melden sollte. *** Das Sanatorium lag in Norddeutschland. Die lange Reise hatte mich sehr viel Kraft und Geduld gekostet. Ich war sehr geschwächt und verschwitzt angekommen. Das Sanatorium lag abseits einer kleinen Stadt und war von Wäldern umgeben. Die Gegend war schön, aber es war sehr windig. Als ich in mein Zimmer geführt wurde, konnte ich durch das Fenster einen Blick in die wunderbare Ferne werfen. Das Zimmer selbst war schön und mit dem Nötigsten ausgestattet. Ich atmete auf und legte mich hin, bis mich später eine Frau durch das Sanatorium führen wollte. Von Anfang an habe ich es als seltsam empfunden, weil nirgends der weiße Kittel eines Arztes oder einer Krankenschwester zu sehen war. Auch wurde ich weder zu einem Arzt gebeten noch nahm man mir Blut ab, wie ich es erwartete. Über meinen gesundheitlichen Zustand habe ich erst mit Karin gesprochen, mit der ich zu Mittag an einem Tisch saß. Von ihr erfuhr ich erst, dass das Personal des Sanatoriums sich in Zivil unter den Patienten bewegte, deswegen hatte ich keinen Arzt erkennen können. Karin machte mich auf eine Frau aufmerksam und sagte, dass sie eine Ärztin sei. Sie habe ich dann bei der ersten Gelegenheit auch angesprochen und um ein Gespräch gebeten. Nach diesem wurde ich nach ein paar Tagen mit einem PKW in die nahe liegende Stadt zu einem Arzt gebracht. Der ältere Herr war sehr höflich, er untersuchte mich gründlich und machte sogar ein EKG. Er stellte eine starke Angina fest und verschrieb mir Penizillin, was aber nicht half. Ich war schon ganz verzweifelt, weil ich wegen des krankhaften Schwitzens das Gebäude nicht verlassen konnte, und schwach war ich auch. In meiner Not wendete ich mich telefonisch an die Heilpraktikerin, die in der Praxis von Pater Ober arbeitete. Sie untersuchte mich fern und verordnete die entsprechenden Naturmittel. Die Medikamente habe ich dann per Post von der Schloß-Apotheke in Aschau zugeschickt bekommen. Jetzt hatte ich aber ein Problem, weil ich mir damals die zugeschickten Spritzen noch nicht selbst verabreichen konnte. Inzwischen hatte ich schon zwei Schwestern kennengelernt, aber die weigerten sich, mir die Spritzen zu verabreichen. Sie konnten nicht verstehen, wie mir jemand etwas verordnen konnte, ohne mich vorher gesehen zu haben. Dann sprach ich mit der Ärztin, die mich zum Arzt geschickt hatte. Sie strahlte so eine große Ruhe aus, dass ich ihr das Problem langsam erklären konnte. Sie hat mich doch gut verstanden und war dann dazu bereit, mir die Spritzen zu geben. Ich war wieder mal gerettet. Nach Ablauf von zehn Tagen war das krankhafte Schwitzen vorbei und ich konnte endlich mit Karin in der windigen Umgebung spazieren gehen. Das Sanatorium hatte einen riesigen Speisesaal. An einer Wandlänge waren lange Tische zusammengestellt, auf denen sich das üppige Buffet befand. Die Auswahl zu jeder Mahlzeit war sehr groß und man konnte sich selber bedienen und so viel von allem nehmen, wie man wollte. Nach den schweren, mageren Zeiten in Polen kam mir alles hier wie in einem Märchen vor. Noch dazu genoss ich die volle Freiheit. Ich konnte, wie alle anderen Patienten auch, zu jeder Zeit das Gebäude des Sanatoriums verlassen, man musste niemanden um Erlaubnis bitten oder sich abmelden, und von Karin erfuhr ich, dass man auch so lange hierbleiben durfte, wie man wollte. War das nicht wunderbar und märchenhaft? Nachdem das Schwitzen und die Schwäche vorbei waren, konnte ich mich während der langen Spaziergänge im Wald erholen. Es war eine herrliche Zeit und jeden Abend habe ich mit Karin, die Malerin war, die Zeit mit Malen verbracht. Ich habe wieder mal an die Zeiten gedacht, in denen ich im Gesundheitsamt in Tychy gearbeitet hatte und unter anderem für die Zuteilung der Sanatoriumsaufenthalte zuständig war. Der Bedarf war in unserem Bezirk riesig und ich habe nur einen oder höchstens zwei Plätze im Monat für die ernsthaft Kranken bekommen. Der größte Teil hat jahrelang vergeblich auf so einen Platz im Sanatorium gewartet. Außerdem waren die Aufenthalte zeitlich begrenzt und haben in jedem Fall nur einundzwanzig Tage gedauert. *** Im Sanatorium lebte ich wie in einem Luxushotel! So gut ist es mir in meinem ganzen Leben noch nicht gegangen: keine Arbeit und keine Pflichten – außer einer Sache: Die Patienten waren in kleine Gruppen eingeteilt worden und jede Gruppe musste sich um eine bestimmte Zeit zu einer Sitzung versammeln, das war die einzige Pflicht an jedem Tag. Meine Gruppe versammelte sich um 15:00 Uhr im Erdgeschoß in einem großen Raum, wo sich nur Stühle für die Patienten befanden. In diesem Raum mit gutem Klima waren tatsächlich keine anderen Möbel vorhanden. Jede von uns acht Personen nahm sich einen Stuhl und wir setzten uns in einen kleinen Kreis. Am ersten Tag hatte sich jede Person mit dem Vornamen vorgestellt, ihren Beruf und die Gegend von Deutschland, aus der sie kam, genannt. Die Sitzung hatte eine volle Stunde gedauert und alle hatten über ihre eigenen, persönlichen Probleme gesprochen. Es sind auch keine Gespräche zwischen den Teilnehmern entstanden, weil keiner sich für die Probleme des anderen interessierte. Das verblüffte mich. Lange habe ich nicht verstanden, wozu das Ganze gut sein sollte. In meiner Gruppe gab es einen älteren Herrn, der sich als Atomphysiker ausgab. Er erzählte uns über die Probleme, die er mit seiner kranken Frau hatte und beklagte sich, dass er mit der gesamten Situation nicht klar kam. Er machte sich Sorgen um sich selbst und um seine Frau. Er wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Dann gab es eine junge Frau mit drei Kindern im Schulalter, die zum dritten Mal geheiratet hatte. Der dritte Mann, diesmal ein älterer Herr, konnte die lebhaften Kinder nicht akzeptieren und sie ihn auch nicht. Sie liefen ständig von zu Hause weg und sie wusste nicht, wie sie die Situation in den Griff bekommen sollte. Sie beklagte sich weiter, dass die Kinder dem Mann egal waren und so stand sie mit dem Problem alleine da. Die Geschichten der anderen waren auch voller Alltagsproblemen. Sie alle fanden sich im Leben nicht alleine zurecht. Ich fragte mich, ob diese Probleme die Menschen ins Sanatorium gebracht hatten. Diese Leute waren doch nicht krank! Sie brauchten einen Lebensberater, der ihnen aus der Patsche half, oder einen Partner, der sie an der Hand durchs Leben führte! Dass alle diese Menschen überfordert und gesundheitlich angeschlagen waren, war ja sichtbar. „Aha“, dachte ich weiter. Dieser Sanatoriumsaufenthalt sollte den Menschen ermöglichen, durch Ruhe und gute Ernährung wieder auf die Beine zu kommen. „Na ja, so ein Fall bin ich ja jetzt auch.“ Ich verstand, warum ich hierhergeschickt worden war. Nur drei Personen haben während der zahlreichen Sitzungen kein einziges Wort über sich oder ihre Probleme verloren. Das waren Beate, ein junger Mann und ich. Den jungen Mann habe ich ständig beobachtet, weil er so seltsam und verstört wirkte. Er hat sich auch nicht vorgestellt. Ich fragte mich, was für ein psychisches Problem er haben könnte, er lag ja fast im Stuhl, seine Beine gekreuzt aufeinander, den Oberkörper 45 Grad nach links oder nach rechts gebeugt, während der Kopf in die gegenseitige Richtung zeigte. Dabei haben seine Augen auch in die andere Richtung geschaut und die Decke betrachtet. Die Menschen im Raum beachtete er nicht. Er war in eigene Gedanken versunken, nicht da! Nach mehreren Sitzungen wagte ich meine Nachbarin zu fragen, was es mit dem jungen Mann auf sich hatte. Sie beugte sich zu mir und sagte ganz leise: „Das ist unser Therapeut.“ „Therapeut? Warum redet er dann nicht mit den verlorenen Menschen?“ Ich kam aus dem Staunen nicht heraus. Eines Tages versetzte ein Ereignis im zweitem Stock das Sanatorium in Aufregung. Eine junge Frau wollte sich das Leben nehmen. Eine Putzfrau fand sie um 06:00 Uhr in der Früh im Vorzimmer des Appartements bewusstlos auf dem Boden vor. Sie alarmierte sofort die Schwester, es wurde ein Notarzt gerufen und die junge Frau wurde ins Krankenhaus gebracht. Dieses Ereignis wurde dann auch zum Thema unserer Gruppe, als wir uns um 15:00 Uhr versammelten. Alle waren wie elektrisiert! Wir hatten kaum Platz genommen, da fingen alle gleichzeitig an, jeder über den anderen und etwas anderes über die arme Frau zu berichten. So erfuhr ich, dass die junge Frau verheiratet war und zwei Kinder hatte. Der Ehemann besuchte sie jeden Sonntag mit den beiden Kindern. Da gab es aber noch einen heimlichen Verehrer, der sie jeden Abend besuchte! Jetzt wollte die verzweifelte Frau scheinbar diesem Dilemma entkommen und hatte keinen besseren Ausweg gefunden, als sich umzubringen! Die junge Frau hatte sich mithilfe von Schlaftabletten das Leben nehmen wollen. Die Zeit unserer Sitzung ging an diesem Tag schnell vorbei. Als sie schon fast zu Ende war, da machte Beate das erste Mal ihren Mund auf und sprach ganz leise und langsam folgende Worte vor sich hin: „Vor zehn Jahren wollte ich mir auch das Leben nehmen.“ Ich war wie vom Blitz getroffen! „Was? Du? So eine intelligente, schöne Frau mit zwei kleinen Buben noch dazu?“ Diese Worte sind mir aufgrund der Empörung nur so aus dem Mund herausgesprudelt. Die Stunde war gerade vorbei. Jeder stand auf und brachte seinen Stuhl an die Wand. Niemand sonst hatte sich für ihre Äußerung interessiert. Beate und ich verließen den Raum als Letzte. Ich legte meinen Arm über ihre Schulter und im Korridor blieben wir automatisch stehen. Ich war noch tief bewegt, als mich Beate anschaute und mir folgende Frage stellte: „Sag mal, was willst du in Deutschland machen?“ Ich musste mich erstmal sammeln, bevor ich ihr eine Antwort geben konnte und sagte schnell: „Ich muss nach München, dort wohnt meine Schwester. Ich muss unbedingt eine Schule besuchen, weil ich arbeiten will, aber wie ich es anstellen soll, weiß ich leider noch nicht.“ Beate sagte kurz zu mir: „Ich reise morgen ab. Warte nicht, fahr gleich zu deiner Schwester nach München und warte auf einen Brief von mir.“ Ich eilte sofort in mein Zimmer und kam mit der Adresse von Toni zurück. Es war seltsam, aber ich wusste sofort, dass ich mich auf Beate verlassen konnte! Sie nahm die Adresse wortlos entgegen, reichte mir die Hand und entfernte sich wortlos. Das Schicksal nahm seinen Lauf. Noch am selben Nachmittag suchte ich die Ärztin auf, mit der ich schon zweimal gesprochen hatte, und bat sie um ein Gespräch. Sie kam dann auch gleich in mein Zimmer. Ich war von dem Ereignis mit Beate noch ein wenig aufgeregt, aber ich habe der Ärztin kein Wort darüber erzählt. Ich sagte ihr nur, dass ich schon abreisen möchte, weil ich die Sprache lernen und arbeiten gehen muss. Die Ärztin hat mich vollkommen verstanden, fragte aber noch einmal nachdrücklich, ob ich mir wirklich sicher bin, dass ich jetzt schon abreisen will. „Ja“, sagte ich. „Ich bin mir ganz sicher, ich fühle mich schon erholt, ich muss weg, ich muss die Sprache erlernen und arbeiten gehen.“ Sie glaubte mir und versprach, mir am nächsten Tag einen Entlassungsschein auszuhändigen, den ich dann tatsächlich erhielt. Auf dem Dokument stand Schwarz auf Weiß, dass ich arbeitsfähig war. Das war natürlich mein Freibrief für das, was ich vorhatte: Lernen und arbeiten! Am folgenden Tag konnte ich abreisen. Die lange Reise von Norddeutschland nach Süden hat den ganzen Tag gedauert, dann stand ich vor Tonis Tür. Das Staunen war riesig. Die erste Frage war natürlich: „Wie hast du den langen Weg alleine geschafft?“ „Ich habe am Bahnhof niemanden um den weiteren Weg zu dir gefragt“, sagte ich. „Gott führte mich!“ Dann fragte sie, noch ganz außer sich: „Was ist passiert? Warum bist du da?“ Ich wusste erst gar nicht, wie ich alles so schnell erzählen sollte, ich musste mich auch erst ein wenig ausruhen. „Setzt euch“, sagte ich später. „Ich möchte euch bitten, mich ein paar Tage zu ertragen. Ich muss auf einen Brief warten, der an eure Adresse gerichtet sein wird.“ Nachdem ich es ausgesprochen hatte, konnte ich jetzt alles der Reihe nach erzählen. Toni und Kurt hörten mir zu, immer noch mit einem Staunen in den Augen. Die Geschichte klang ja auch unwahrscheinlich. Mein Schwager sagte kein einziges Wort, ich spürte, dass er mir nicht glaubte. Die folgenden Tage lag Spannung in der Luft. Ich blieb aber ganz ruhig, obwohl ich überhaupt nicht wusste, was mir Beate schreiben wollte. Ich war aber ganz sicher, dass ein Brief ankommen würde. Zu Heiligabend waren wir alle bei meinem Neffen eingeladen. Den hatte ich seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Das letzte Mal im Jahre 1968, bei der Ausreise mit den Eltern aus Schlesien, damals war er erst fünf oder sechs Jahre alt gewesen. Jetzt sah ich einen erwachsenen Mann mit einer netten Frau und einem kleinen Baby. Es war einfach schön! Kurz nach Weihnachten, es waren nicht mal zehn Tage vergangen, kam der erwartete Brief von Beate an. Diesen habe ich gleich Toni zu lesen gegeben. Sie las ihn laut vor. Beate schrieb, dass sie für mich zwei Termine in München ausgemacht hatte und dass ich mich unter angegebener Adresse melden sollte, ich würde nämlich erwartet. Toni konnte ihren Augen nicht trauen, so groß war die Überraschung. „Ich begleite dich natürlich!“, sagte sie gleich. Die erste Adresse, bei der ich mich vorstellen sollte, war eine Fachschule für Pflegekräfte. Wir sind fast durch die ganze Stadt gefahren, bis wir an dieser ankamen. Die Direktorin hat uns sehr freundlich, fast herzlich empfangen. Dass es mit meinem Deutsch noch haperte, machte ihr nichts aus und sie sagte gleich, dass mehrere Schüler mit dem Wörterbuch unter dem Arm herumliefen. Es handelte sich um eine berufsbegleitende Ausbildung, die drei Jahre dauern sollte. Da die Ausbildung am 01. April 1989 beginnen sollte und das Jahr 1988 sich erst dem Ende nahte, sagte ich, dass ich für die Zeit bis dahin eine Arbeit bräuchte. Die Schuldirektorin griff in die Schublade, nahm einen Stapel Papiere heraus und nannte mir eine Adresse in Ebenhausen bei München, wo ich ab dem 01. Januar schon anfangen konnte! „Ein Appartement würde am 31. Dezember auch schon auf Sie warten.“ Als wir die Schule verlassen hatten, sagte Toni ganz verblüfft zu mir: „Ja, du hast wieder gewusst, wo du den Mund aufmachen sollst!“ Die zweite Vorstellung an diesem Tag haben wir auch noch erledigen können. Wir fuhren noch einmal durch die ganze Stadt in eine andere Richtung und kamen bei meinem künftigen Arbeitgeber an. Das Haus kam mir riesig vor! Der Direktor, der sein Büro im Erdgeschoß hatte, empfing uns sehr freundlich, und als er hörte, dass wir aus Schlesien stammen, sprach er mit uns wie mit alten Bekannten. Er selbst kam nämlich aus der Hauptstadt Schlesiens, Katowice. Nachdem mir der Direktor den Arbeitsvertrag ab dem 01. April 1989 zugesichert hatte, konnten wir nach Hause zurückfahren. Wir sind müde, aber zufrieden darüber, dass alles so gut geklappt hatte, angekommen. Ehrlich gesagt hätte ich die beiden Termine ohne Toni nicht erledigen können, ich sprach doch noch kaum Deutsch! Am 31. Dezember 1988 haben mich Toni und Kurt nach Ebenhausen gebracht. Das Altersheim befand sich in einem sehr großen, alten und schönen zweistöckigen Gebäude in einer ländlichen Umgebung. Neben dem Heim befand sich ein Haus, in dem sich die Appartements für die pflegenden Schwestern befanden. Das mir zugeteilte Appartement haben wir im Erdgeschoß vorgefunden, es war groß, hatte ein Balkonfenster und ein gutes Klima. Die Wiese draußen war noch nicht mit Schnee bedeckt, obwohl es schon Dezember war. In Schlesien war um diese Zeit der Winter in vollem Gange. Toni half mir, meine Sachen hineinzubringen, während mein Schwager das schöne, alte Gebäude von allen Seiten betrachtete. Die idyllische Landschaft gefiel mir. Meine Arbeit in dem Heim habe ich an meinem Geburtstag, dem 01. Januar, begonnen. Der erste Arbeitstag war sehr angenehm, weil ich nur zuschauen durfte. In den geräumigen, weißgestrichenen Zimmern standen nur zwei Pflegebetten. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich so viele stumme, unbewegliche und versteifte Menschen gesehen. Die Schwester, die ich begleiten durfte, hat alle Menschen im Bett von Kopf bis Fuß gewaschen und gewickelt. Alle wurden auch im Bett gefüttert, sie wurden nicht rausgesetzt. In diesem Heim verspürte ich keine Hektik. In den nächsten Tagen konnte ich schon mithelfen und nach einer Woche allein arbeiten. Die stummen Menschen haben mich sehr beeindruckt, sie haben mir aber gleichzeitig leidgetan. Vom ersten Tag an konnte ich feststellen, dass die Arbeit für die Menschen die richtige für mich war, trotzdem wollte ich noch weiterlernen. Ich habe auch hier jeden Tag Wörter aus dem Wörterbuch gelernt. Auf die Schule in München habe ich mich auch schon gefreut und seelisch vorbereitet. Die drei Monate sind schnell vorübergegangen. Nach dem Arbeitsplan habe ich die letzten Tage im März frei gehabt, sodass ich mich schon für den Umzug nach München vorbereiten konnte. Am 30. März 1989 teilte man mir telefonisch mit, dass ich mein Zimmer in der Schwesternschule in München am nächsten Tag würde beziehen können. Die gute Nachricht habe ich gleich an Toni weitergegeben und am nächsten Tag brachte sie mich mit Kurt nach München zurück. Das Zimmerchen war sehr klein und lag im Erdgeschoß der Schule. Die sanitären Anlagen befanden sich am Ende des engen Flurs. Das Zimmerchen war aber mit den nötigen Möbeln ausgestattet und das war das Wichtigste. Der Umzug von Ebenhausen nach München ist gut verlaufen. Ich bin wieder einen Schritt weitergekommen und das war wieder ein Grund zur Freude für Toni. Mein Arbeitsverhältnis mit dem Altersheim begann, wie versprochen, am 01. April 1989, mit einem Schulblock. *** Wir waren in der Klasse fünfundzwanzig Personen verschiedenen Alters. Die älteste Schülerin, eine ehemalige Übersetzerin, war um ein Jahr älter als ich. Ein paar Personen waren um die vierzig, der Rest zwischen zwanzig und dreißig. John kam aus Polen und sprach ziemlich gut Deutsch. Der Unterricht begann um 08:00 Uhr und endete um 16:00 Uhr. Eine Unterrichtseinheit dauerte neunzig Minuten und die Pausen dazwischen waren sehr kurz. In den ersten Tagen war der Unterricht für mich eine reine Katastrophe! Die tausenden unverständlichen Worte, die so schnell gesprochen wurden, jagten mir furchtbare Angst ein. Es wurde so viel geredet, dass ich die Schule jeden Tag mit Kopfschmerzen verließ. Der erste Schulblock war für mich die schlimmste Anfangsphase meiner dreijährigen Ausbildung. Ich war danach dermaßen seelisch angeschlagen, dass ich die Schule aufgeben wollte. Aber bevor ich eine Dummheit machte, wollte ich mit der Personalchefin des Hauses sprechen. Diese zeichnete sich durch eine sehr feine Persönlichkeit aus. Mit ihr war ich bereit über meine Probleme zu sprechen und ich konnte ihr tatsächlich nicht nur meine täglichen Schwierigkeiten schildern, sondern mir auch meine Ängste und meine Verzweiflung von der Seele reden. Sie hat mich vollkommen verstanden. Das war schon eine große Erleichterung für mich, hatte ich doch sonst nur Toni, die mir jeden Abend Mut zusprach. Während des Gespräches sagte sie zu mir, dass sie überzeugt ist, dass ich die Schule schaffen werde und dass sie mich besser findet als eine ausgebildete alte Krankenschwester. Sie nannte sogar deren Namen. Die kannte ich schon und ich wusste um ihren Umgang mit den verwirrten, hilflosen Bewohnern. Trotzdem haben mich ihre Worte verblüfft. Insgesamt tat mir das Gespräch sehr gut, sie nahm mir die Ängste, ich bekam wieder Mut und lernte weiter. „Ich muss Geduld haben“, sagte ich mir. Ich hatte doch nichts zu verlieren und wenn ich der Schule ferngeblieben wäre, dann hätte ich meine einzige Chance verloren. Das wurde mir jetzt klar. Um in der Schule während des Unterrichtes mehr zu verstehen, lernte ich jetzt während des Arbeitsblocks Worte aus den Fachbüchern, und zwar jeden Tag nach dem Frühdienst – bis Mitternacht. Die wichtigste Unterstützung in dieser sehr schweren Zeit war für mich meine Schwester Toni. Sie sprach mir jeden Abend Mut zu. Jedes Gespräch mit ihr gab mir Kraft und war eine große Hilfe für mein Durchhaltevermögen. Heute weiß ich, dass ich ohne ihre seelische Unterstützung die Ausbildung nicht geschafft hätte. Die sprachliche Barriere war damals das größte Hindernis, das ich nehmen musste. In der Anfangsphase habe ich zwei Lehrerinnen in der Schule sehr gefürchtet. Eine unterrichtete Pflege, die andere das Fach Psychiatrie. Beide haben sehr schnell gesprochen! Die Lehrerin für die Pflege sprach in einem sehr hohen Ton, ohne Punkt und Komma, zumindest war das mein erster Eindruck. Nach ihrem Unterricht hatte ich immer Kopfweh. Das Fach Psychiatrie habe ich für das wichtigste gehalten, und da die Ärztin so schnell sprach, entstand für mich eine sehr schwere, unerträgliche Situation, die mich seelisch noch zusätzlich zu den allgemeinen Schwierigkeiten bedrückte. Nach jeder Unterrichtseinheit, während der ich kaum etwas verstehen konnte, wuchs meine Angst immer mehr an. Schließlich habe ich die Psychiaterin gebeten, langsamer zu sprechen, damit ich die einzelnen Wörter besser hören und mir merken konnte. Sie versprach es zwar, aber sie hat es immer wieder vergessen. Es blieb mir nichts anderes übrig, als geduldig weiter alleine aus den Fachbüchern und meinen beiden Wörterbüchern Deutsch zu lernen. Meine Anstrengung hat sich gelohnt und obwohl ich nach Monaten immer noch nicht alle Worte verstehen konnte, begriff ich eines Tages, worüber die Psychiaterin überhaupt sprach. Da mir die Themen nicht fremd waren, verspürte ich eine große Erleichterung und war mir gewiss, dass ich die Ausbildung doch schaffen würde. Die Psychiaterin hat mir das Lernen nur dadurch leichter gemacht, dass sie während der ganzen Ausbildung keinen einzigen schriftlichen Test angeordnet hat. Sie hat mir Angst und unnötigen Druck erspart, den ich mir jeden Tag schon selbst gemacht habe. Im Gegensatz zu der Psychiaterin ist eine Frau Doktor mit uns Schülern anders umgegangen, obwohl sie wusste, dass ich und eine andere Frau in meinem Alter noch große Sprachschwierigkeiten hatten. Sie hat von Anfang an am Ende jedes Schulblocks eine Prüfung angekündigt. Für uns beide war das immer eine Katastrophe. Nachdem sie die erste Prüfung angekündigt hatte, fühlte ich mich wie an die Wand genagelt! Das war ein schreckliches Gefühl, reine Panik! Die Tatsache, dass sie auf unsere Schwierigkeiten keine Rücksicht nahm, hat mich sehr geärgert. Aber da musste ich durch. Ich wusste, dass ich die Prüfung nicht bestehen würde, ich wollte aber nicht untätig herumsitzen und ein leeres Blatt abgeben. Ich musste mir etwas einfallen lassen! Ich habe mir einen langen Textabschnitt aus einem Fachbuch ausgesucht und auswendig gelernt. Diesen Text wollte ich auf das Prüfungsblatt schreiben, damit sie sah, dass ich doch lernte und nur mit der Sprache noch nicht so weit war. Am nächsten Tag während der Prüfung habe ich fleißig den gepaukten Text auf das Prüfungsblatt geschrieben. Dieser hat fast drei Viertel der DIN-A4 Seite ausgefüllt, und so habe ich schließlich das Blatt abgegeben. Beim nächsten Unterricht hat die Frau Doktor kein Wort über meine Arbeit verloren und ich bekam natürlich eine Sechs. Das war aber die erste und letzte Sechs, die ich während der dreijährigen Ausbildung bekommen habe. Nach einer weiteren Unterrichtseinheit habe ich die Lehrerin in der Pause angesprochen und um eine Information gebeten, nämlich in welchem Buch ich den Unterricht nachlesen konnte, damit ich die neuen, fremden Wörter zu Hause übersetzen kann. Sie sah mich auf seltsame Weise an, gab mir keine Antwort, ließ mich einfach stehen und verließ den Klassenraum. Nach diesem erniedrigenden Erlebnis habe ich mir ein Abspielgerät gekauft und während ihres Unterrichtes auf den Tisch vor ihr Pult gestellt. Sie war verblüfft und nicht gerade begeistert, als sie das Gerät sah, sagte aber kein einziges Wort. Sie musste schlucken und doch akzeptieren, dass ich ihren gesamten Unterricht aufnahm. Somit konnte ich endlich die Worte übersetzen und lernen, die ich noch nicht kannte. Mein Fleiß zeigte mit der Zeit Früchte, ich verstand immer mehr. So erfuhr ich, dass so mancher „Unterricht“ aus Erzählungen bestand, in denen sie über ihre Arbeit und Erfahrungen im Beruf berichtete. Im Fach Pflege verstand ich auch immer mehr, aber das Herumreden um ein Thema hat mir doch immer wieder zu schaffen gemacht. Eines Tages habe ich die Lehrerin darauf angesprochen und gefragt, ob es nötig ist, so viel über Selbstverständliches zu sprechen. Daraufhin sagte sie wörtlich zu mir: „Ja Sie, Schwester, Sie wissen Bescheid, worum es geht, aber die Jugend weiß es nicht, deswegen muss ich jedes Detail, jeden Schritt so ausführlich und genau erklären.“ Mit der Zeit habe ich mich an alles gewöhnt, auch an ihren hohen, gleichmäßigen Ton während des gesamtes Unterrichtes. Nachdem die dreijährige Ausbildungszeit vorbei war, übte die Psychiaterin einen ausführlichen Prüfungstext mit uns. Sie hat für uns mehrere A4-Blätter mit Fragen vorbereitet, denen sie jeweils drei Antworten zugeordnet hatte. Unsere Aufgabe war es, die richtige Antwort anzukreuzen. Ich war nicht nur überrascht, sondern erleichtert und dankbar, dass die Psychiaterin die Prüfung mit so viel Verständnis für unsere Sprachschwierigkeiten in dieser Form vorbereitet hatte. Ich habe diese Tatsache als eine verständnisvolle Geste uns beiden gegenüber empfunden. Ohne Angst fing ich an, jede Frage zu analysieren, um die richtige Antwort anzukreuzen. Ich habe die Arbeit auch rechtzeitig abgegeben. Das Ergebnis der Prüfung war für die ganze Klasse überraschend. Als die Psychiaterin nach einer Woche mit den Prüfungen in der Hand den Klassenraum betrat, blieb sie vor dem Pult stehen und schaute uns alle erstmal schweigend an. Dann betonte sie, vielleicht ein wenig enttäuscht, dass nur eine Person eine Eins hatte. Sie wiederholte dies: „Nur eine einzige Person hat alle Fragen richtig beantwortet; sogar die schriftliche Aufgabe, in der ich einen jungen Mann mit Krankheitssymptomen beschrieben habe, war mit der richtigen Diagnose beantwortet worden.“ Alle warteten, wer die einzige Eins bekommen hatte. Es war ganz still, als die Psychiaterin verkündete, dass ich es war. Die Klasse reagierte mit Staunen und Brummen. Die Ärztin ergänzte noch, dass die Diagnose bei der Textaufgabe auf Schizophrenie gelautet hatte. Die gelungene Prüfung empfand ich als Genugtuung, trotz oder gerade wegen der Sprachschwierigkeiten, die ich während der Ausbildung gehabt hatte. Nachdem wir das Fach Psychiatrie mit dem Examen abgeschlossen hatten, machte die Frau Doktor uns einen Vorschlag. Sie wollte uns ein Autogenes Training zukommen lassen, sie sagte aber gleich, dass es keine Pflicht sei, und wer nicht mitmachen wollte, konnte nach Hause gehen. Fast die Hälfte hat dann den Klassenraum verlassen. Die wenigen Personen, die sich für das Experiment interessierten und geblieben sind, haben sich auf Stühlen in einem Kreis hingesetzt. Es fing spannend an. Unsere Lehrerin hat weiße Papierblätter an uns verteilt und sagte: „Bitte, zeichnen Sie etwas, egal was!“ Über ein bestimmtes Thema ist kein einziges Wort gefallen und für die Aufgabe haben wir dreißig Minuten Zeit bekommen. Alle haben schweigend kurz nachgedacht und fingen an zu zeichnen. Es war ganz still. Ich saß neben der Ärztin und habe meine Schulkollegen nur beobachtet. Ich war sehr auf die Themen neugierig. Kurz vor Ablauf der dreißig Minuten bin ich aufgestanden, um den Kreis der Sitzenden herumgegangen und habe über die Schulter einen kurzen Blick auf die Zeichnungen geworfen. Als hätten sich alle abgesprochen, hatten sie dasselbe Thema gewählt! Urlaub am Meer, Urlaub in den Bergen, Urlaub an einem See. Ich war sehr enttäuscht und setzte mich zurück auf meinen Platz. Die 30 Minuten waren eben vorbei. Ich nahm schnell mein Blatt Papier und zeichnete mit ein paar Strichen in wenigen Sekunden ein Damenprofil und legte das Blatt mit der Zeichnung zu Boden, so wie sich die Ärztin das gewünscht hatte. Gleich danach begann sie mit dem eigentlichen Autogenen Training. Es ging spannend weiter. Wir mussten die Augen schließen und nur zuhören. Sie fing an, leise und ganz langsam zu sprechen. Wir sollten ihre Worte innerlich wiederholen. Sie sprach jeden Teil unsere Körpers an; sie begann mit dem Kopf und endete mit den Füßen. Mit ihrer beruhigenden Stimme und den langsam ausgesprochenen Worten hatte sie jedes Körperteil, das sie aufgezählt hatte, beeinflusst. Das ganze Vorgehen geschah in absoluter Stille und dauerte lange an. Ich spürte die Entspannung, die sich in meinem Körper ausbreitete. Nachdem ihre Worte erloschen waren, durften wir die Augen wieder aufmachen. Es war weiter ganz still im Raum und keiner sagte ein Wort. Wir warteten jetzt, was als Nächstes kommen würde. Die Frau Doktor stand nach einer Weile auf und verteilte wieder leere Blätter! Wir waren überrascht, als sie uns dazu aufforderte, nochmal dasselbe Bild zu zeichnen. Wir hatten erneut dreißig Minuten für die Aufgabe Zeit. Meine Klassenkollegen arbeiteten in aller Stille. Die Ärztin saß auf ihrem Stuhl und beobachtete uns weiter. Ich saß neben ihr und tat dasselbe, ich schaute auch nur den anderen zu. Die dreißig Minuten waren fast wieder abgelaufen, als ich den Bleistift in die Hand nahm und erneut mit wenigen Strichen und in wenigen Sekunden dasselbe Damenprofil zeichnete und das Blatt auf den Boden legte. Als alle Teilnehmer mit der Zeichnung fertig waren, sagte die Ärztin zu uns: „Bitte nehmen Sie jetzt beide Zeichnungen und vergleichen Sie sie.“ Sie stand jetzt auf, ging im Kreis herum und schaute jeder Person über die Schulter, um die Zeichnungen zu betrachten. Sie sagte dabei kein Wort, ging auf ihren Platz zurück, drehte sich jetzt zu mir um und fragte ganz leise: „Und Sie, Schwester?“ Jetzt beugte ich mich zum Boden, nahm meine beiden Skizzen in die Hand und wir schauten uns gemeinsam die Bilder an. Das, was ich da sah, versetzte mich in unglaubliches Staunen! Der Unterschied zwischen den beiden Profilen war deutlich zu erkennen! Die erste Dame wirkte ganz ernst, während die zweite Freude und gute Laune ausstrahlte! Das war eine Überraschung! Die Psychiaterin sagte plötzlich ganz leise zu mir: „Sie, Schwester, wären ein gutes Medium.“ Dieses Wort hörte ich damals zum ersten Mal, und da ich seine Bedeutung noch nicht kannte, blieb ich still und schweigend sitzen. Das Experiment war abgeschlossen. Niemand hatte das Bedürfnis, darüber zu reden. Die Ärztin sagte auch nichts mehr, nicht mal eine Bemerkung über die Zeichnungen ließ sie fallen. Ich ahnte, dass die Ärztin genauso über das Thema „Urlaub“ enttäuscht war wie ich. Anschließend durften wir nach Hause gehen und alle haben den Klassenraum schweigend verlassen. Ich war tief bewegt. Das Experiment war sehr überraschend und hochinteressant gewesen. Das Resultat brachte mich zum Nachdenken und gleichzeitig machte es mir bewusst, dass unsere im Geiste ausgesprochenen Worte eine Kraft besitzen, weil sie uns doch beeinflusst hatten! Sie enthalten, dachte ich weiter, ein Energiepotenzial, das sich wiederum in unserem Gehirn befinden muss. Das war eine spannende Erkenntnis, die damals ein Ansporn für mein Interesse war, mich auf diesem neuen Gebiet mehr zu informieren, um weitere Erkenntnisse zu gewinnen. Das war eine unsichtbare Welt, die sich mir da eröffnete. Ich glaube, dass uns die Psychiaterin mit diesem Autogenen Training diese Erkenntnis, dass wir im Kopf ein Energiepotenzial haben und es auch nutzen können, bewusst machen wollte. Das Wort „Medium“ habe ich mir gemerkt, obwohl ich die Bedeutung des Wortes nicht verstanden habe und auch nichts damit anfangen konnte. Nachdem wir den Lernstoff der dreijährigen Ausbildung abgeschlossen hatten, bekamen wir sechs Monate Zeit für unsere Diplomarbeiten. Das war erneut eine große Herausforderung für mich, die wie ein Damoklesschwert über mir hing. Ich musste aber wieder alleine mit dem Problem fertig werden. Ich wusste anfangs nicht, wie ich die Aufgabe bewältigen sollte, ich spürte nur, dass ich mir wieder etwas einfallen lassen musste, also schrieb ich die Arbeit erst auf Polnisch. Meine Schwester, die Deutsch beherrschte, hat mir dann die Arbeit ins Deutsche übersetzt und die Frau von Tonis Sohn habe ich dann um weitere Hilfe gebeten. Obwohl sie hochschwanger war, hat sie mir gerne geholfen und die Arbeit auf dem Computer abgetippt. Dann war meine Diplomarbeit fertig und ich konnte sie abgeben. Nach dem Colloquium Ende März 1992 war ich endlich frei von Zwängen, Zeitdruck und Terminen, ein herrliches Gefühl der Freiheit. Nachdem wir alle das Staatsexamen hinter uns hatten, haben wir uns ein letztes Mal in unserem Klassenraum versammelt. Unsere Lehrerin, die bei uns Pflege unterrichtet hatte, wollte sich von uns mit einem kleinem Plädoyer verabschieden. Neben den freundlichen und tröstenden Worten, die unseren Beruf betrafen, sagte sie plötzlich, dass wir dieselbe Ausbildung genossen hätten wie die frischgebackenen Krankenschwestern aus unserer Schule! Anschließend eröffnete sie uns, dass wir sogar mehr als diese Krankenschwestern gelernt hatten, weil wir zusätzlich das Fach Geriatrie belegt hatten. Dann folgte eine Erklärung, worin der einzige Unterschied in unseren Berufen lag und ich wurde in diesem Moment hellhörig! „Eine Altenpflegerin“ – ach, wie schrecklich das klingt – „darf die Verabreichung einer Injektion verweigern, wenn sie davor Angst hat, eine Krankenschwester dagegen nicht!“ Das war alles! Dass der Titel „Krankenschwester“ Vorteile mit sich bringt, betonte unsere Lektorin natürlich nicht! Eine Krankenschwester darf nämlich überall arbeiten, egal ob im Krankenhaus, im Altersheim oder in einer Klinik, während eine Altenpflegerin an das Altenheim gebunden ist. Sie ist zur Knochenarbeit verurteilt. Was mich persönlich betrifft, habe ich die ärztlich verordneten Injektionen immer problemlos, ohne Angst zu haben, verabreicht. Nach der Ausbildung habe ich nicht aufgehört zu lernen. Jetzt, ohne Zwang und Zeitdruck, machte das Lernen so richtig Spaß. Jetzt konnte ich mich in den wenigen freien Stunden damit beschäftigen, was mich weiterhin interessierte. Der Ansporn dafür war die Psychiaterin aus der Berufsschule, Frau Doktor L. Wie mein weiteres Leben aussehen würde, habe ich nach der Ausbildung schnell erfahren. Jetzt fielen die Schulblöcke weg, die einzige und erforderliche Erholungsphase für meinen Körper nach jedem Arbeitsblock, die uns Ruhe und Entspannung garantierte. Jetzt blieb mir nur noch die schwere Zeit der ununterbrochenen Anstrengung bei der Knochenarbeit, die nicht nur mich körperlich und seelisch kaputt machte. Als ich 1989 in das noble Altersheim kam, zählte das Haus insgesamt circa vierhundertfünfzig Bewohner. Den Wohnsitz hat damals der Sohn des Gründers, eines Pastors, geleitet. Sein Büro mit den zahlreichen Mitarbeitern befand sich im 10. Stock und die Verwaltung des Hauses war teilweise im Erdgeschoß. Diese war für die Pflegekräfte, das Personal des Hauses und die reibungslose Organisation im Haus verantwortlich. In den vielen Etagen des Gebäudes und teilweise auch im Erdgeschoß haben die Bewohner des Wohnsitzes ihren letzten Lebensabschnitt verbracht. Es war ein Haus für die gut situierten Menschen. Hier wohnten Ärzte, Juristen, Maler, Schauspieler, ein Botschafter und all jene, die in der Gesellschaft eine hohe Position bekleideten. Es gab auch einen SS-Mann, den jede Schwester fürchtete. Die meisten Bewohner des Hauses, die uns Schwestern in den Fluren begegneten, strahlten Bescheidenheit, Respekt und gutes Benehmen aus. Sie hatten nichts dagegen, dass sich im Wohnsitz weiß bekleidete Schwestern bewegten, deren Anblick an ein Krankenhaus erinnerte. Es gab aber auch Bewohner, die mit unserer Anwesenheit nicht einverstanden waren. Manche Männer zeigten sich uns gegenüber auch respektlos, sie gingen stolz an uns vorbei, als ob sie zeigen wollten, dass sie uns nie brauchen würden – bis sie dann doch von uns abhängig wurden. Dann waren sie froh, dass wir für sie da waren und sie ihr Zuhause nicht verlassen mussten. Mit der Abhängigkeit ging es manchmal schneller, als man dachte. Es reichte ein Sturz um 03:00 Uhr morgens, um mit einem Oberschenkelhalsbruch ins Krankenhaus zu kommen. Diese betagten Personen kamen dann als Pflegefall zu uns zurück. Ich habe mit Absicht die frühe Morgenstunde erwähnt, weil es die Zeit ist, in der den Betagten die meisten Unfälle beim Aufstehen passieren. Der Blutdruck erreicht in den Morgenstunden den niedrigsten Wert und wenn man schnell aufsteht, rutscht er noch tiefer in den Keller. Dabei kann Schwindel entstehen, der Mensch verliert das Gleichgewicht und stürzt. Wenn man aber erst für ein paar Sekunden auf der Bettkante sitzen bleibt und ein paarmal tief ein- und ausatmet, reguliert sich der Blutdruck und man kann gefahrlos ins Bad gehen. Ich habe erlebt, wie schrecklich es für einen Menschen war, wenn er plötzlich nach einem Sturz als Pflegefall aus dem Krankenhaus zurückkam und von den Schwestern abhängig wurde, die nur dreimal am Tag und zweimal in der Nacht hereinkamen, um das Nötigste zu tun. Das war eine sehr harte Erfahrung für die Menschen, die vorher noch voll im Leben gestanden hatten. An meinem ersten Arbeitstag habe ich von der Verwaltung des Hauses eine Kassette geschenkt bekommen, die ich nach dem Dienst auch gleich neugierig anhörte. Nach dem Abhören dachte ich, dass wahrscheinlich jeder neue Mitarbeiter des Hauses dasselbe Geschenk bekam, damit ihm bewusst wurde, in welch noblem Haus er arbeiten durfte. Die Kassette erzählte nämlich die Geschichte der Entstehung dieses Hauses, die mir sehr gefiel. Nach dem Krieg gab es in München einen empathischen und engagierten Pastor, der nach dem Religionsunterricht gerne seine Schüler zu Hause besuchte. Bei diesen Besuchen ist ihm aufgefallen, dass die Großeltern, die den Krieg überlebt hatten, meistens sich selbst überlassen waren, während die Kinder in der Schule weilten und die Eltern arbeiteten. Oft sah er Menschen, die pflegebedürftig waren und alleine nicht zurechtkamen. Der Pastor hatte eine Idee und wollte sie in die Realität umsetzen. Er stellte sich ein Haus für Betagte und Pflegebedürftige vor, in dem sich jeder Bewohner rund um die Uhr an eine Schwester wenden konnte. Er rief seine Freunde zusammen und diskutierte mit ihnen seine Idee durch. Alle waren davon begeistert und jeder von ihnen war dazu bereit, etwas von seinem Vermögen zu geben, um so ein Haus zu bauen. So wurde die Idee Wirklichkeit. In diesem Altersheim hat jeder Bewohner eine Wohnung oder ein Appartement bekommen, das nach seinem Wunsch vorbereitet wurde. Es wurde umgebaut, renoviert, ausgemalt. Die künftigen Bewohner sind dann mit eigenen Möbeln und sogar Sammlungen eingezogen. Alle Bewohner durften im Falle einer Erkrankung oder Pflegebedürftigkeit in den eigenen vier Wänden bleiben, genauso, wie sich das der Gründer vorgestellt hatte, und sich jederzeit an eine Schwester wenden. Er brauchte seinen Wunsch nur per Telefon beim Empfang im Erdgeschoß zu melden und die Nachricht wurde sofort an eine Schwester weitergeleitet, weil jede Schwester, wie auch jede Etagendame, mit einem Piepser in der Tasche arbeiten musste. Die Organisation im Haus war perfekt und Disziplin wurde groß geschrieben. Wenn ein gesunder Bewohner erkrankte oder pflegebedürftig wurde, hat ihn die Pflege übernommen und eine Dokumentationsmappe für ihn angelegt. Diese hatte bunte Blätter, damit man das entsprechende Blatt für Eintragungen schnell finden konnte. Auf dem weißen Berichtsblatt wurden Vorkommnisse notiert, die den Pflegefall betrafen. Das gelbe Blatt war für den Arzt gedacht, der die von ihm angeordneten Medikamente und dazu das Datum der Verordnung samt seiner Unterschrift eintragen musste. Das Absetzen eines Medikaments musste ebenso dokumentiert werden. Das blaue Blatt war für die Badetermine und den Stuhlgang. Jeder Pflegefall wurde regelmäßig im Pflegebad gebadet, das sich im Keller befand und mit einem beweglichen Lift ausgestattet war. Der Lift hat die Arbeit der Schwester sehr erleichtert und Sicherheit gegeben. Auf dem Rücken des Dokumentationsordners befanden sich sogenannte Reiter. Diese wurden bei wichtigen Informationen, die man an den folgenden Dienst weitergeben musste, nach oben gezogen, und jede Schwester war dazu verpflichtet, ihren Dienst mit der Kontrolle der hochgezogenen Reiter zu beginnen, um die Information umzusetzen; entweder war eine sofortige Reaktion oder eine sorgfältige Beobachtung notwendig. Nach Erledigung wurde der Reiter wieder nach unten gezogen. Der Wohnbereich im Haus war auf drei „Pflegestationen“ mit je circa hundertfünfzig Bewohnern verteilt. Auf meiner Station hatten wir anfangs fünfzehn Pflegefälle und fünfundzwanzig Personen, die von uns Medikamente bekamen. Für die Letzteren musste man einmal in der Woche und für sieben Tage insgesamt hundertfünfundsiebzig Behälter mit Medikamenten bestücken, und zwar fehlerfrei! Das war immer die Aufgabe der Schwester, die zum Spätdienst kam, und sie musste sie zusätzlich zu ihren Aufgaben schaffen! Man kann sich vorstellen, unter welchem Zeitdruck die arme Schwester an diesem Tag stand. Wenn sie es während des Dienstes nicht geschafft hatte, musste sie es danach zu Ende bringen. Die Behälter wurden dann im Medikamentenschrank im Dienstzimmer unter Verschluss aufbewahrt und in der Früh mit dem Frühstück in die Wohnung des jeweiligen Bewohners gebracht. Außer den Schwestern, die für die Pflegefälle zuständig waren, hat zusätzlich auf jeder Etage eine Etagendame gearbeitet, die die erste Ansprechperson für jeden Bewohner war. Die Mahlzeiten, für die die Etagendame zuständig war, wurden in einem großen Wagen mit dem Lift von der Küche auf jede Etage gebracht. Für die Bestellungen war sie auch zuständig, wenn ein Bewohner lieber in der eigenen Wohnung essen wollte. Die meisten sind aber mit dem kleinen Lift in den Speisesaal gefahren und haben gemeinsam gespeist. Die Etagendamen haben den Bewohnern, die noch nicht in die Pflege übergeben worden waren, aber schon Hilfe brauchten, beim Aufstehen, Anziehen und auch beim Baden im eigenen Appartement geholfen. Auch kleine Einkäufe haben sie für die Bewohner erledigt. Um das Wohl der vierhundertfünfzig Bewohner im Hause hat sich eine Abteilung gekümmert, die verschiedene Veranstaltungen, Ausstellungen und auch Verkaufsmöglichkeiten organisierte. Es gab im Erdgeschoß sogar eine echte Bühne für Theaterbesuche. Im Haus befand sich auch ein Café, in dem sich die Bewohner gerne getroffen haben. *** Wir Schwestern haben unseren Frühdienst um 06:00 Uhr mit der Übergabe des Protokolls der Nachtschwester begonnen, das über alle Vorkommnisse in der Nacht und bei Änderungen über die Pflegefälle berichtete. Das größte Problem in der Nacht waren die verwirrten Bewohner, die am Abend oder in der Nacht ihre Wohnungen verließen und durch das Haus und die Keller irrten. Die Übergabe musste schnell gehen, dann eilten wir zu unseren Pflichten. Bis halb zwölf mussten wir mit dem Waschen und Versorgen der Pflegefälle, mit unserem Arbeitsquantum, fertigwerden. Laut Arbeitsplan waren im Frühdienst für die fünfzehn Pflegefälle drei Schwestern vorgesehen. Meistens aber haben wir zu zweit gearbeitet, weil die dritte krank war. Das war unser Dauerzustand. Wenn die dritte Pflegekraft wieder da war, hat sich die Nächste krank gemeldet, die nicht mehr dazu in der Lage war, weiterzuarbeiten. Also musste jede von uns beiden sieben Personen im Frühdienst waschen, pflegen, versorgen, wickeln und auf die regelmäßige Lagerung im Zweistundentakt achten. Eine Etagendame musste zusätzlich zu ihrer Arbeit einen Pflegefall übernehmen. Die Tatsache, dass die dritte Schwester im Frühdienst fast immer fehlte, setzte uns unter enormen Zeitdruck und Stress. Dazwischen mussten wir zahlreiche andere Tätigkeiten und Handgriffe erledigen, zum Beispiel bei den Pflegefällen den Tropf überwachen, denen, die künstlich ernährt wurden, Tee kochen, den man nach der durchgelaufenen Nahrung hinhängen musste und die verbrauchten Nahrungsbeutel waschen, um sie für den Tee benutzen zu können. Man hatte ja an allem sparen müssen. Die kleinen zusätzlichen Tätigkeiten und die langen Wege von einem Fall zum nächsten haben auch zusätzliche Zeit in Anspruch genommen, sodass wir ständig im Laufschritt gearbeitet haben. Nachdem die Nahrung oder der Tee angehängt worden waren, sind wir nach kurzer Zeit noch mal hin, um zu kontrollieren, ob alles reibungslos lief. Der Pflegebedürftige musste ja die entspreche Menge an Nahrung und Flüssigkeit bekommen. Während der Arbeit bekamen wir Anrufe, Hilferufe von Bewohnern oder von einer anderen Station bei unerwarteten Vorkommnissen, oder der Urologe kam ins Haus, um bei einem Pflegefall einen Katheter zu legen oder zu wechseln, wozu er eine Schwester als Helferin brauchte. Es ist einfach unmöglich, alle Tätigkeiten zu erwähnen, mit denen die Schwestern während des Dienstes bis halb zwölf (!) fertig werden mussten. Die nächste halbe Stunde war für die Eintragungen in das Berichtblatt gedacht. Wenn man das bis zwölf nicht schaffte, musste man die Eintragungen nach 14:00 Uhr, das heißt nach dem Dienst, tätigen. Dann erst hatten wir unsere Dienstleistung für den Tag erbracht. Um 12:00 Uhr gab es Mittagsessen und nur dreißig Minuten, um alle Pflegefälle satt zu kriegen. Dann begann die Mittagsrunde, die nur eine Stunde dauerte. Die einzelnen Pflegefälle, die noch bewegliche Hände hatten und damit alleine am Tisch essen konnten, haben wir vom Bett auf den Rollstuhl gesetzt und zum Tisch gefahren. Das war für uns eine zusätzliche körperliche Anstrengung. Da ein Pflegefall wegen starker Kontrakturen und Versteifungen nicht mehr auf den eigenen Beinen stehen konnte, musste die Schwester dazu in der Lage sein, das ganze Gewicht des Menschen beim Umsetzen in den Rollstuhl und später zurück auf das Bett für ein paar Sekunden alleine tragen zu können! Dabei haben manche Männer bis zu hundert Kilo gewogen, aber mit dem geschulten Griff musste es gelingen. Während der Mittagsrunde musste jede Schwester alle sieben Pflegefälle neu wickeln und die bei Tisch Essenden zurück ins Bett bringen und wickeln. Bei Bedarf, wenn die Hose voll war, musste auch der Intimbereich gewaschen werden. Außerdem musste die Schwester nach ihren Tätigkeiten für die Ordnung in jedem Zimmer sorgen und den Müll entsorgen. Wer nicht in der Pflege gearbeitet hat, kann sich gar nicht vorstellen, was für ein schwerer Job das ist, gerade für eine Frau. *** Im Spätdienst habe ich von Anfang auch als Schülerin oft alleine gearbeitet. Ich habe ja als eine starke und erfahrene Frau gegolten. An diesen Tagen war ich für die ganze Station, also für hundertfünfzig Bewohner, verantwortlich und am Abend musste ich dreiundzwanzig Personen, darunter die fünfzehn Pflegefälle, für die Nacht vorbereiten, das heißt zu Bett bringen, allein umsetzen, wickeln und entsprechend lagern. Außer den Pflegefällen waren auch Bewohner zu versorgen, die noch nicht in der Pflege waren, aber am Abend schon Hilfe benötigten. Alle diese Menschen bekamen für die Nacht eine Windelhose und wurden entsprechend gelagert. Anfangs habe ich am Abend immer die Oberschwester im Flur getroffen, sie lachte mich nur an und ging schnell weiter – und ich bin nicht auf die Idee gekommen, dass sie mich kontrollieren könnte! Ich habe die selbständigen Spätdienste aber gemocht. Gleich nach dem Eintritt in den Spätdienst habe ich zuerst alle Informationen bei den gezogenen Reitern an den Dokumentationsmappen durchgesehen und anschließend alle Pflegefälle und Personen angeschaut, mit denen ich im Spätdienst zu tun hatte. Somit habe ich mir einen Überblick verschafft und wusste, wer mich sofort braucht und wer später drankommt. Dadurch konnte ich unnötigen Anrufen und Hilferufen vorbeugen und Zeitdruck vermeiden. Der Dienst nahm dann einen ruhigen Verlauf, trotz der vielen Arbeit – außer ich habe einen Hilferuf von einer anderen Station erhalten. Dann mussten meine Pflichten warten. Manche Bewohner litten an Verstopfung und haben im Spätdienst sehnsüchtig auf mich, das heißt auf meine Hilfe, gewartet. Beim ersten Rundgang haben alle ein Glas Wasser in die Hand bekommen, dann ging ich der Reihe nach weiter, bis ich zur ersten Person zurückkam und ihr das zweite Glas Wasser in die Hand gab. Beim dritten Rundgang setzte ich die Personen aufs Klo und gab die dritte Portion Wasser in die Hand. Sie bekamen auch die entsprechende Zeit dafür. Alle diese Personen waren schon sehr unbeweglich, manche musste ich schon beim Gehen unterstützen. Diese Aufgabe, die ich mir selber am Anfang des Dienstes angeordnet habe, machte mich sehr zufrieden, weil ich dann in das blaue Blatt der einzelnen Person die Verdauung eintragen konnte. Durch diese Tätigkeit nachmittags wurde auch der nächste Frühdienst entlastet. *** Wir Schwestern und die Etagendamen haben uns kaum gekannt. Wir sind uns im Flur jede auf ihrem Pflichtweg, in Eile begegnet oder auch nicht. Dann saßen wir erst bei der Übergabe nach der Mittagsrunde alle zusammen. Die Etagendamen haben es in ihrer Arbeit auch nicht leicht gehabt. Die kleinen Unterstützungen, die sie anfangs bei den noch selbständigen Bewohnern geleistet haben, waren mit der Zeit immer schwerer geworden, und erst, wenn der Bewohner bettlägerig wurde, hat man ihn in die Pflege zu uns gegeben. Dann hatten wir Schwestern einen Pflegefall mehr zu versorgen. Die Situation war auf allen drei Stationen im Haus gleich. Das führte dazu, dass die Schwestern immer mehr leisten mussten und die Eile der Versorgung und der Stress immer größer wurden. Eines Tages ist eine Etagendame während ihrer Arbeit im Frühdienst zusammengebrochen. Der Notarzt, der zu Hilfe gerufen wurde, diagnostizierte einen Herzinfarkt und sie wurde mit dem Sanka ins Krankenhaus gebracht. Wir haben davon erst nach der Mittagsrunde bei der Übergabe an den Spätdienst erfahren. Der Fall hat uns alle tief bewegt und bestürzt. Als wir nach der Neuigkeit eine Weile schweigend dasaßen, machte plötzlich eine neue, junge Etagendame, die aus dem Ausland kam, ihren Mund auf und sagte: „Die Arbeit mit den alten Menschen, das ist doch eine schwere Arbeit für eine Frau.“ Daraufhin sagte unsere Oberschwester mit fester Stimme streng: „Ihr Ausländer, ihr solltet zufrieden sein, dass ihr in Deutschland überhaupt arbeiten dürft!“ Nach ihren Worten wurde es im Stationszimmer ganz still und ich war sprachlos. Ich wusste nämlich, dass sie selber von der Tschechei nach Deutschland gekommen war. Ihr Vorteil aber war, dass sie einen deutschen Namen hatte und ein perfektes Deutsch sprach. Mit dieser Überlegenheit hatte sie einen leichteren Anfang und mehr Glück eine Arbeit zu bekommen als wir, die sich erst durch die Sprachbarriere hatten durchkämpfen müssen. Nach der Äußerung von der Oberschwester ist kein einziges Wort mehr im Stationszimmer gefallen. *** Nach diesem Vorfall habe ich von der Oberschwester erfahren, dass das Altersheim einen Personalschlüssel von 1:1 hatte. Diese Äußerung hat mich aus dem Gleichgewicht geworfen. Meine Empörung war grenzenlos und mir schoss in diesem Moment ein blitzartiger Gedanke durch den Kopf, den ich nicht sofort in Worte fassen konnte. „1:1! – 1:1!, und wir müssen im Laufschritttempo arbeiten, geteilten Dienst leisten und den ständigen Personalmangel ertragen?“ Ich verstand die Welt nicht mehr. Als ich mich einigermaßen beruhigt hatte, hat die Oberschwester mir erklärt, wie man den Personalschlüssel berechnet: Wenn das Haus zum Beispiel sechzig Pflegefälle hatte, wurden auch sechzig Pflegekräfte eingestellt. Diese wurden dann auf den Frühdienst, den Spätdienst und die Nachtschicht verteilt. Ich war wieder sprachlos. Ich habe sofort an die Menschen gedacht, die in diesem Haus leben wollten! Wenn diese beim ersten Bewerbungsgespräch hörten, dass das Haus einen Personalschlüssel von 1:1 hatte, dann dachten sie doch sofort, dass sie bei einer Erkrankung oder Pflegebedürftigkeit eine Pflegekraft für sich alleine bekommen, was überhaupt nicht der Fall war! Ein Personalschlüssel von 1:1 klang so fantastisch, dass niemand auf die Idee gekommen wäre nachzufragen. Dies schuf den Eindruck, dass das noble Altersheim die beste Pflege garantierte, und das fand ich unverschämt. Diese Täuschung, die da im Gespräch entstand, hat mich tief empört und mir keine Ruhe mehr gelassen. *** Nach meiner Ausbildung war ich im Spätdienst sehr oft als einzige ausgebildete Pflegekraft für das ganze Haus, also vierhundertfünfzig Bewohner, verantwortlich. Diese Tatsache wurde mir immer erst dann bewusst, wenn ich einen Hilferuf von einer Etagendame aus einer anderen Station bekommen habe. In solchen Fällen musste ich sofort meine eigene Arbeit unterbrechen und ihr zu Hilfe eilen. Eines Tages habe ich gegen 17:00 Uhr einen Hilferuf von einer Etagendame bekommen, die in der ersten Station im Erdgeschoß arbeitete. Diese hat in einem Appartement beim Servieren des Abendbrotes eine Bewohnerin nach Luft ringend vorgefunden. Also rannte ich aus dem achten Stock hinunter, weil der kleine Lift besetzt war. Als ich hineinkam, saß die Dame im Rollstuhl und schnappte tatsächlich nach Luft. Ich bat die Etagendame, bei ihr zu bleiben und sie zu beruhigen, so gut sie konnte. Ich musste in den Keller, um Sauerstoff zu holen. Es hat aber eine Weile gedauert, bis ich mit der großen Metallflasche, die mit Sauerstoff gefüllt sein sollte, zurück war. Die Flasche durfte man nämlich auf den Rädern nicht schnell fahren. Als ich der Bewohnerin den Sauerstoff verabreichen wollte, habe ich mit Entsetzen festgestellt, dass die Flasche leer war! Ich rannte zurück in den Keller, um die nächste Sauerstoffflasche zu holen. Ich bin wieder in das Büro des Pflegedienstleiters gegangen, wo die drei Flaschen als Vorrat für den Notfall stehen sollten, und nahm die zweite Flasche mit. Es hat wieder eine ganze Weile gedauert, bis ich mit der zweiten Flasche zurückgekommen bin. Die Bewohnerin schnappte immer noch nach Luft. Die Etagendame wollte mich schon verlassen, um der eigenen Arbeit nachzugehen, aber ich hielt sie intuitiv zurück. Ich musste bald feststellen, dass die zweite Flasche auch leer war! Die Etagendame musste wieder bei der Bewohnerin bleiben und sie beruhigen, bis ich mit der dritten Flasche kam. Unser Entsetzen war grenzenlos, als sich herausstellte, dass auch diese leer war. Der obligatorische Vorrat an Sauerstoff war nicht vorhanden! Mir blieb nichts anderes übrig, als die Klinik anzurufen. Als ich meinen Fall geschildert hatte, durfte ich die Bewohnerin sofort rüberbringen. Ich habe die Bewohnerin im Laufschritt mit dem Rollstuhl durch den langen, unterirdischen Korridor gefahren. Dann erst war mein Notfall für mich erledigt. Nach einem kurzen Aufenthalt in der Klinik ist die Bewohnerin mit einem Herzschrittmacher zurückgekommen. Jeder Notfall hat mich viel Zeit gekostet, während der meine eigene Arbeit liegenblieb. An solchen Tagen musste ich länger arbeiten und durfte erst dann nach Hause gehen. Diese Überstunden wurden nicht angerechnet und auch nicht bezahlt. Nach dem beschriebenen Notfall im Spätdienst hatte ich am nächsten Tag Frühdienst mit der Oberschwester. Ich erzählte ihr, was ich erlebt hatte. Sie war stocksauer, sagte aber nicht, dass der Leiter für den Sauerstoffvorrat verantwortlich war. Diese Tatsache habe ich erst später vom Haustechniker erfahren, dem der Leiter die leeren Sauerstoffflaschen melden sollte. Er hatte es aber vergessen. Der Leiter hat natürlich auch erfahren, welche Schwester sein Versäumnis gemeldet hat und hatte mich ab diesem Zeitpunkt auf dem Kicker! Seine Schikane habe ich sofort bemerkt, als er manchmal für die dritte fehlende Schwester im Frühdienst einsprang. Er hat sich dann nur drei Pflegefälle statt fünf für sein Arbeitspensum genommen, die andere Schwester und ich haben einen zusätzlichen Fall bekommen. Sechs statt fünf Fälle zu waschen und zu versorgen, war noch zu verkraften. Dann aber, als ich vor 12:00 Uhr in das Stationszimmer kam, fand ich auf dem Tisch einen Zettel von ihm, der an mich gerichtet war: „Bitte übernehmen Sie meine Pflegefälle für die Mittagsrunde.“ Das war der Gipfel der Unverschämtheit, der mich sprachlos machte. Das bedeutete für mich, dass ich in der Mittagsrunde, die nur eine Stunde dauerte, mit neun Pflegefällen fertig werden musste, also alle wickeln und die Pflegefälle, die am Tisch saßen ins Bett bringen, wickeln, lagern und bei Bedarf noch waschen. An den Tagen, an denen er für die fehlende Schwester einsprang, habe ich auch die schwierigsten Fälle zu meinem Arbeitspensum bekommen. Vor allem die relativ junge, aber stark gebaute Frau mit MS. Sie war groß und schwer, dazu war sie total versteift und hatte starke Kontrakturen in beiden Ellbogen. Ihre Behandlung in der Früh erforderte viel Geschick und vor allem Kraft. Schon das Umsetzen aus dem flachen Bett auf den Rollstuhl war bei den langen, dicken und versteiften Beinen schon eine Kunst und Leistung für sich. In dieser Zeit hat der Leiter auch angefangen, mich in sein Büro in den Keller einzuladen. Erst merkte ich nicht, dass dies regelmäßig im Abstand von sechs Monaten geschah. Jedes Mal hat er in den Händen ein grünes Blatt Papier gehalten, aus dem er meine angeblichen beruflichen Fehler vorgelesen hat. So las er mir zum Beispiel vor: „Du benutzt einen eigenen Blutdruckmesser, obwohl wir auf der Station drei haben. Du redest mit der neuen Bewohnerin, obwohl sie noch nicht bei uns in der Pflege ist! Du schreibst die RR-Werte im Berichtblatt auf Rot, das macht keine Schwester außer dir.“ Und so ging es weiter. Hätte er mich zu Wort kommen lassen, hätte er zu hören bekommen, dass die drei Blutdruckmesser auf unserer Station entweder kaputt oder in Reparatur waren, wenn man sie dringend brauchte, und ich nur deswegen von meinem eigenen Geld den neuen und besten Blutdruckmesser gekauft hatte. Dieser hatte 200 DM gekostet. Dass die neue Bewohnerin, die gegenüber unseres Stationszimmers ein Appartement bewohnte, sich nicht an das neue Zuhause gewöhnen konnte und Zuspruch brauchte, interessierte ihn auch nicht. Dass ich die RR-Werte auf Rot eintrug, damit sie der Arzt schnell finden konnte, wollte er auch nicht wissen. Er ließ mich einfach nicht zu Wort kommen. Jede Einladung und sein Vorgehen mir gegenüber haben mich sehr aufgeregt. Dazu kam noch die Tatsache, dass ich mich damals noch nicht verbal wehren konnte. Der Leiter hat meine Aufregung natürlich gesehen, ich habe ja innerlich gekocht, dabei lächelte er zauberhaft – was ich dann wieder nicht übersehen konnte. Es war mir vollkommen bewusst, dass er mich körperlich und seelisch kaputt machen wollte. Dass sein ungerechtes Vorgehen mir gegenüber Mobbing heißt, wusste ich damals noch nicht. Dass er mich kaputt machen und loshaben wollte, spürte ich. Ich musste mich sehr zusammenreißen, um die regelmäßigen Einladungen in sein Büro zu verkraften und auszuhalten. Dieses Mobbing hat jahrelang gedauert, und da ich daran gewöhnt war, mit allem im Leben alleine klarzukommen, bin ich nicht mal auf die Idee gekommen, mich bei der Oberschwester zu beklagen. An Tagen, an denen wir den Personalmangel richtig hart zu spüren bekamen und jeden Tag eine von uns einen geteilten Dienst leisten musste, war das Leben extrem schwer. Das war ein immer öfter vorkommender Zustand, in dem wir unser Leben zwischen Dienst und eigenem Bett verbrachten. *** Als ich eines Tages nach Monaten wieder eine Einladung in den Keller bekommen habe, war ich so sauer, dass ich intuitiv einen Bleistift und ein Stück Papier in meine Tasche steckte, obwohl mir noch nicht ganz klar war, wozu. Ich setzte mich dem Leiter gegenüber an den Schreibtisch, legte das Papier an den Rand des Schreibtisches und wartete, was für „Sünden“ er sich diesmal wieder ausgedacht hatte. Als er dann die erste vorlas, fing ich an zu schreiben, aber mit der linken Hand nach links, weil ich rechts keinen Platz fand. Dass die Tatsache ihn erschrecken könnte, hatte ich nicht gedacht. Als er das wahrnahm, war er plötzlich ganz irritiert und fragte mich: „Was machst du da?“ „Du siehst ja“, sagte ich mutig, „ich schreibe meinen angeblichen Fehler, den du mir jetzt vorgelesen hast, auf“, und schrieb weiter. Im nächsten Moment erlebte ich etwas, was ich nicht erwartet hatte: Er zerriss das grüne Blatt Papier vor meinen Augen und warf es in den Papierkorb! Ich stand auf und verließ ihn wortlos. Ab diesem Vorfall hat er mich endlich in Ruhe gelassen, womit ich nicht gerechnet hatte. Er hat auch damit aufgehört, mir seine Arbeit und die Mittagsrunde aufzubürden. Es sind weitere Wochen vorbeigegangen, aber diese Zeit war die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm … *** Nachdem mich der Leiter in Ruhe ließ, wurden meine Dienste erträglicher und ich konnte trotz Stress in der Arbeit tief aufatmen. Ich wurde aber immer öfter im Spätdienst eingesetzt und war damit alleine für das gesamte Geschehen und für alle vierhundertfünfzig Bewohner verantwortlich. Natürlich habe ich es weiterhin erst dann erfahren, wenn ich einen Notruf von einer anderen Station bekam. Trotzdem mochte ich den selbständigen Spätdienst, er hat mir nichts ausgemacht. Eines Tages rief mich währenddessen eine Etagendame aus dem fünften Stock an. Sie sagte mir, dass eine Bewohnerin unter Atemnot leide. Es war 17:00 Uhr. Ich habe sofort meine Arbeit unterbrochen und eilte zu ihr. Als ich dann gesehen habe, dass die zarte, kleine und abgemagerte Frau tatsächlich unter Atemnot litt, war ich schon „auf der Hut“ und mied die Sauerstoffflaschen. Das Risiko wollte ich nicht wieder eingehen. Ich habe sofort die Klinik angerufen. Die Ärzte standen uns ja jederzeit zur Verfügung. Der Arzt war blitzschnell da und die betagte Dame schnappte immer noch nach Luft. Sie saß an ihrem Tisch und klagte jetzt leise: „Ich bekomme keine Luft. Ich bekomme keine Luft.“ Der junge Arzt ist vor ihrem Tisch stehen geblieben und schaute ihr nur zu. Ich stand zwei Meter hinter dem Arzt an der Seite und beobachtete, was er tun würde. Die kleine, arme Frau klagte noch mal ganz leise und langsam: „Ich bekomme keine Luft.“ Der Arzt wartete ab! Nachdem die zarte Dame zum dritten Mal diese Worte ausgesprochen hatte, fiel ihr Kopf auf den Tisch und sie war tot! Mit Staunen und großem Interesse hatte ich das Szenario beobachtet. Jetzt kam der Arzt zu der Toten, nahm den leichten Körper in seine Arme und fragte mich nach dem Schlafzimmer. Ich eilte ins Zimmer und warf das ganze Bettzeug vom ersten Bett auf das zweite, damit der Arzt ihren Körper auf die Matratze legen konnte. Er sagte mir noch, dass er in zwei Stunden wiederkommen würde, um den Totenschein auszufüllen, und ging. Die Verstorbene machte aber keinen toten Eindruck! Aus dem Bad holte ich einen kleinen Spiegel, den ich ihr unter die Nase hielt. Keine Spur von Atmung. Die Frau war tatsächlich tot. Jetzt konnte ich sie versorgen, wie es meine Pflicht war. Ich habe sie ausgezogen, ihren ganzen Körper gewaschen und ihr eine Windelhose gegeben. Aus dem Schrank bekam sie ein frisches Nachthemd und ihren ganzen Körper habe ich auch mit einem frischen Bettlaken zugedeckt. Nachdem ich die Heizung in der ganzen Wohnung ausgeschaltet und das Fenster aufgemacht hatte, suchte ich noch die Etagendame auf, um ihr Bescheid zu geben, dass die Frau verstorben war und der Arzt in zwei Stunden nochmal kommen würde. Jetzt erst war der Notfall für mich erledigt und ich konnte meine eigene Arbeit auf der Station wieder aufnehmen. An diesen Tag bin ich wieder sehr spät nach Hause gekommen. An einem anderen Tag hat uns um die Mittagszeit herum ein Fall ins Schwitzen gebracht. Eine Etagendame, die gerade an einem Appartement vorbeiging, hörte aus der Wohnung Hilferufe! Sie reagierte blitzschnell und öffnete die Wohnungstür mit ihrem Dienstschlüssel. Hier lebte ein Mann, der als selbstständig galt und von niemandem Hilfe benötigte, zu den Mahlzeiten war er bis jetzt immer mit dem Lift in den Speisesaal hinuntergefahren. An diesem Tag ist der Mann aber in eine extreme Notsituation geraten, und das Bild, das sich der Etagendame bot, erschreckte sie. Der Bewohner lag mit dem Körper nach unten in seiner Sitzbadewanne! Sein Kopf war zwischen Boden und Badewannenrand abgeknickt, der Po ist auf dem Sitz der Wanne hängen geblieben und seine Beine hingen am Rand der Sitzbadewanne draußen. Zum Glück war die Badewanne nicht mit Wasser gefüllt, sonst hätte die Etagendame seine Hilferufe nicht mehr gehört. Diese hatte erst eine Kollegin aus einer anderen Etage zu Hilfe gerufen, aber die beiden konnten den Mann nicht aus der gefährlichen Lage befreien. Er war zu schwer und nackt. Dann wurde ich zu Hilfe gerufen. Als ich hineinkam und die drohende Gefahr sah, reagierte ich sofort, ging schnell in das Zimmer und schaute mich um. Dabei fiel mir der neue Ledergürtel an einer Hose ins Auge und ich zog ihn schnell aus den Schlaufen. Die Stimme des Mannes wurde immer leiser. Er konnte die unbequeme und gefährliche Lage kaum noch ertragen. Schnelles Handeln war angesagt. Ich erklärte den beiden Etagendamen, was wir jetzt schaffen mussten, damit er nicht vor unseren Augen starb. Ich konnte den Gürtel mit großer Mühe um seine Schultern herum und unter die beiden Achseln legen, und jetzt gab es nur noch eines, das Wichtigste, zu tun: Mit unserer ganzen Kraft den Mann nach oben ziehen! Er war groß, sehr schwer und hatte keine Pyjamajacke an. Mit der größten Anstrengung und im Bewusstsein, dass wir den Mann retten mussten, ist es uns gelungen, ihn erstmal in eine sitzende Position zu bringen. Der Mann war gerettet, aber noch nicht ganz außer Lebensgefahr. Ich war fix und fertig, weil ich alleine an der unbequemen Seite an der Wand am Gürtel gezogen hatte. Es war aber um Leben und Tod gegangen, wir hatten es schaffen müssen. Der Mann hätte sich das Genick brechen können! Wir mussten ihn noch aus der Badewanne herausbringen, dann hatte der Spuk ein Ende. Der Mann war genauso erschöpft wie wir! Er atmete heftig. Wir hielten ihn noch an den Armen fest, damit er nicht wieder ausrutschte, er war ja noch ganz benommen und außer sich. Wir drei aber auch, und nach einer Verschnaufpause wollten wir erfahren, wie er in die Badewanne gefallen war. Er war immer noch erschöpft, aber wollte uns doch sagen, wie es passiert war. Er hatte sich rasieren und frisch machen wollen, um in den Speisesaal zu fahren, und hatte die Pyjamajacke ausgezogen, wobei ihm schwindelig geworden war. Er hatte sich auf die Kante der Badewanne gesetzt und dabei das Gleichgewicht verloren. Es war wieder mal nachmittags. Ich ging den langen Flur entlang und eilte zu meinem nächsten Pflegefall. Da kam mir eine fremde Frau entgegen und sprach mich an. Sie sagte mir, dass ihre Mutter zwar nicht bei uns in Pflege, jetzt aber krank sei und eine Schwester vom Haus zu sprechen wünsche. Sie führte mich in die Wohnung der Mutter und ließ mich mit ihr alleine. Die Stille im Zimmer der Kranken empfand ich als sehr seltsam. Die kranke Frau lag ganz ruhig und still im Bett. Als ich langsam zu ihr kam und vor ihr stand, schaute sie mich nur an und schwieg. Das war ein bewusster Blick. Sie atmete regelmäßig, und als sie nach meiner Hand griff, hielt sie mich fest. Die Hand war warm. Unsere Blicke haben sich getroffen und wir schauten uns eine Weile an. In ihren Augen lag etwas Seltsames, was auch mich schweigen ließ. Sie sagte kein Wort. Schließlich fragte ich sie behutsam, ob sie mir was mitteilen wollte, aber sie bewegte langsam ihren Kopf von rechts nach links. Da sah ich plötzlich, wie ihr rechtes Auge aus der Augenhöhle herauskam, als hätte es eine unsichtbare Kraft herauspressen wollen. Dabei hat sie tief eingeatmet. Gleich danach bewegte sich das Auge wieder zurück, dabei atmete sie tief aus und schloss beide Augen. Das war ihr letzter Atemzug gewesen. Die Frau war tot. Ich befreite mich aus ihrem Griff und ging langsam zu der Tochter in das zweite Zimmer. Bevor ich ein Wort sagen konnte, sagte die Tochter zu mir: „Ich weiß, was Sie mir sagen möchten, Schwester. Meine Mutter ist verstorben. Ihre Standuhr ist eben stehen geblieben.“ Ihr Mann nahm sie fest in den Arm, und als sie sich so fest umarmten, verließ ich die Wohnung. An meinem letzten Arbeitstag, unmittelbar vor meinem Urlaub, kam mittags unser Hausarzt zur Übergabe in das Stationszimmer. Als wir ihm berichteten, dass es einem Pflegefall, einer Frau, sehr schlecht ging, sagte er zu uns: „Gut, dann setze ich ihre Medikamente ab, damit sie in Ruhe sterben kann.“ Dies vermerkte er mit Datum und Unterschrift auf dem gelben Blatt der Dokumentationsmappe. Der Fall war erledigt. Als ich nach dem Urlaub zum Frühdienst kam, habe ich diesen Pflegefall zu meinem Arbeitspensum für die Versorgung bekommen. Ich war auf das Schlimmste vorbereitet. Doch als ich in die Wohnung der Frau kam, was sah ich da? Der Pflegefall, die liebe, arme Frau, saß auf ihrem Bett und lachte mich an! Ich staunte nicht schlecht und freute mich gleichzeitig für sie. Nachdem ich sie gewaschen und versorgt hatte, wollte sie aus dem Bett raus und am Tisch frühstücken! Natürlich habe ich sie in den Rollstuhl gesetzt, sie zum Tisch gefahren und einen guten Appetit gewünscht. Das Erlebte machte mir bewusst, dass es dieser Frau nur deswegen immer schlechter ergangen war, weil sie mit den „Medikamenten“ vergiftet worden war. Sie ist ja schließlich im Bett liegen geblieben und machte den Eindruck, dass sie kurz vor dem Sterben steht. In der neunten Etage lebte in einer Zweizimmerwohnung eine Frau, die ich schon erwähnt habe. Sie litt an MS und ihre Krankheit war schon weit fortgeschritten. Die starken Versteifungen und das angegriffene Nervensystem, haben ihre Versorgung sehr erschwert. Bei diesem Fall war vor allem unsere Kraft gefragt, weil die Frau groß und stark gebaut war. Sie hatte noch dazu Sprachstörungen und konnte sich nicht artikulieren. Da ihr Kopf zitterte, musste man ihr die Mahlzeiten sehr vorsichtig eingeben, ansonsten hätte sie sich verschluckt, was in ihrem Fall eine Katastrophe gewesen wäre. Für diesen Fall haben wir für die Versorgung morgens eine volle Stunde gebraucht. In ihrem ersten Zimmer stand noch ein zweites Bett, auf das wir sie nach dem Frühstück umgesetzt haben, damit sie bequem fernsehen konnte. Wie das Leben so spielt: Diese Frau hat als junges Mädchen in einer Bank gearbeitet und dann einen reichen Mann geheiratet, der um dreißig Jahre älter war als sie. Er hatte sie in der Hoffnung geheiratet, dass sie ihn im Alter pflegen würde. Sie ist aber früher als er pflegebedürftig geworden. Der Mann lebte in einem anderen Wohnheim und bezahlte ihr das Altersheim und zwei private Pflegerinnen, die sie immer gemeinsam spazieren fahren mussten wegen der ständigen Gefahr, dass sie aus dem Rollstuhl rutschen könnte. Ihre Nachbarin in der Etage war eine 80-jährige Frau Doktor, die mit siebenundzwanzig Jahren an Kinderlähmung erkrankt war. Das war eine sehr nette Frau, sie erzählte mir so manches aus ihrem Leben und ich musste sie für die Geduld bewundern, mit der sie ihr Schicksal ertrug. Die Frau war federleicht und hatte kein Gefühl in den Beinen. Diese waren weich und nicht versteift. Sie hatte am Leib keine Wunden, sie wurde noch aus dem Bett auf einen Stuhl gesetzt. Da sie das Tageslicht nicht ertragen konnte, war das große Balkonfenster immer mit einem weißen Bettlaken bedeckt. Ihr Zimmer wirkte wie eine Todeshalle. Alles war weiß, es gab nirgendwo eine andere Farbe, auch keine Bilder. Das Zimmer machte einen sehr armseligen Eindruck, obwohl die Frau betucht war. Sie war nicht in Pflege. Sie hatte auch zwei private Pflegerinnen, die zu ihr ins Haus kamen. Sie wurde pünktlich im Zweistundentakt gelagert oder umgesetzt. Die gesamte Pflege war bei ihr nicht leicht, deswegen haben die Pflegerinnen oft gewechselt. Wir Schwestern des Hauses mussten pünktlich um 03:00 Uhr morgens bei ihr erscheinen, um sie neu zu lagern. Zu ihr sind immer zwei Nachtschwestern gekommen. Sie diktierte jeden Handgriff, sonst wäre sie mit der Lagerung der Beine nicht zufrieden gewesen.