Kitabı oku: «Apostasie», sayfa 4
ocho
Eines Abends wurde Chiaras Schlaf gestört. An diesem Nachmittag hatte sie mit José eine angenehme Stunde verbracht und der Tag war wunderschön und schöp-ferisch. Trotzdem schlief sie in dieser Nacht leicht aufgewühlt. Ihre Träume waren wirr; sie konnte die Orte und Personen nicht richtig erkennen. Sie hörte italienische und spanische Worte, ohne dass sie die genaue Bedeutung verstand. Dann wurden die Bilder klarer und sie empfand im Traum Momente des vergangenen Tages nach.
„ Hoy estoy muerto“, stöhnte José kurz nachdem er die Bibliothek betreten hatte. „ He trabajado como un burro.“
Mit fallendem Gewicht ließ er sich auf dem Stuhl nieder, lehnte seinen Kopf an der Sitzlehne an und lächelte sie an. „ Buenas tardes, Chiara!“
Sie entgegnete mit einem weniger überzeugten Lächeln und antwortete ihm sofort, bevor ihr die Hände zitterten.
„Irre ich mich oder sind wir im Italienischunterricht, José? Hier sprechen wir kein Spanisch!“
José stöhnte und gab vor, verärgert zu sein. „Guten Abend, Chiara!“
„So ist es besser. Wie sagt man ‚ he trabajado como un burro‘ auf Italienisch?“
„Ah... Mmh, eso es ...“, erwiderte er, „es ist eine spanische Redewendung. Ich weiß nicht, ob sie auf Italienisch exista ...“
„Versuche sie zu übersetzen.“
José presste seine Lippen zusammen und schloss leicht seine Augen, um eine übertriebene Konzentration vorzugeben.
„Alorra ...“
„Allora, nicht , alorra‘„, korrigierte ihn Chiara.
Er nickte. „Also, he trabajado wird zu ich habe gearbeitet ...“
„Richtig.“
„ Y como un burro se convierte en ... wie ein ... Pferd?“
Chiara schüttelte ihren Kopf zum Nein.
„ No me acuerdo ... nicht wie ein Pferd, sondern eher wie ein peque ñ o, jetzt hab' ich's, Esel!“
Chiara konnte sich das Lachen nicht verkneifen, als sie seine kindliche Begeisterung sah. Er änderte seinen Gesichtsausdruck aber nicht, sondern beobachtete Chiara, wie sie spontan lachte.
„Wir haben die gleiche Redewendung, aber es heißt nicht: ‚Ich habe wie ein Esel gearbeitet‘„, erklärte Chiara. „Auf Italienisch heißt es eher „ wie ein Maultier“. Aber ich finde, dass du den Satz gut übersetzt hast!“
José wollte ihr mitteilen, dass er sich ihretwegen besserte. Stattdessen betrachtete er sie schweigend und ihr Lachen klang in seinen Gedanken weiter.
Chiara senkte den Blick.
„Schlage Seite 33 auf“, forderte sie ihn auf bevor sie verlegen wurde.
Sie schreckte plötzlich aus dem Schlaf auf, richtete sich im Bett auf und sah auf die Uhr: Es war nach Mitternacht, aber ihr war nicht danach, sich wieder schlafen zu legen. Sie zog sich somit ihr Nonnengewand an, nahm eine Taschenlampe und verließ geräuschlos ihr Zimmer.
Die Äbtissin mochte es nicht, wenn die Ordensschwestern nachts durch das Kloster liefen, es sei denn, es ging ihnen schlecht. Im Grunde fühlte sie sich nicht ausgesprochen gut, so dass es zulässig war, im Innenhof auf und ab zu gehen, um ihren nervösen Körper zu beruhigen.
Sie legte die Taschenlampe auf den Boden, verschränkte ihre Arme und betrachtete den Vollmond, der von unzähligen Sternen umgeben war. Das Mondlicht küsste die Welt.
Als sie den Kopf zum Himmel richtete, rutschte das schwarze Kopftuch nach unten und ähnelte in der nächtlichen Brise einem lockigen Haarkleid.
Sie seufzte entmutigt und fühlte mit einer Hand ihre Stirn.
Chiara leidete gewöhnlich nicht an Ängsten oder Stimmungsschwankungen und wusste nicht, was ihr solch ein Unbehagen verschaffte. Ihr Leben war, wie sie es sich wünschte. Was war somit dieses undefinierbare Gefühl, das ihr den Magen zuschnürte?
Wenn es anhält, würde sie die Äbtissin bitten, zum Arzt gehen zu dürfen. Ja, das würde sie.
Liebe ist seltsam und schwer zu verstehen, vielleicht weil sie so natürlich ist, unkontrollierbar und vor allem menschlich. Der Mensch an sich ist seltsam. Vielleicht sind wir deshalb nicht in der Lage, Liebe zu verstehen. Sie ist uns ausgesprochen ähnlich. Wir sind unfähig, ihre Nuancen zu sehen oder eine schlaflose Nacht zu deuten, während das Herz ein Gesicht vorgibt, bevor der Verstand begreift. Es gibt eine Lösung vor.
Die Farben geraten nicht durcheinander, sondern die Gefühle überlagern sich. Die Ruhelosigkeit lässt uns fragen, was die Liebe ist. Gibt es sie oder ist sie ein Hirngespinst des Menschen, dem der Mensch bis ans Ende seines Lebens folgt?
Dennoch gibt es Menschen, die sich keine Fragen über Gefühle stellen. Sie suchen stattdessen beängstigt Antworten zu einer Krankheit, die zwangsläufig klinisch sein muss. Diese Menschen haben am meisten Angst vor der Liebe und haben es vielleicht am nötigsten, umarmt zu werden, zu lieben und geliebt zu werden.
Chiara verstand nicht, dass die Kälte, die sie verspürte, und das Zittern, das sie überfiel, der Wunsch nach dieser Umarmung war. Sie bevorzugte es, dem Verstand zu folgen. Tatsächlich wäre sie, wenn sie sich nicht besser fühlen würde, zur Äbtissin gegangen, um sich eine Erlaubnis für einen Arztbesuch einzuholen.
Sie drehte weiter ihre Runden um den Brunnen in der Mitte des Innenhofs und versuchte diese unerklärliche Melancholie zu kontrollieren. Sie ahnte, dass sich jemand hinter einem Fenster versteckte und sie beobachtete.
* * *
Die Uhr schlug Mitternacht als José erwachte und auf Zehenspitzen zur Holztür schlich, die zum Hof des Klosters führte.
Sei es Zufall oder Fahrlässigkeit der Person, die sie hätte schließen müssen, sie war nicht abgeschlossen. José atmete auf, als er entdeckte, dass er nicht über den Mauerring klettern musste. Nicht, dass es für ihn ein Problem darstellte: Jahrelang hatte er auf Handels- oder Privatschiffen gearbeitet und war unendliche Male den Hauptmast hinauf- und hinunter geklettert. Er nutzte den Gefallen dieses unerwarteten Geschenks.
Nachdem er zum Innenhof hinausgetreten war, schloss er behutsam die Holztür, um nicht die Scharniere knarren zu lassen. Dann schaute er sich nach rechts und links um und vergewisserte sich, dass niemand anwesend war. Er ging in Richtung Bibliothek, indem er dem Gartenzaun folgte, zu dem das Mondlicht nicht hinreichte.
Als er den Sala de los libros betrat (wie dieser ihm vorgestellt wurde), meinte er, Chiara in der Mitte des Raumes am Tisch sitzen zu sehen, an dem sie ihm wenige Stunden zuvor Italienischunterricht erteilt hatte.
Nein, er musste sich nicht schuldig fühlen. Er missbrauchte von keinem das Vertrauen, zumal ihm niemand das Vertrauen geschenkt hatte. Er war zu einem bestimmten Zweck gekommen und hatte nicht die Absicht, sich von seltsamen Sympathien durcheinander bringen lassen.
Er war nervös. Aus seiner Jeans-Tasche zog er einen alten, vergilbten Brief, um ein weiteres Mal die Worte seines Interesses zu lesen.
Wir haben noch eine Hoffnung.
Habe Vertrauen! Nicht in Gott, sondern in mich und in das Leben.
Erinnerst Du Dich an den Sala de los Libros, wie Du ihn nanntest?
In diesem kleinen Kloster ist der Schlüssel zur Wahrheit. Er befindet sich in unserem Buch: Der Protestantismus und die Glaubensregel .
Heute Nacht werde ich ihn dort suchen, damit Du sicher bist.
José war sich sicher, dass dies das besagte Kloster war, denn er hatte den Brief mehrere Male gelesen. Alles stimmte überein. In einem dieser Bücher musste sich der Schlüssel befinden.
Der Raum erschien ihm wie ein Labyrinth.
Fantástico.
Es reihten sich Lesetische und Regale mit antiken Büchern. Es gab wenige moderne Bücher. Jeder Gang war wie ein Schachbrett durch horizontale Gänge geteilt.
Den Eingang nach Narnia zu finden wäre einfacher als das Buch Der Protestantismus und die Glaubensregel in diesem Sammelsurium. Aber er war fest entschlossen!
Buch für Buch durchsuchte er das erste Regal. Mit seinem Taschenmesser, das er immer bei sich trug, markierte er den Holzrahmen mit einer kleinen Einkerbung.
Auch wenn eine Kuh einfacher vom Eis zu holen war, würde er Nacht für Nacht jeden Gang absuchen. Dieses Buch sollte nicht von großem Interesse für die katholischen Nonnen sein.
Unbemerkt hatte er eine halbe Stunde mehrere Regale durchstöbern können als plötzlich durch die schweren Vorhänge Licht schimmerte.
Schnell knipste er seine Taschenlampe aus. Verdammt, zu dieser Stunde sollte keiner wach sein! Vorsichtig zog er den Vorhang zurück.
Der Schatten im Lichtschein verriet ihm sofort wer es war, obwohl ihm der Rücken zugewendet war.
Mit verschränkten Armen schützte sie sich vor der Kälte oder einer Qual.
Was trieb sie dort? Er beugte sich vor.
Offensichtlich marschierte sie nervös auf und ab. Warum? Wen erwartete sie? Sein Herz raste bei dem Gedanken.
Nein, Chiara konnte nichts Unerlaubtes planen - sie hatte keine Geheimnisse: Ihre Augen waren zu klar und naiv.
Sie war angespannt, das bezeugte ihre Eile.
Seine Gedanken ließen ihn aufseufzen: Wer weiß, wie anmutig sie ohne das keusche Kopftuch und ihre Tunika ist? Wie verführerisch ihre gelösten Haare wohl sind? Wie zart ihre Haut sein mag? Hatte sie Muttermale? Ist ihr Körper schneeweiß wie ihr Gesicht?
Das schlechte Gewissen strafte ihn sofort. Selbstverständlich meinte er, wie sie in Bluse und Jeans gekleidet aussehen mag? O hne Kleidungsstücke würde er sie sich nicht vorzustellen wagen.
Mit einem Kopfschütteln verjagte er seine Träumereien. Sie bückte sich, um ihre Taschenlampe aufzunehmen und ging ins Kloster, gefolgt vom obligatorischen Kopftuch, das sie von der gesamten Welt trennte.
Während sie allein und wehmütig im Hof umhertigerte, empfand José ein undefinierbares Gefühl, das die Vernunft schwer billigte, aber emotional eindeutig war.
Nein, das war unmöglich.
Die Liebe ist seltsam, stolz und zielstrebig.
* * *
Am folgenden Nachmittag war es für José nicht einfach, zum Unterricht zu gehen.
Er fühlte sich emotional taub und nervös. Sein gewöhnlich sonniges Gemüt blieb schüchtern, was ihn noch mehr reizte. Launen von unbekannter Ursache lassen die Sicherheit der Personen erschüttern.
„Guten Abend, José!“, begrüßte sie ihn mit ihrem üblichen Lächeln auf den Lippen.
„Hallo Chiara“, antwortete er mechanisch mit trockener Kehle, während sich seine Zunge einfach nicht bewegen wollte - ein lästiges Gefühl!
Der Unterricht folgte dem Muster des Vortages und José bemerkte, dass Chiara eine ausgesprochen gute Lehrerin war. Er konnte nichts Besseres verlangen.
„Geht es dir nicht gut?“, fragte sie ihn. „Du bist heute schweigsamer als sonst.“
„ Nos conocemos viel zu wenig. Woher willst du wissen, dass ich gewöhnlich gesprächiger oder schweigsamer bin?“
Josés Stimme war nicht unhöflich, sie war eher scherzhaft als ernst. Trotzdem fürchtete Chiara, ihn gereizt zu haben, zumal ihr Interesse für eine Nonne wenig angemessen war.
„Entschuldige bitte“, erwiderte sie und senkte den Blick auf das Italienischbuch. „Du hast Recht, ich kenne dich nicht ausreichend, um deinen Charakter zu kennen.“
Bei diesen Worten fühlte sich José gedemütigt. Das Letzte, was er beabsichtigte, war die junge Nonne zu kränken, die so nett zu ihm war.
Vielleicht hätte er es nicht sagen sollen und den Regeln folgen, die hier galten. Jedoch konnte sie sich ihrem Anblick nicht entziehen, die ein enttäuschtes Gesicht machte. Ohne einen Moment nachzudenken, legte er seine Hand auf die von Chiara und drückte sie zärtlich. Sie war klein und zart, so dass sie perfekt in seine Handfläche passte.
„ Yo muss mich entschuldigen, Chiara“, sagte er ernst. „Ich wollte nicht parecerte unhöflich erscheinen, das war nicht meine Absicht“, bat er um Verzeihung.
Chiara schwieg. Das Einzige, was in diesem Moment ihren Körper und Geist beschäftigte, war die Josés Hand, die groß und stark war und auf ihrer lag. Seine Berührung ließ sie vergessen, warum sie sich bis vor kurzem gedemütigt fühlte.
Eine plötzliche Hitze durchwanderte von der Hand zum Arm, um dann durch ihren Körper zu gleiten. Ein seltsames neues Gefühl überkam sie.
‚ Diese Wärme entsteht aufgrund einer Beziehung zwischen zwei Christen‚ denn der Körperkontakt vereint sie zum Glauben Gottes.‘, Dies war ihre mystische Erklärung für das überraschende Empfinden.
Anders konnte sie sich diese Raserei gemischt mit einer seltsamen Ruhe nicht erklären, die sie in diesem Moment verspürte.
‚ In meinem Klosterleben habe ich wenig Körperkontakt mit Menschen gehabt‘, fuhr sie geistig fort, ‚ deshalb ist dieses impulsive Gefühl fremd für mich. In der Tat rät die Religion von ihm ab: Er ist von heftiger Wirkung.
Während Chiara ihre Gefühle zu deuten versuchte, folgte José mit seinen Augen ihrem verwirrten Blick zu ihren Händen, die aufeinander liegend verharrten. Klösterliches Gelübde oder Seemannsleben, der Unterschied spielte keine Rolle: Auch für den jungen Spanier war es beunruhigend, seine Hand mit der Hand einer monja vereint zu sehen.
‚ Was zum Teufel machst du, José Velasco?‘ – ‚Nein, du dürftest nicht den geringsten Drang verspüren, sie berühren zu wollen.‘
„Entschuldige“, sagte er und löste ihren Kontakt auf.
Chiara errötete und starrte auf die Tischplatte. Ruckartig schlug sie das Italienischbuch zu und stand ebenso abrupt auf.
„Ich muss gehen“, erwiderte sie und drehte sich mit dem Rücken zu ihm, um zum Ausgang zu gehen. „Wir sehen uns morgen.“
Sie ließ José keine Zeit, ihr zu antworten, als sie verschwand.
Die Äbtissin schüttelte den Kopf. Hinter einem Regal in der Bibliothek verborgen hatte sie zufällig die Szene miterlebt während sie nach einem Band vom Alten Testament suchte. Der Scham und die Spannungen von Chiara und José blieben hingegen ungeteilt. Sie war einfühlsam und bemerkte die Anziehung zwischen den beiden sofort, obwohl diese es selbst noch nicht verstanden hatten.
Chiara war zu fromm, um sich ernsthaft in jemanden zu verlieben. Andererseits war es normal für eine junge Frau wie sie, sich gegenüber einem jungen Mann wie José Velasco verlegen zu fühlen. Sie war der Auffassung, dass die Liebe Gottes stärker war als jede menschliche Anziehungskraft und sah keinen Grund zur Beunruhigung.
Hinsichtlich José war es normal, dass Chiaras Anmut ihn verwirrte: Sie war ausgesprochen hübsch. Ihre schwierige Naivität würde ihn aber bald langweilen.
‚ Männer wie er sind alle gleich. Sie empfinden einen kurzlebigen Reiz‘, dachte sie seufzend, ‚ obwohl sie verliebt sind, vergessen sie bald ihre Gefühle.‘
Das Beste war, die beiden für ein paar Tage zu trennen. Auf diese Weise konnten sie alles überdenken, um auf den rechten Weg zurückzukehren bevor sie abkommen konnten.
Aus ihrer Ecke der Bibliothek sah sie Chiara verschwinden. Sie hielt ihr Lehrbuch an die Brust als wäre es ein Schutzschild, das sie vor der unmöglichen Liebe schützen sollte. Wieder und wieder schüttelte sie den Kopf und schloss ihre Augen, um sich an ihre zerronnene Jugend zu erinnern.
Abstand
Der Tag, der verfluchte Tag war gekommen. Elena erhob sich ungern aus ihrem Bett, als würde sie an diesem Tag, dem 20. September, auf dem Dorfplatz am Galgen hingerichtet.
‚Ja, ich bin zu melodramatisch‘, dachte sie.
Dieser Tag war aber überaus abscheulich: Ihr Bruder würde von zu Hause weggehen und sie würde alleine zurückbleiben.
Sie stieg aus dem Bett und ging zur Küche im Erdgeschoss. Vor der Küchentür fiel ihr Augenmerk auf das Abbild, welches sich ihr im Spiegel bot - das einer jungen Frau im Morgenmantel.
Sie war erst sechzehn Jahre alt, in Kürze siebzehn, aber ihr Körper glich nicht im Geringsten dem eines kleinen Mädchens, sondern dem einer attraktiven Frau. Unter dem bescheidenen, keuschen Leinengewand zeichneten sich ihre weiblichen Formen ab, welche die Jungen im Dorf ihr nachschauen ließen: geschmeidig und weich im Kontrast zur Einfachheit des Gewebes.
Elenas Gewissen wurde von ihrer Mutter diktiert: „Wenn ich wie gewöhnlich im Morgenmantel zum Frühstück erscheine entfache ich sicherlich Mamas religiöse Empörung und Anti-Sünde.“ Überlegt drehte sich Elena um und zog sich ein weites, dunkles Kleid an, um eine übliche Polemik zu vermeiden.
Im Erdgeschoss warteten Michele und ihre Eltern mit einem letzten gemeinsamen Frühstück auf sie.
Während ihr Vater die Zeitung las, forderte ihre Mutter sie auf, ihr beim Servieren der Milch, dem Kaffee und dem Kuchen für die beiden Herren des Hauses behilflich zu sein.
Mechanisch erledigte Elena ihre Pflichten. Das Fehlen Micheles lag bereits mit einem bedrückenden Schweigen in der Luft. Michele beobachtete sie schuldbewusst und gestand sich ein, wie sehr ihm seine starke und zugleich zerbrechliche Schwester fehlen würde.
Bei einem Spaziergang am Nachmittag animierten sie die Erinnerungen der Orte zum Leben zurück, an denen sie gemeinsam aufgewachsen waren.
Elena schwieg: Sie war traurig und wütend zugleich. Wie konnte Michele sie zurücklassen? Sie -, die stärker war als jede andere Frau, wenn auch nur dank Michele.
„ Sei nicht so Elena!“, verlangte Michele, während er sich auf das Mäuerchen vom Brunnen des Dorfplatzes setzte.
„ Nun lass mich doch“, erwiderte sie widerspenstig.
„ Auf, komm schon!“ Er deutete ihr, sich neben ihn zu setzen. Elena aber kehrte ihm den Rücken zu. „Ich ziehe nicht in den Krieg, ich gehe studieren.“
„ Das ist das Gleiche, Lele.“
„ Jetzt male nicht den Teufel an die Wand. Lena, du kannst mich besuchen kommen und nach dem Studium kehre ich zurück.“
„ Wann soll das bitte sein?“, fragte sie patzig.
„ Lass mich nicht noch mehr schuldig fühlen als ich bereits bin.“
Elena konnte ihre Tränen nicht weiter unterdrücken. Mit einem herzzerreißenden und zugleich zornigem Schluchzen schmiss sie sich an Micheles Hals. Wortlos wischte er die Tränen aus Elenas Gesicht, wie er es häufig tat.
Mit dem Abend kam die Stunde der Trennung. Zu Hause zog sich jeder mutlos in sein Zimmer zurück.
Bei Sonnenuntergang befand sich die ganze Familie Gentile an der Haustür und verabschiedete sich vom Erstgeborenen. Michele begab sich alleine zum Bahnhof und wollte diesen Abschied schnellstmöglich hinter sich zu bringen.
Sein Vater schüttelte ihm die Hand, wie es ein wahrer Mann tut: keine Umarmung, kein Streicheln, ausschließlich eine Geste der Stärke.
Die Mutter weinte verzweifelte Tränen als ihr erstes Kind (ihr Liebstes) ausflog, um seinem großen Schicksal zu folgen.
Elena hatte aufgehört zu weinen. Aber der Blick, mit dem sie ihren Bruder anschaute, war vielsagender als alle Worte. Augen sind nicht in der Lage, Gefühle, Liebe und Schmerz zu verbergen.
Dann umarmten sie sich und Elena steckte ihm heimlich ein kleines Baumwolltaschentuch in seine Jackentasche, das ihre Initialen aufgestickt hatte. Vielleicht befürchtete ein Teil von ihr, dass Michele seine Schwester vergaß, die ihn innig liebte.
Als Michele verschwunden war und sich die Tür schloss, fühlte sich Elena elend. Ihr Vater bedachte sie mit einem finsteren Blick und sie verspürte zum ersten Mal Angst: Sie war ihm wehrlos ausgesetzt. Es gab niemanden mehr, der Fäuste zäumte, während er sie ohrfeigte.
Aber Michele musste gehen. Michele musste seinem Traum und seinem großen Herzen folgen. Er konnte nicht ewig bei ihr bleiben, um sie zu beschützen.
Während sich Elena langsam Mut machte, fühlte sich Michele verräterisch, weil er Elena zurückgelassen hatte, auch wenn sie jetzt keine kleine Schwester mehr war. Er hatte sie mit zwei Personen zurückgelassen, die nie begriffen haben, was für eine besondere Person sie war.
Aber er musste gehen: Vielleicht kann er mit seinen zukünftigen Taten Personen zum Nachdenken bringen, sie verbessern und ihnen helfen, eine vereinte Familie zu werden, wie diese Familie es nie gewesen ist.
Am Bahnhof angekommen, stellte er seinen Koffer auf dem Boden ab. Voller Zweifel richtete er seine Augen gen Himmel, während er seine Hände in die Taschen vergrub. Plötzlich spürte er mit der rechten Hand etwas Sanftes. Verwundert zog er ein weißes Taschentuch hervor, auf dem von Hand zwei kleine Buchstaben und eine lila Blume gestickt waren.
E. G.
Ein plötzlicher Schmerz durchfuhr sein Herz: Vielleicht hätte er zurückkehren und seine Zukunftsträume aufgeben sollen, um seine Schwester zu beschützen. Aber der Zug kam und er stieg ein, bevor er seine Meinung änderte.
In dieser Nacht konnte Elena nicht schlafen. Körper und Geist waren damit beschäftigt, ihr Alleinsein zu verarbeiten, die sie fortan erwartete. Sekunde um Sekunde saugte sie das Voranschreiten des Lebens auf, sowie das Ende dessen, was eine ihrer wunderbarsten Zeiten gewesen war. Sie hatte sie zusammen mit dem besten Bruder verbracht, den Gott ihr schenken konnte.
Aber jetzt war alles vorbei. Er war gegangen und Elena wusste genau, dass sich die Vergangenheit nicht wiederholte - niemals. Alles war vorbei und dies war das Ende dieser paradiesischen Zeit mit ihm.
Hätte sie geahnt, dass Micheles Trennung der Beginn ihres wahren Lebens war ... sowie ihres wahren Todes?