Kitabı oku: «Apostasie», sayfa 2
cuatro
Vor zehn Jahren, zwanzig Jahre nach Elena.
Es war tiefe Nacht als die Tragödie passierte; Chiara hasste die Nacht.
Vor allem passierten in den Büchern, die sie als Kind gelesen hatte, die schlimmen Dinge immer bei dunkler Nacht. Auch prasselnder Regen oder ein Rabe in der Nähe bedeutete nichts Gutes. Aber eigensinnig widmete sich vor dem Schlafengehen beängstigender Literatur. Dadurch wollte sie sich ihrer Angst vor der Dunkelheit stellen, sowie dem, was die Literatur hergab.
Dies hielt so lange an, bis sie eines nachts, im Alter von zwölf Jahren Albträume hatte. Diese waren so haarsträubend, dass sie die Literatur vom Horror und vom Okkultismus aufgab. Sie hatte entschieden, dass vor dem Schlafen Jane Austen besser war als Edgar Allan Poe.
Dies war ihre emotionale Auslegung für ihr Verachten der Nacht, hinzu kam noch die wissenschaftliche Erklärung:
Während tagsüber alles hell und klar ist, und somit leicht kontrollierbar, waren die Schatten der Nacht vage. Der menschliche Geist weiß schwer einzuschätzen, was er nicht kennt.
Um das Bild zu vervollständigen, gab es den religiösen Aspekt ihrer Kultur. Sie lehrte, dass sich das Böse (so nannten es ihre Mutter und ihre Freundinnen) nicht hinter einem Sonnenstrahl versteckte, sondern eher hinter einer Wolke, die das Mondlicht verschleierte.
Chiara wusste als die Tragödie passierte nicht, ob es aufgrund der Literatur, der Wissenschaft oder des Bösen geschah.
Tatsache ist, dass sie die Nacht verabscheute.
Chiara erinnert sich deutlich an jenen Augenblick, als wenn es gestern passiert wäre: zuerst die läutenden Glocken um ein Uhr nachts, die sie aus dem Schlaf weckten. Dann das düstere Gesicht ihres Onkels im Türrahmen und das Weinen ihres Bruders Alberto, als dieser die Nachricht vernahm.
Dann kam alles wie im Flug: Sie stieg in das Auto des Onkels, in welchem Alberto bereits auf dem Rücksitz wartete. Die Blaulichter, der Krankenwagen vor dem Krankenhaus, die quietschenden Räder der Krankenbahren in Richtung Notaufnahme, als würden sie Ware tragen und schließlich das Wort, das ihr gesamtes Lebens veränderte: Koma.
An diesem Juni-Abend waren ihre Eltern mit Freunden zum Abendessen ausgegangen, während Chiara und Alberto zu Hause geblieben waren, um zu lernen. Chiara stand vor ihrem Abitur und Alberto hatte die Prüfung zur Oberstufe vor sich. Sie wollten lernen.
Aber auf dem Rückweg ihrer Eltern passierte es. Das Krankenhaus berichtete, dass ein LKW auf der Straße umgekippt war, die sie auf ihrem Nach-Hause-Weg genommen hatten. Die Kollision war unvermeidlich.
Viele Schläuche für die Infusion und viele elektronische Maschinen mit schrillen Tönen bekam Chiara in diesen endlosen Tagen vor Augen. Es vergingen lange, düstere Stunden, ohne dass die Eltern aus aufwachten.
„Sie liegen im Koma“, hatte der Arzt an dem Abend bedauernd mitgeteilt. „Die Situation ist ernst, aber stabil. Es besteht die Chance, dass sie sich erholen. Ich will dir aber keine Hoffnung machen.“
Chiara nickte mit dem Kopf und brachte kein Wort heraus.
Es vergingen Wochen in diesem qualvollen Stillstand. Chiaras Leben reduzierte sich auf ein Zimmer im Krankenhaus und auf das Piepen vom Elektroenzephalogramm ihrer Eltern. Einerseits verlor es nicht an Frequenz, andererseits erhöhte sie sich nicht.
Chiara war ohne sie verloren. Sie konnte nicht zulassen, dass ihre Eltern sie auf diese Weise verließen. Sie fühlte sich hilflos in dieser Situation, wie ein Blatt, das sich vom Baum löste. Es kann nichts anderes tun, als zu Boden fallen und sich vom Wind tragen zu lassen.
Es gab allerdings eine Möglichkeit, die sie noch nicht versucht hatte. Sie hatte sich im Strudel der Ereignisse verloren. Es handelte sich darum, die Person, die im Himmel lebt um Hilfe zu bitten, den Herrn. Sie war überzeugt, dass er ein offenes Ohr hat. Eines Morgens kam sie im Eilschritt aus dem Krankenhaus und ging zur nächstgelegenen Kirche.
Nach Atem schnappend durchlief sie die Kirche und kniete sich vor die Füße Christi. Mit ergreifender Intensität begann sie zu beten.
Außergewöhnlich war, während sie ihre Gedanken darlegte, fühlte sie sich endlich besser. Zuversichtlich, dass ihr jemand zuhörte.
Jedoch zeigte sich keine Besserung.
Sie betete eine weitere Woche, betete in der Kirche, betete im Krankenhaus oder abends vor dem Schlafengehen und forderte Alberto auf, dasselbe zu tun. Der Herr wollte sie nicht erhören. Chiara konnte es nicht ertragen, überzeugt wie sie war, dass er ihnen helfen würde. Aber dann begriff sie (warum hatte sie nicht schon früher daran gedacht!). Vielleicht musste sie eine Gegenleistung geben, um eine solche Gnade zu erhalten.
Somit dachte sie stundenlang darüber nach, was sie dem Gott bieten könne, dem sie so zugetan war. Aber alles war trivial im Vergleich zum Leben ihrer Eltern.
Geldspenden hielt sie für erbärmlich und ihre Gebete nicht ausreichend. Es gab nur eines, was das Leben ihrer Eltern gleichwertig sein konnte: Es handelte sich um nichts anderes als ihr eigenes Leben. Sie ging auch an diesem Tag in die Kirche und kniete sich wie vor wenigen Tagen zu den Füßen Christi nieder.
„Ich schwöre, dass ich dir mein Leben bieten werde“, flüsterte sie mit Nachdruck. „Ich schwöre, dass ich mein Leben verbringen werde, um anderen zu helfen und ein Gewand tragen werde, welches mich an deinen Namen bindet, oh Herr. Aber ich flehe dich an, rette meine Eltern!“
Chiara wusste nicht, ob dieser Schwur reichen würde, ihre Mama und ihren Papa zu retten. Für sie bedeutete es kein wahres Opfer, denn ihr Glaube war stark. Sie hatte aber nichts anderes, was sie ihm bieten konnte: Der Herr forderte keine extremen Leistungen, die den eigenen Tod bedeutet hätten, im Gegenzug für das Leben ihrer Eltern, dem war sie sich sicher.
Sie wusste nicht, ob es Zufall war: ob es die Entscheidung der Glücksgöttin oder aus Gnade Gottes war. Tatsache war, dass sich der Gesundheitszustand von Chiaras Eltern sich wenige Tage nach dem Versprechen, das Chiara dem Herrn gegeben hatte, besserte.
Dadurch war die Situation leichter zu bewältigen. Ihr Herz erwärmte sich und sie war sich gewiss, dass ihr der Herr geholfen hatte.
Es vergingen mehrere Monate bis Mario und Cristina (so hießen die Eltern von Chiara) nach Hause kamen. Als dies geschah, feierte das gesamte Dorf ihr neu gewonnenes Leben. Drei Wochen nach ihrer Rückkehr vereinte Chiara ihre Familie, um ihre große Neuigkeit bekanntzugeben.
„Ich habe beschlossen, nach dem Abitur mein Gelübde abzulegen“, teilte sie mit fröhlicher und zittriger Stimme mit. „Ich werde nicht zu Hause wohnen können. Wenn ich aber Glück habe, schicken sie mich in ein Kloster in der Nähe.“
Alle waren von ihrer plötzlichen Entscheidung überrascht. Sie hatten Mühe, sich Chiaras hübsches Gesicht umrahmt von einem schwarzen und weißen Schleier vorzustellen. Aber ihre Entscheidung bereitete einer religiösen Familie wie der ihren eine Ehre.
„Ich habe mit gewünscht, dich in einem Brautkleid zu sehen“, erwiderte ihre Mutter enttäuscht, stand auf und ging auf sie zu. „Aber die Ehe, für die du dich entschieden hast, ist das reinste und tiefste Bündnis, das man eingehen kann, denn diese Ehe bringt dich unserem Herrn näher.“
Chiaras Eltern wurden in den folgenden Tagen von Bedenken geplagt. Seit jenem Abend dachten sie an nichts anderes als an die plötzliche Entscheidung ihrer Tochter.
„Bist du dir sicher was du tust?“, fragte ihr Vater eine Woche nach der Offenbarung.
„Natürlich. Warum fragst du das, Papa?“
„Deine Entscheidung ist ehrwürdig. Trotzdem ist es eine schwere Entscheidung und du könntest sie eines Tages bereuen. Du bist noch so jung ...“
Chiara lächelte. „Ich bin jung, das stimmt, aber ich weiß, was ich will. Es ist dies, was ich mir wünsche.“
Mario hatte den Blick seiner Tochter geprüft, um etwas zu finden, das ihm vielleicht entgangen war. Aber nichts trübte Chiaras seltsamen und bezaubernden Augen.
„Das Wichtigste ist, dass du dir sicher bist und nach vorne schaust, mein Schatz“, bestätigte er sie in ihrem Vorhaben und streichelte ihre Wange.
„Das bin ich und es gibt nichts Bezaubernderes als die Liebe zu Gott und zu meiner Familie.“
Mario lächelte verlegen. Die Worte seiner unbefangenen Tochter beeindruckten ihn, aber ein Teil von ihm war nicht überzeugt.
‚ Bis du die wahre menschliche Liebe triffst‘, dachte er, ‚ aber dann wird es zu spät sein. Vielleicht hast du einen solch starken Glauben, dass du mit deinem neuen Leben glücklich wirst.‘
Wahrscheinlich hätte er Chiara diese Worte mit auf den Weg geben sollen. Er wusste nicht warum, aber er zog es vor, zu schweigen, um sie nicht zu verärgern.
Für viele Jahre wusste niemand, was Chiara dazu geführt hat, ihr Gelübde abzulegen, zumal ihr fröhlicher Gesichtsausdruck keinen Zweifel zuließ.
Chiara verspürte eine echte Freude für den Weg, den sie entschieden hatte zu nehmen. Ihre Eltern lebten und ihr Bruder war nicht fern von ihr. Ihr neues Leben ermöglichte ihr, sich kulturell zu entwickeln und nahe der „ Person zu sein, die im Himmel lebt“ sowie anderen Menschen zu helfen.
Nichts störte für mehrere Jahre ihr Lebensfrühjahr. Eine glücklichere Person gibt es nicht; ihr Blick war rein wie die Sonne. Allerding ist es an hellen Tagen, wenn ein stürmischer Wind aufsteigt, schwer zu wissen, ob Sonne bevorsteht oder ob Wolken das Wetter ändern.
Für Chiara dauerte es zehn Jahre bis diese Wolke kam und leider kam sie.
cinco
Chiara hatte sich entschieden, eine Nonne zu werden. All diese Erinnerungen erschienen vor ihren Augen, während die anderen Ordensschwestern das Vaterunser ertönen ließen, wie sie es regelmäßig vor dem Mittag- und Abendessen taten.
Obwohl Chiaras Lippen die Worte auswendig zitierten, die sie seit Anbeginn ihres Lebens kannte, fiel es ihrem Geist schwer, sich wie einst zu konzentrieren. Ihre Augen sollten während dem Gebet geschlossen sein, wanderten aber von der Linsensuppe in ihrem Teller zu den liturgischen Gemälden der kargen Wände, als versuchten sie zu entfliehen.
Das Leben ist seltsam und schwer zu verstehen. Es lohnt sich, das Leben in all seinen Facetten auszuleben, obwohl der Mensch machtlos ist gegenüber den Entscheidungen Gottes.
Werden alle menschlichen Entscheidungen vom himmlischen Veto bestimmt?
Sie kannte die Antwort nicht.
ZWEI JAHRE VORHER
dreiundzwanzig Jahre nach Elena
seis
Es war ein warmer Mai-Nachmittag. Chiara wusste nicht, ob es Dienstag oder Mittwoch war. Sie hat sich einen langen Spaziergang am Nachmittag nach der Lektüre eines weiteren liturgischen Textes vorgenommen.
Sie hatte in diesen zehn Jahren im Kloster viel gelesen. Chiara bekam nicht genug, um von den verschiedenen Facetten des Glaubens zu erfahren, die jeder Autor mit verschiedenen Worten und Gedanken beleuchtete. Gewiss las sie aus Neugier hin und wieder nicht-kirchliche Texte zu lesen, wenn sie keiner sah. In den Ordensinstituten durfte das Lesen nicht Quelle der Freude sein. Glücklicherweise unterrichtete sie in den ersten Klassen der katholischen Schule des Dorfes und konnte dadurch ihre Kultur durch Geschichte und Erdkunde variieren, ohne sich schuldig zu fühlen. Sicher hatte die Äbtissin ihr das Unterrichten der Kinder anvertraut, um ihre Leidenschaft für Texte aller Art zu unterstützen.
Zurück zum Tag im Mai: Chiara war auf ihrem Rückweg zum Kloster und bewunderte beim Laufen die Umgebung. Die Wiesen blühten und die Bienen summten von einer Blume zur nächsten und transportierten Pollen. Die Idylle wurde begleitet vom Klang des Baches, der entlang der nicht-asphaltierten Straße verlief. Die Olivenbäume standen mit kleinen gelben und weißen Punkten in voller Blüte, als wären sie aus Schnee. Im November würden die Bauern die Oliven ernten, um sie in leckeres Öl zu verwandeln. Auch die leichten Zikaden fingen an, die Wärme zu spüren, und nutzten die Gelegenheit, zu singen.
Alles war herrlich, idyllisch und voller Düfte, so dass die junge Nonne wahre Lebensfreude verspürte.
In jenen Augenblicken fühlte sich Chiara näher an Gott denn je. Sie war sich sicher, dass all diese Herrlichkeit nicht aus einer stoischen Explosion namens Urknall entstanden sein kann.
Sie hielt inne, um sich über einen Wildrosenstrauch zu beugen und den feinen, verführerischen Duft zu riechen, während ihr das schwarze Kopftuch nach unten glitt.
In diesem Augenblick fühlte sie zum ersten Mal in ihrem Leben etwas, das alle normalen Mädchen Verlegenheit nannten.
„¿ Son perfumadas?“, Chiara sprang bei diesen Worten auf, denn sie hatte nicht erwartet, dass jemand in der Nähe ist.
Sie drehte sich ruckartig um. Ihre Pupillen waren geweitet. Als der vor ihr stehende junge Mann ihr ins Gesicht schaute, wich er einen Schritt zurück. Er war überrascht, dass eine monja (wie man sie in Spanisch nannte) so hübsch sein konnte.
„ Perdoname“, entschuldigte er sich. „ No es fácil mich zu erinnern, que ich auf Italienisch sprechen muss und en Italien bin.“
Chiara starrte ihn an, ohne ein Wort zu sagen.
„ Como no es fácil acuerdarme que no es höflich, von hinten an eine Person heranzutreten. Disculpame si te erschreckt habe.“
Chiara lächelte, denn sie war über den betont ausländischen Akzent belustigt, den sie noch nicht gehört hatte, da sie selten mit Ausländern zu tun hatte. Sie konnte ein paar Worte Spanisch, Französisch und Deutsch, da diese Kenntnisse für wohltätige Zwecke nützlich sein konnten. Bisher hatte sie aber nicht die Gelegenheit gehabt, ihre Fähigkeiten in die Praxis umzusetzen.
„¿ No me comprendes? Oh, perdoname.“ Der junge Mann schüttelte seinen Kopf und berichtigte sich: „Verstehen Sie mich nicht?“
„Ja, ja, ich verstehe ein bisschen Spanisch“, antwortete sie lächelnd. „Keine Ursache, es ist nicht Ihre Schuld. Ich war nur abgelenkt und habe mich deshalb erschrocken.“
Dieses Mal war es der Fremde, der kein einziges Wort herausbrachte, so sehr war er versunken, die monja zu beobachten.
‚ Sie ist bildhübsch‘, dachte er sich, ‚ wie ist es möglich, dass ein so hermosa Mädchen Nonne geworden ist?‘‘
Das weiße Stoffband, das ihr Gesicht unter dem Kopftuch umrahmte, brachte ihre strahlenden, verschiedenfarbigen, harmonisierenden Augen noch mehr zur Geltung. Die rosigen Lippen waren zu aufreizend, um zu einer Braut Gottes zu gehören.
Ihre sanften Gesichtszüge unterschieden sich stark von denen der anderen Frauen, die er bisher gesehen hatte. Ganz zu schweigen die Nonnen, denen er bisher begegnet ist. Sie kamen ihm stets verbittert vor.
Er nahm eine Haarsträhne wahr, die dem Kopftuch entwischen war. Vom Wind animiert tanzte die Strähne vor ihrem Gesicht hin und her, als wollte sie mitteilen, wie lebhaft und pfiffig Chiaras Seele war.
Verlegen fragte Chiara sich, ob der Fremde ihr langes Schweigen wahrnimmt. Beide waren sie tief in ihren Gedanken versunken.
Sie fühlte sich in Gegenwart von dem jungen, gebräunten Mann fremd und anders. Dieser starrte sie an, als hätte er nie zuvor eine Nonne gesehen. Sie fühlte, wie sich ihre Wangen bei seinem Blick erröteten. Den Augen des Fremden entging ihre Gefühlsregung nicht, wodurch sie noch graziöser wurde.
„ Ahora tengo que ir, ich muss gehen, sorella“, verabschiedete er sich. Chiara lächelte amüsiert, als er das doppelte L wie ein „gl“ aussprach.
„ ¿Por qué te ríes?“, fragte er verwirrt.
Chiara führte sich eine Hand vor ihren Mund, um das Lächeln und das Erröten ihrer Wangen zu verbergen.
„Entschuldigen Sie, ich lache, da es lustig ist, sie Italienisch sprechen zu hören. Es ist amüsant, wie Sie die Wörter aussprechen.“
Er schüttelte belustigt den Kopf.
„ Me vergesse siempre, wie man die Wörter ausspricht. Ich brauche tiempo, um das zu lernen“, er zuckte lässig seine Schultern und lächelte Chiara an, dessen Wangen noch mehr Farbe bekamen.
Für einen Moment hatte Chiara Mühe, diesem lächelnden Blick nicht auszuweichen und vor allem, sich auf ihren Beinen zu halten, die schwach wurden. Sie wollte möglichst schnell dieses Gespräch beenden, denn es führte zu nichts, sondern machte sie nur verlegen.
„Geduld ist die Tugend der Starken“, erwiderte sie.
Obwohl es ihm gefiel, sich mit der hübschen Monja zu unterhalten, beabsichtigte der Fremde seines Weges zu gehen, da er Wichtigeres zu erledigen hatte.
„ Hasta la vista“, verabschiedete er sich und deutete eine Verbeugung an, um seinen Weg zu nehmen.
„Auf Wiedersehen“, flüsterte sie mit trockener Stimme und klemmte die entwichene Haarsträhne unter ihr Kopftuch.
Chiara hatte noch Zeit und setzte sich an den Bach, um vor dem Sonnenuntergang die letzte Sonne zu genießen. Die Sonne war zu dieser Tageszeit nicht mehr unerträglich heiß, enthielt aber noch die Wärme des Tages.
Sie fühlte sich langsam müde und ihre Füße schmerzten vom langen Spaziergang. Sie zog sich ihre schwarzen Slipper und die dünnen, weißen Socken aus. Dann hielt sie ihre schneeweißen Füße in das Wasser des Baches, bei dessen Kontakt ihr Körper entspannte. Sie erfrischte sich ihr Gesicht und ließ ihren Blick wandern.
Sie pausierte zehn Minuten und genoss das Panorama hinter dem Bach: ein Mengsel aus angebauten Feldern und blühenden Olivenbäumen (Brüder von denen, die den Weg säumten, den sie entlang gegangen war). Sie fühlte sich außerordentlich glücklich, glücklicher als sie jemals gewesen ist.
Sie betrachtete den Himmel und lächelte: Das Leben und die Welt waren wunderschön! Wenn es nicht das Paradies wäre, das die guten Menschen empfangen werden, täte es ihr Leid, die Welt früher oder später zu verlassen.
Trotz ihres heiteren Gemüts verspürte sie eine eigenartige Müdigkeit, die ihr bis ins Knochenmark ging, unbestimmt wie eine kleine Wolke am stürmischen Himmel.
Sie schaute auf die Uhr: Du meine Güte! Es war halb Fünf. Sie musste sich beeilen, um zum Kloster zu gelangen, sonst würde sie zu spät zum Abendessen kommen. Sie musste ihren Pflichten in der Kantine an Hilfsbedürftige und Personen nachgehen, die im Kloster halfen.
Rasch zog sie sich Socken und Slipper an und rannte zum Kloster. Mit einer Hand hielt sie das Kopftuch fest, um zu verhindern, dass es herunter rutschte.
Chiara gab das Bild einer schwarzen, sich fortbewegenden Gestalt ab. Ihr Kopftuch flatterte hinter ihren Schultern, unentschlossen, ob es auf ihrem Kopf bleiben oder wegrutschen sollte, um die geschmeidigen Haare zu entblößen, die sich unter dem Stoff verbargen.
Unschuldig wie ein Kind lief sie zart wie ein Schmetterling, der seine Flügel nicht vollständig ausgebreitet hatte, unwissend, was ihr die nahe Zukunft bringen würde.
* * *
Als sie die kleine Kirche am Kloster betrat, blieb ihr das Herz stehen.
„Dies ist kein Hotel: Ihr könnt für eine begrenzte Zeit in den Wohnstätten für Hilfsbedürftige bleiben, solange Ihr in der Gemeinschaft integriert seid, wie es sich für jeden Christen gehört“, die Stimme der Äbtissin war streng und wie immer mächtig und entschlossen. „Es gehört dazu, während ihrem Aufenthalt bei uns, im Kloster zu helfen. Da Sie ein Mann sind, werden Sie bei der Feldarbeit helfen.“
„ Muchas gracias, sorella.“ Dieses Mal war seine Aussprache korrekt. „Ich werde alles tun, um Ihrer hospitalidad zu danken.“
„Das Haus des Herrn ist das Haus aller Christen“, beteuerte die Äbtissin feierlich. „Schwester Costanza wird Sie jetzt zu Ihrem Wohnbereich bringen. Das Abendessen nehmen wir abends um halb sieben ein und morgens beginnen wir um fünf Uhr mit der Arbeit.“
Der Gesichtsausdruck des jungen Spaniers fuhr zusammen als er diese Zeiten hörte, was der Äbtissin nicht entging. Obwohl sie die Präsenz eines attraktiven jungen Mannes in ihrem Kloster nicht gern sah, konnte sie einem Christen die Hilfe nicht verwehren.
„Wenn es Ihnen nicht gefällt, früh aufzustehen: Dort ist die Tür!“, sie deutete mit dem Kopf zur Kirchentür und hoffte für einen Augenblick, dass er gehen würde. „Andernfalls können Sie bleiben.“
Der junge Mann schüttelte den Kopf.
„Gracias se ñ ora, die Zeiten sind in Ordnung, ich danke Ihnen vielmals.“
„Äbtissin“, korrigierte sie ihn, „nicht Signora.“
Er stimmte mit dem Kopf zu.
„Da kommt eine weitere unserer Ordensschwestern“, kommentierte die Oberin als sie Chiara an der Kirchentür bemerkte. „Komm Chiara, ich stelle dir einen neuen Gast vor. Er wird sich für einige Zeit bei uns aufhalten und uns bei der Arbeit helfen.“
Chiara bemühte sich, ruhig zu bleiben und vor allem, ihre erneut karmesinroten Wangen unter Kontrolle zu bekommen. Diese Reaktion geschah ihr heute zu oft.
Sie machte ein paar, zaghafte Schritte, ging dann zielstrebiger zur Äbtissin und dem Fremden, der sich in diesem Moment zu ihr drehte.
Als er sie sah, hob der junge Mann eine Augenbraue. Er war überrascht, sie nach so kurzer Zeit wiederzusehen. Chiara bemerkte seinen Gesichtsausdruck sofort.
„Herr ... Wie ist ihr Name?“, fragte die Äbtissin und holte beide in die Gegenwart zurück.
„José Velasco, se ñ ora Äbtissin.“
Für einen Moment runzelte die Oberin die Stirn, versteifte den Rücken, holte tief Luft und beherrschte sich.
„Nur Äbtissin, habe ich gesagt“, verärgert schaute sie zum Himmel. „Also Herr ... José, ich stelle Ihnen Schwester Chiara vor, eine der frommsten Nonnen dieses Klosters. Chiara“, sie drehte sich zu ihr, „Herr José ist soeben aus Spanien gekommen, wie du von seiner Aussprache erkennen kannst. Jemand muss ihm bei seinem Italienisch helfen. Da du dich auf das Unterrichten spezialisiert hast, möchte ich, dass du neben deinen humanitären Aufgaben eine Stunde am Tag einplanst, ihm unsere Sprache korrekt beizubringen. Wenn ich mich nicht irre, kannst du Spanisch, oder nicht?“
„Ja, Oberin.“
„Perfekt, somit hätten wir das geregelt.“
„ Encantado, Schwester Chiara“, stellte sich José vor und verbeugte sich erneut, wie schon vor knapp einer Stunde.
„Ganz meinerseits“, erwiderte sie und verbeugte ihren Kopf.
„In Ordnung, Chiara“, beendete die Äbtissin das Gespräch bevor sie sich verabschiedete. „Wie du bereits aus der Aussprache vom Wort ‚Schwester‘ erkennen kannst, wirst du mit diesem Herren ein wenig Arbeit haben.“
Chiara konnte nichts erwidern. Sie beschränkte sich auf ein zustimmendes Nicken. Sie wusste nur zu gut, dass der Fremde absichtlich die Wörter falsch aussprach, auf die sie ihn zuvor bereits hingewiesen hatte.
„Herr Velasco, folgen sie bitte Schwester Costanza“ und damit ging die Äbtissin in die Sakristei. José setzte sich mit einem Lächeln den Rucksack auf den Rücken und folgte einer monja mit völlig anderem Aussehen als jene, der er auf dem Feld begegnet war.
Bevor er die Kirche verließ, konnte er nicht anders, drehte sich um und fühlte sein Herz springen als er Chiara sah. So hieß sie also, diese hübsche Nonne, welche regungslos dastand.
„Tschüs“, verabschiedete er sich mit heiterer Stimme.
„Tschüs“, antwortete sie und winkte schwach mit der Hand.
Schwester Costanza war scharfsinnig und still. Die wenigen Male, die sie ein Wort sprach, machte sie kein einziges Kompliment, aber scharfsinnig war sie.
Sie bemerkte etwas Ungewöhnliches im Verhalten von Chiara, der hübschen Schwester, wie der Spanier José Velasco alle sie nennen hörte. Ihr war nicht das leichte Zusammenfahren ihrer Schultern entgangen, als er sich zur Tür zurückdrehte.
„ Tschüs“, seit wann verabschieden sich zwei Fremde mit „Tschüs“? Hinzu kommt dieser liebliche Ton voller Andeutungen ...
Sie hatte sofort verstanden, dass sie sich nicht zum ersten Mal begegnet sind. Aber warum hatten sie vorgetäuscht, sich zum ersten Mal zu begegnen?
„Waren sie bereits in Italien, Herr Velasco?“, fragte sie beim Laufen, ohne sich umzudrehen.
„Nein, nunca... nie“, log José.
„Sie sprechen aber bereits gut Italienisch.“
‚ ¿Es un interrogatorio?‘ und fühlte sich ausgefragt.
„Das habe ich im Sprachkurs de los a ños gelernt , señora. Ich habe viele Italiener gennengelernt .“
‚ Señora‘ - Es war nicht nur unhöflich, sie derart unpassend für eine Nonne anzureden, zudem hatte er sie mit signora anstatt signorina angesprochen. Im Grunde hatten sie das gleiche Alter.
„ Das gilt nicht nur für die Äbtissin.“
„Was?“
„ Sie sollen mich nicht señora nennen, sondern Schwester Costanza.“
José antwortete nicht. Er wusste, wie auch immer er geantwortet hätte, seine Stimme hätte seine Abneigung durchscheinen lassen, die er mit einem Mal für diese neugierige und unbehagliche Monja verspürte . Beim Laufen kratzte er sich den Hals und blickte nach oben. Wie sehr hätte sich gewünscht, wenn Chiara ( Ordensschwester Chiara, er erinnerte sich an ihr Gelübde und korrigierte sich) ihn anstelle von Schwester Costanza begleitet hätte.
„Hier sind wir“, erklärte sie und hielt vor der Tür der Wohnstätte für Arbeiter, die nahe der Klostermauer gelegen war, die das Kloster schützte. „Die Äbtissin hat sie über den Tagesablauf des Klosters informiert und somit verabschiede ich mich von Ihnen.“
Steif nickte sie mit dem Kopf und drehte sich um.
„ Gracias ... Schwester Costanza“, bedankte sich José und betrat die Schwelle zum Gebäude, dabei gelang es ihm nicht, seine gereizte Stimme zu unterdrücken.
* * *
Chiara wusch sich die Hände, ging in die Kantine und nahm ihren Platz hinter der Theke ein, um die Tischgäste zu bedienen.
Als die Personen mit ihrem Tablett in der Hand erschienen, lud ihnen Chiara kleine Mengen der bescheidenen Gerichte auf, die das Menü des Abends umfassten.
Auch José kam an die Reihe, setzte das Tablett sanft vor ihr ab und wartete bis sie seinen Teller gefüllt hatte.
„ Gracias“, bedankte er sich höflich, aber Chiara antwortete ihm ausschließlich mit einem Lächeln.
José lächelte ihr zurück und in diesem Augenblick entstand zwischen den beiden ein gewisses, geheimes Verständnis für einander, das sie nicht erwartet hatten.
Die Äbtissin beobachtete ihn aus der Ferne und behielt alles im Auge. Sofort bemerkte sie den unruhigen Gesichtsausdruck in Chiaras Gesicht, sowie das offensichtliche Interesse von José. Sie besänftigte sich, dass kein Grund zur Unruhe bestände.
Noch nicht.
* * *
Nach dem Essen stellte José den Teller auf den Wagen für das schmutzige Geschirr und ging auf sein Zimmer, das er mit zwei Obdachlosen teilte.
Er ließ sich auf das Bett fallen. Mit den Händen im Nacken blickte er in den Sternenhimmel, den er durch ein kleines Fenster wie ein Bild in der Steinmauern über sich sah.
Gewiss war es unmoralisch, ein Bett zu belegen, das für Personen bestimmt war, die obdachlos sind und keine Arbeit haben. Er hatte aber seine Gründe und machte seine Reise für ein wichtiges Vorhaben. Es gab somit keinen Anlass für Gewissensbisse.
Selbstverständlich konnte er den Ordensschwestern nicht anvertrauen, dass wenn er gewollt hätte, es für ihn leicht gewesen wäre, eine Arbeit an Bord eines Schiffes zu finden. Seit mehr als zehn Jahren ist er Seemann gewesen.
‚ Nein ...‘, dachte er, ‚ wenn die das erfahren, würden sie mich wegschicken und ich könnte mit meinen Nachforschungen nicht weiterkommen.‘
Nicht schlecht! Er kam bei seinem Anliegen weiter und es war richtig zu bleiben. Im Grunde war es nicht schlecht, eine Weile auf diesem friedvollen Land zu verbringen. Er hatte viele Jahre auf dem Meer und in den Häfen verbracht.
„Es ist seltsam, nicht wahr?“
José drehte sich um und sah einen Mann um die Dreißig. Dieser saß auf der unteren Matratze seines Etagenbettes und schaute ihn wohlwollend an.
„Entschuldige bitte, ich habe mich noch nicht vorgestellt. Ich bin Jacopo“, er stand auf und reichte ihm die Hand.
„José Velasco“, stellte er sich vor, während sich Jacopo erneut auf die Matratze setzte.
José betrachtete zuerst ihn, dann den Mann auf der oberen Matratze des Etagenbettes, welcher offenbar tief schlief. Er überlegte einen Augenblick, ob er das Gespräch fortsetzen sollte, das den anderen Gast hätte stören können.
Zumindest galt auf dem Schiff: Wenn ein Kollege schlief, durften die anderen im Zimmer keinen Lärm machen. Es gab andere Möglichkeiten für ausgelassene Gespräche.
„Ah, mach dir keine Sorgen. Wenn Lorenzo schläft, hört er nichts, nicht einmal eine verstimmte Musikband.“
„ Was empfindest du für seltsam?“, fragte José, um auf den Beginn des Gesprächs zu antworten.
„Hier zu schlafen und zu leben. Am Anfang ist es immer seltsam.“
„Ja, das stimmt. Dime, wie sind die monjas? Entschuldige, die Schwestern?“
„Was meinst du damit: „Wie sie sind?“, fragte Jacopo mit einem amüsierten Ausdruck, den José sofort bemerkte.
„Vom Charakter obviamente!“
Jacopo kicherte. „Ja! War ein Scherz! Beruhige dich. Sie sind nicht besonders ... wie sagt man auf Spanisch? Bonita? Richtig?“
„Ja, es heißt bonita, aber ich bevorzuge hermosa.“
„ Hermosa“, wiederholte er. „Sie sind nett und hilfsbereit. Nicht alle, um genau zu sein. Man kann sie sicher nicht als hübsch definieren!“
José wollte ihm widersprechen, aber er dachte, es wäre unpassend. Es war Jacopo, der sich korrigierte.
„Obwohl manche dieser Nonnen, genau genommen wenige, außerordentlich hübsch sind und ihr Gelübde bedauert. Aber wir sind nicht gekommen, um unsere Traumfrau zu finden, sondern aus Not und die Ordensschwestern können hilfsbereit und nett zu uns Armen sein. Aber wie ich dir sagte, ist es eigenartig hier im Kloster zu leben, zumindest am Anfang.“
„Ja, extraño ...“
José Velasco in einem Kloster. Er musste beinah lachen.