Kitabı oku: «Rapsblütenherz», sayfa 2

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Kapitel 2
Napoleon

Kleinen Männern wird Vieles nachgesagt. Das Wenigste ist schmeichelhaft. Auf Hajo Stegmann trifft alles zu.

Johanna beglückwünschte sich zu dieser außerordentlich treffenden Erkenntnis und sah auf.

Die S-Bahn überquerte gerade die Lombardsbrücke und machte den Blick auf die Alster frei. Auf der einen Seite tummelten sich trotz der frühen Stunde bereits Ruderer, auf der anderen Seite glitzerte die Alsterfontäne in der Morgensonne. Wieder einmal war Johanna ungemein stolz darauf, Hamburgerin zu sein.

Aber ja, es stimmte tatsächlich, Hajo Stegmann war das personifizierte Klischee: Er war klein und drahtig, genauso selbstsüchtig wie machthungrig und hatte mehr Komplexe, als man auf seine geringe Körpergröße hätte tätowieren können. Zu allem Überfluss war er zudem ihr Chef. Johanna seufzte (das tat sie genau genommen ziemlich häufig). Das waren keine motivierenden Gedanken für den Arbeitsweg. Und überhaupt hätte sie diese am besten nie zu Papier gebracht, so etwas gehört nicht in ein unverschlüsseltes Notizbuch…

Ihre Gedanken brauchten jedoch einfach ein Ventil, denn es fiel ihr schwer, nur so dazusitzen und zu denken. Sowieso war sie immer irgendwie beschäftigt. Optimale Zeitausnutzung war schließlich alles. Einer ihrer Dozenten an der Uni hatte es auf den Punkt gebracht: Leistung, das war Arbeit pro Zeit. Das war vielleicht die wichtigste Erkenntnis ihres ganzen BWL-Studiums, denn genau so erreichte man Bestnoten. Nicht durch überragende Intelligenz, sondern durch gute Organisation, Fleiß und Wollen. Das absolute Wollen. Ihr Durchhaltevermögen hatte Johanna bereits so weit gebracht, da würde sie diesen Arbeitstag auch noch schaffen.

Am Bahnhof Dammtor stieg sie wie jeden Morgen aus, denn von hier aus war es nur noch ein kurzer Fußweg zum Büro. Zunächst aber erstand sie wie ebenfalls jeden Morgen einen Karamell-Macchiato. Und obwohl das Getränk an sich bereits Frühstück genug war, orderte sie heute noch ein Franzbrötchen dazu - einer der weiteren Vorzüge ihrer Heimatstadt. Sie war mit ihrer Beute schon fast beim Ausgang angelangt, als sie die Auslage der Bahnhofsbuchhandlung wie magisch anzog. Fröhlich-leichte Cover lachten ihr entgegen und erinnerten sie daran, dass draußen Frühling war. Johanna hatte eine lange Liste mit Büchern, die sie lesen sollte, äh wollte, von Werken mit historischem Hintergrund über zeitgenössische Biographien bis hin zur unvermeidlichen Fachliteratur, aber eines dieser Bücher hier stand garantiert nicht darauf. Trotzdem konnte sie insgeheim nichts Falsches daran finden, sie zu lesen. Schließlich handelten die meisten dieser Romane unter dem pastellfarbenen Einband von Nächstenliebe, Träumen und Hoffnung. Und was konnte daran schon falsch sein? Was ihr aber zunehmend auffiel, ja sie fast störte, war, dass jeder zweite Titel von einem Neuanfang handelte und die Protagonistin sich am Ende unweigerlich in einer Bäckerei in einem Bus, einer Buchhandlung in einem Boot oder einer Bäckerei in einer Buchhandlung wiederfand. Johanna mochte keine Neuanfänge. Einen Neuanfang brauchten schließlich nur diejenigen, die ihr erstes Leben versaut hatten. Neuanfänge waren was für Loser.

Das Gebäude, in dem sich ihr Büro befand, war glatt, gläsern und anonym. Johanna schritt langsam durch die große Drehtür, die ihr immer das Gefühl einer gewissen Wichtigkeit in dieser Welt gab. Unwillkürlich straffte sie die Schultern und reckte das Kinn ein wenig. Drinnen angekommen zögerte sie nur eine Sekunde, bevor sie mit einem Knopfdruck den Fahrstuhl rief. Dieser begrüßte sie mit einem freundschaftlichen „Pling“. Johanna nahm sich jeden Tag aufs Neue vor, die Treppe zu nehmen, allein schon wegen des Karamell-Macchiatos und erst recht wegen des Franzbrötchens. Da sie sich aber schon nach drei Stockwerken überhaupt nicht mehr wichtig, sondern nur noch außer Atem und angeschwitzt fühlte, ließ sie es jeden Tag doch lieber.

Allein in der Fahrstuhlkabine nutzte sie die kurze Fahrt, um sich Milchschaum von der Oberlippe zu wischen, den Kragen ihrer Bluse zu richten und Volumen in ihr Haar zu schütteln, das nach dem allmorgendlichen Glätten mal wieder ganz platt am Kopf lag. Sie betrachtete das Ergebnis kritisch im Spiegel, bevor sie den Aufzug im fünften Stock verließ.

Schwungvoll betrat sie die Räume der Unternehmensberatung Stegmann & Partner, was die Empfangsdame dazu brachte, hektisch ihren HSV-Kaffeebecher hinter dem Bildschirm zu verstecken. „Ach Hanna, erschreck‘ mich doch nicht so“, maulte die blonde Frau.

„Dir auch einen schönen guten Morgen, liebe Nana“, grüßte Johanna sie fröhlich und entfernte diskret einige Brötchenkrümel von dem ansonsten vollkommen makellosen Tresen. Bei Stegmann & Partner war das Äußere alles. Um den Kunden Professionalität und fachliche Überlegenheit zu vermitteln, sagte ihr Chef immer. Passend zur Oberflächlichkeit und Verlogenheit des Geschäftsmodells, sagten die Mitarbeiter immer. Die Geschichte der Firma war schnell erzählt: Es waren einmal zwei ehrenhafte Hanseaten, die eine kleine, aber feine Unternehmensberatung gründeten: Fischer & Jahnke. Als Jahnke altersbedingt ausschied (oder weil er schlicht keine Lust mehr hatte, das war nicht genau überliefert) wurde daraus Fischer & Partner. Einer dieser Partner, ein gewisser Hans-Joachim Stegmann, tat sich als besonders geschäftstüchtig hervor, was zu Stegmann, Fischer & Partner führte (man beachte die Reihenfolge). Dann schied auch noch Fischer aus (ganz sicher, weil er keine Lust mehr hatte) und es blieb Stegmann & Partner (mit sehr klein geschriebenen Partnern).

Nana grinste Johanna jetzt an: „Sag‘ mal, hast du da etwa ein Franzbrötchen in der Tüte?“ Sie deutete mit ihrem manikürten Finger auf Johannas Tasche. Ihre dunkelroten Gelnägel waren fast furchterregend lang.

„Schon möglich. Aber hattest du nicht gerade schon ein…“ Johanna fischte einen letzten Krümel von der glänzenden Oberfläche und begutachtete ihn. „…Nutellabrötchen?“

„Ja, aber ich muss heute noch drei Flüge für Napoleon buchen, da brauche ich doch Nervennahrung.“ Das war zweifellos wahr und da das Franzbrötchen bei Nana, die im Gegensatz zu Johanna essen konnte, was sie wollte, sowieso besser aufgehoben war, gab diese nach.

„Ok, aber nur die Hälfte!“

„Danke“, flötete Nana ihr hinterher, als sie durch eine weitere Glastür in ein helles Großraumbüro ging, das durch halbhohe Wände und exotische Kübelpflanzen, die nur ein Dienstleister gießen durfte, da sonst die Garantie erlosch, in mehrere Nischen unterteilt war. Am Ende des langen Raums trennten Glaswände ein großzügiges Einzelbüro ab, das dadurch starke Ähnlichkeit mit einem Aquarium hatte. Allerdings beobachtete man hier nicht das, was sich im Aquarium befand, sondern wurde durch die Glasscheiben beobachtet. Heute war der Glaskasten jedoch noch leer und unbeleuchtet, was Johanna aufatmen ließ. Napoleon war noch nicht auf der Bildfläche erschienen.

Auf Grund seiner hervorstechenden Eigenschaften (klein und drahtig, selbstsüchtig und machthungrig) wurde Hajo Stegmann von seinen Mitarbeitern „Napoleon“ genannt. Natürlich nur hinter seinem Rücken, denn der Spitzname war keinesfalls als Kompliment gemeint.

Johanna bog in die zweite Nische auf der linken Seite ab, in der sich zwei Schreibtische gegenüberstanden, und ließ ihre Tasche auf den unbesetzten fallen. „Guten Morgen, Mareck“, begrüßte sie ihren Kollegen, dessen Hände bereits konzentriert über seine Tastatur flogen. In den sieben Monaten, die sie inzwischen hier arbeitete, war es noch nie vorgekommen, dass sie vor ihm da war. Mareck Praski war Anfang sechzig und arbeitete bereits seit Anbeginn der Zeit in der Firma. Er hatte immer ein amüsiertes Lächeln auf dem Gesicht und trug zu jeder Gelegenheit Jeans, Hemd und extravagante Gürtel und Sneaker, die bestimmt teurer waren als die meisten maßgeschneiderten Anzüge. Überhaupt hatte Johanna das Gefühl, Mareck würde nur noch zum Spaß arbeiten. Wobei sie den Spaß an der Sache noch nicht entdeckt hatte. Wenn sie es sich leisten könnte, würde sie nicht hier sein. Oder doch, sie würde trotzdem jeden Tag wieder kommen. Schließlich sollte Napoleon doch nicht auch diese Schlacht gewinnen.

„Hallo Hanna!“ Mareck wandte sich vom Bildschirm ab und sah ihr zu, wie sie ihren Schreibtisch sorgfältig für den Arbeitstag einrichtete. „Hast du gestern noch ein Geburtstagsgeschenk für deinen Freund gefunden?“ Es war zum Ritual zwischen den beiden geworden, dass vor Arbeitsbeginn (zumindest bevor auch Johanna mit der Arbeit anfing) erstmal geklönt wurde.

„Ne, noch nicht. Ich hab‘ noch nicht die richtige Idee“, erwiderte Johanna schulterzuckend und versuchte die Schuldgefühle beiseite zu schieben, dass sie auch eigentlich gar keine Lust hatte, darüber nachzudenken.

„Ein bisschen Zeit hast du ja auch noch“, tröstete Mareck sie. „Und ich kann ja auch noch mal überlegen.“

„Danke dir!“ Johanna lächelte ihren Kollegen an. Als sie im letzten Jahr frisch von der Uni in die Arbeitswelt gestolpert war, hatte er sie nicht nur in ihre Aufgaben eingearbeitet, sondern ihr auch gezeigt, wie der Hase lief - im Berufsleben im Allgemeinen und in diesem Unternehmen im Besonderen. Ohne ihn hätte sie keine drei Wochen durchgehalten.

Nachdem die Mannschaft den Vormittag über, motiviert durch gelegentliche Späße und einen kleinen Tratsch am Wasserspender, friedlich vor sich hin gearbeitet hatte, hörte Johanna gegen 11:00 Uhr eine ungehaltene Stimme im Empfangsbereich, gefolgt von Nanas hektischen Erklärungsversuchen. Sofort verstummte jede Unterhaltung und alle Augen richteten sich starr auf ihre Bildschirme. Wenig später rauschte Napoleon grußlos durchs Büro und verschwand in seinem Aquarium. Wie jeden Tag trug er ein weißes Hemd, das immer einen Knopf zu weit aufgeknöpft war, und einen Anzug, dessen Hose trotz oder gerade wegen seiner durchtrainierten Figur zu eng saß. Johanna hatte nicht hören können, worüber Hajo sich dieses Mal geärgert hatte, aber eigentlich war es auch egal. Irgendeinen Grund gab es immer.

„Neuer Auftrag! Ich hab‘ gewusst, dass der Alte anbeißt!“ Hajo hatte die Zähne zu einem triumphierenden Grinsen gebleckt, als er wenig später wieder vor seine Mitarbeiter trat. „Schnell wachsendes, mittelständisches Unternehmen, viele neue Leute, viele neue Projekte und jetzt knirscht es an allen Ecken.“

„Mareck!“, warf Paul ein. Er machte nie viele Worte, aber eigentlich war damit auch alles gesagt.

„Genau“, stimmte Johanna ihm mutig zu, „Mareck ist absolut der Richtige, wenn es um Kulturwandel geht. Außerdem hat er die meiste Erfahrung.“

„Ach, Kulturwandel wird überbewertet. Ein paar neue Meetingregeln hier, einige Kennzahlen da und zum Schluss ein teures Firmenevent und die Sache ist erledigt“, sagte Hajo mit einer wegwerfenden Geste. Ja, für Stegmann & Partner war die Sache damit erledigt, überlegte Johanna, wie es für den Kunden aussah, war eine andere Frage. Aber das sollte hier ja niemanden mehr interessieren, sobald die Rechnung beglichen war. „Außerdem fühlt unser Mareck sich im Büro am wohlsten“, wischte Hajo den Vorschlag nun endgültig vom Tisch. „Ihr werdet das irgendwann auch noch merken, dass man in einem gewissen Alter nicht mehr in der ersten Reihe stehen muss.“ Mareck lächelte nur weiter sein unergründliches Lächeln und sagte gar nichts. Dabei war natürlich auch ihm die Scheinheiligkeit, die aus Hajos Worten triefte, nur allzu bewusst. So sehr Johanna ihn auch für seine Gelassenheit bewunderte, konnte sie manchmal nicht verstehen, warum er sich nie zur Wehr setzte. Er hätte schon vor Jahren das Zeug zum Partner gehabt und war Hajo fachlich haushoch überlegen. „Dirk fährt mit zum Kunden“, verkündete Napoleon jetzt und unterbrach damit ihre Überlegungen.

Dem fraglichen Kollegen war die Entscheidung sichtbar unangenehm, aber er nickte nur und bedankte sich sogar. Dirk war kein schlechter Kerl, aber Johanna hatte schnell gelernt, dass seine Loyalität zu Hajo am größten war. Irgendwie konnte sie ihm das noch nicht mal vorwerfen, denn mit drei kleinen Kindern und einem hohen Kredit hing für ihn natürlich viel von diesem Job ab.

„Warum hast du dich eigentlich nie selbstständig gemacht?“, fragte Johanna Mareck leise, als alle zurück an die Arbeit gegangen waren. Er hatte die Lippen so fest aufeinander gepresst, dass sie weiß wurden, was ihr zeigte, dass er sich insgeheim sehr wohl ärgerte.

Trotzdem lächelte er sie jetzt an und antwortete ruhig: „Wozu denn? Ich verdiene doch hier gutes Geld.“

„Aber er schikaniert dich. Er ignoriert deine Ideen. Das kann dich doch nicht glücklich machen.“

„Ach Hanna, es ist doch nur ein Job!“ Damit wandte Mareck sich wieder seinen Auswertungen zu, während Johanna ihm wortlos die wertvolle zweite Hälfte ihres Franzbrötchens hinüberschob.

Um Punkt 13:00 Uhr erschien Nana hinter der Glastür und gab ein unauffälliges Zeichen. Nach und nach erhoben sich daraufhin Paul, Dirk, Mareck, Johanna und Merit, die für die Buchhaltung zuständig war, und verließen das Büro. Mit Brotdosen oder einer Currywurst vom Imbisswagen beladen trafen sie sich wenig später auf ein paar Bänken auf einer nahegelegenen Grünfläche zur Mittagspause wieder. Auch das war zum Ritual geworden. Heute war es schon sommerlich warm, aber ein frischer Wind ließ Johanna kurz erschaudern. Trotzdem blinzelte sie genießerisch in die Sonne, die zwischen zwei Bürotürmen hervorlugte.

„Oh Mann, es tut mir echt leid“, wandte sich Dirk an Mareck. „Aber was soll ich machen?“

„Schon gut“, erwiderte dieser erwartungsgemäß und winkte ab.

Die nächste halbe Stunde verbrachten sie damit, abwechselnd über Napoleon zu schimpfen und sich daran zu erinnern, dass sie sich nicht mit ihm beschäftigen wollten, um daraufhin ihr jeweiliges Privatleben unter die Lupe zu nehmen. Johanna ließ ihren Blick über die Kollegen schweifen und merkte, wie gern sie diese schon nach diesen paar Monaten hatte. Nicht nur Mareck, der heute einer ihrer besten Freunde war, sondern auch die lustige, aufgedrehte Nana, die eigentlich Nathalie hieß. Dirk, der trotz allem einfach dazu gehörte. Merit, die dank ihrer zweijährigen Zwillinge permanent Augenringe hatte und Hajo noch mehr fürchtete als Kopfläuse in der Kita. Und Paul, der zwar fast nie etwas zur Unterhaltung beitrug, aber zumindest für die weiblichen Mitglieder ihrer kleinen Gruppe einen unschätzbaren, optischen Mehrwert hatte.

* * *

„Mach‘ dich nicht lächerlich, Mareck, es würde uns viel zu viel Zeit kosten, die Anforderungen des Kunden zu verstehen. Es gibt Stegmann-Standard und damit hat sich’s.“ Während Hajo am Nachmittag eine weitere Gelegenheit fand, Mareck zu provozieren, was ihm ein weiteres Mal nicht gelang, erschien Merit im Hintergrund und räusperte sich schüchtern.

„Hajo, ich müsste jetzt Feierabend machen. Meine Tochter hat Fieber bekommen und muss abgeholt werden.“

Ohne sich zu ihr umzusehen, fragte der Angeredete eisig: „Bist du dir sicher, dass du deine Prioritäten nicht nochmal überdenken willst?“

„Ja!“, antwortete Merit unter Aufbietung ihres gesamten, nicht sehr ausgeprägten Selbstbewusstseins fest.

„Würde wahrscheinlich eh nichts bringen.“ Napoleon schüttelte den Kopf. „Entweder man hat den Biss oder nicht.“

„Ich kann aber heute Abend noch von zu Hause aus weiterarbeiten, wenn die Kleinen schlafen…“, schlug Merit entschuldigend vor, aber Hajo unterbrach sie:

„Ich bezahle dich doch nicht dafür, dass du dir in Seelenruhe die Fußnägel lackierst! Aber du kannst die Stunden gerne in den nächsten Tagen im Büro nacharbeiten.“

Als Merit sich verabschiedet hatte, schien ein kalter Nebel über dem Büro zu liegen, der Johanna stärker frösteln ließ als der Wind vorhin.

„So, wie machen wir jetzt hier weiter?“, fragte Hajo aber ungerührt und klopfte auf die Projektunterlagen.

„Wir könnten vielleicht die Handlungsempfehlungen des Marienthal-Projekts auf dieses Unternehmen übertragen“, warf Johanna vorsichtig ein. „Das wäre ein sehr ökonomisches Vorgehen.“ Sie warf Mareck einen entschuldigenden Blick zu, der nur die Augen verdrehte.

„Das ist es! Johanna, das sind die Vorschläge, die ich mir von dir erhofft hatte. Ich wusste schon in unserem ersten Gespräch, dass du es drauf hast!“ Hajo wandte sich ihr zu und Johanna kam sich plötzlich unendlich viel wichtiger vor, als wenn sie mit klackernden Absätze durch die große Drehtür schritt. Er blickte sie an, als würde er sie tatsächlich sehen und sich daran erinnern, warum er sie eingestellt hatte. Sie, Johanna Herzog, Master of Arts in Internationalem Management mit der Abschlussnote 1,4, Inhaberin diverser Projektmanagement-Zertifikate, relevante Vorerfahrung durch vier Praktika, Fremdsprachenkenntnisse in Englisch (fließend in Wort und Schrift) und Spanisch (verhandlungssicher). Man sah Hajo an, dass er stolz auf seinen Neuzugang war, und Johanna war sich wieder sicher, dass dieser Job der richtige Schritt gewesen war. „Du erstellst die Abschlusspräsentation des Projekts!“, entschied Hajo und zwinkerte ihr zu. Es hatte einen Grund, dass sie hier war. Weil sie die Beste gewesen war. Weil Stegmann & Partner ihr alle Türen öffnen würde. Schließlich war das hier nur eine Station. Mit einem spitzenmäßigen Arbeitszeugnis in der Tasche könnte sie sich dann irgendwann ihren nächsten Arbeitgeber, irgendein größeres und internationaleres Unternehmen, aussuchen. „Die Unterlagen müssen morgen fertig sein“, fügte Hajo beiläufig hinzu. Auch wenn das eine Nachtschicht bedeutete, nickte Johanna zustimmend.

Sie wusste ja, wofür sie es tat.

Kapitel 3
Freunde

Mach‘ es wie die Sonnenuhr, zähl‘ die heiteren Stunden nur.

Bestimmt acht Mal hatte dieser Spruch in Johannas Poesiealbum gestanden, geschrieben von Grundschulfreunden, die sie heute wahrscheinlich nicht mal mehr auf der Straße erkennen würde. Jetzt fiel er ihr wieder ein, als sie erschöpft die U-Bahn-Haltestelle verließ und die Sonne bereits hinter den Wohnblocks aus Backstein verschwand. Es musste ein herrlicher Augusttag gewesen sein und immer noch waren die Straßen von Hamburg-Hamm erfüllt von einer schweren, süßen Sommerluft. Es war angenehm warm und Johanna streifte schnell die Strickjacke ab, die sie den ganzen Tag zum Schutz vor der garstigen Klimaanlage im Büro getragen hatte. Wie gerne hätte sie heute früher Feierabend gemacht und wäre mit Linea in den Park gefahren, aber ihre Projekte nahmen natürlich keine Rücksicht auf das Wetter. Sie seufzte. Aber immerhin war es jetzt immer noch schön und der ganze Abend lag schließlich noch vor ihr. Sie bog um eine Ecke, sodass die tiefstehende Sonne sie blendete. Vielleicht zählte das ja sogar doppelt…

Johanna mochte den Stadtteil, in den sie während des Studiums gezogen war. Dabei war Hamm keinesfalls besonders schick oder irgendwie anders bemerkenswert. Manche bezeichneten die Gegend sogar als zwielichtig. Es gab weder nennenswerte Shopping-Möglichkeiten noch eine große Auswahl an Restaurants und Bars, aber sie hatte nach ihrem Einzug schnell ein kleines Café entdeckt, in dem sie und ihre Mitbewohnerin Linea inzwischen Stammgäste waren. Außerdem war die U-Bahn-Anbindung gut und idyllische Kanäle nicht weit. Den Ausschlag hatte damals aber trotzdem ihr Budget gegeben, denn dieses war bei Studenten naturgemäß schmal und die Hamburger Mietpreise wurden garantiert vom Teufel persönlich gemacht.

„Hallo? Linea, bist du da?“, rief Johanna in den engen Flur, während sie die Wohnungstür mit einem sanften Tritt hinter sich schloss. Dass Linea ihren Vornamen auch nicht leiden konnte, tröstete sie etwas über ihren eigenen hinweg. Linea - das klang aber auch wirklich nach einer Marke für billige Damenbinden.

„Hier!“ Johanna folgte der Stimme ihrer besten Freundin in die Küche. Diese war barfuß, trug kurze Shorts und hatte ihre Sonnenbrille lässig in ihren fransigen Kurzhaarschnitt drapiert. Die Farben ihres bunten Tops fanden sich in den Obstresten wieder, die in der gesamten Küche verteilt waren. „Ich hab‘ Obstsalat gemacht“, strahlte Linea sie an und hielt ihr zwei Schälchen entgegen.

„Toll!“, entgegnete Johanna und freute sich trotz des Chaos, das sie nachher beseitigen würde. Sie konnte Linea so gut wie nie böse ein. „Bist du schon lange zu Hause?“

„Ja, schon eine Weile. Ich hatte nur vier Stunden.“ Linea ließ schwungvoll je eine Kugel Vanilleeis in die Schälchen gleiten, während Johanna sich fragte, warum sie nicht auch Lehramt studiert hatte. Dann wäre sie jetzt schließlich auch im Referendariat, hätte heute nur vier Stunden gehabt und hätte sich vor allem nicht von Hajo als „neunmalkluge Berufsanfängerin“ den Mund verbieten lassen müssen. Sie folgte Linea auf den kleinen Balkon und streckte sich zwischen Tomatenpflanzen und Wäscheleine auf einer der beiden Liegestühle aus.

„Ich bin sowas von fertig“, stöhnte sie.

„Dann machen wir es uns heute Abend so richtig gemütlich“, bestimmte Linea. „Wir bestellen Pizza, trinken Rotwein dazu und tun so, als wäre unser Balkon in Neapel.“

„Oh ja!“ Das war genau das, was Johanna nach diesem Tag brauchte. Im gleichen Augenblick vibrierte aber ihr Handy und sie griff mit spitzen Fingern danach, als würde es sich um eine ekelerregende Raupe handeln. „Von Moritz“, erklärte Johanna Linea. „Er fragt, ob ich heute noch zu ihm komme…“

„Sag‘ ihm ab!“, meinte die Freundin sofort. „Oder er soll ausnahmsweise mal hierher kommen.“ Leider stieß keiner der Vorschläge bei Moritz auf Gegenliebe, stattdessen empfing Johannas Handy eine weitere Nachricht: „Bitte, Hanni-Bunny! Miss you!!! Du kannst mich doch nicht alleine lassen. Ich hab‘ extra für dich gekocht“ Es folgte eine Reihe blinkender Herzchen.

„Na gut“, murmelte Johanna gequält, hin und her gerissen zwischen ihrer Freude, dass er für sie gekocht hatte, und ihrem Ärger, dass er vorher noch nicht mal gefragt hatte, ob sie überhaupt Zeit hatte. „Morgen Pizza in Neapel?“, fragte sie an Linea gerichtet.

„Morgen regnet es bestimmt“, grummelte diese. „Warum muss dieser Kerl sich eigentlich immer durchsetzen?“

„Er will sich nicht durchsetzen, er liebt mich einfach“, verteidigte Johanna ihren Freund, während sie sich unwillig erhob, um sich etwas anderes anzuziehen.

„Muss Liebe schön sein“, rief Linea ihr hinterher und Johanna konnte förmlich sehen, wie sie die Augen verdrehte.

* * *

„Hanni-Bunny!“ Moritz lehnte lässig im Türrahmen und strahlte ihr entgegen. Das sanfte Gegenlicht betonte seine durchtrainierte Silhouette und seine blonde Surfer-Frisur fiel ihm wie zufällig in die Stirn, was aber tatsächlich das Ergebnis von viel Stylinggel und langen Minuten vor dem Spiegel war. Johanna fiel wieder einmal auf, wie ungemein attraktiv er war, und war beinahe ein bisschen stolz darauf, dass er gerade ihr Freund war. „Schön, dass du da bist!“, sagte er, während er sie in seine Arme zog.

„Sorry, dass ich erst jetzt komme!“ Johanna hatte nicht vorgehabt, sich zu entschuldigen, und wusste eigentlich auch gar nicht wofür, aber als sie sich an seinen inzwischen so vertrauten Körper schmiegte, fühlte sich das plötzlich richtig an. Sobald sie ihn sah, meldete eine eindringliche Stimme in ihrem Inneren (aber definitiv nicht in ihrem Kopf), wie sehr sie ihn liebte.

„Es gibt Spaghetti Carbonara“, verkündete Moritz und zog sie in die Wohnung. „Ich hab‘ sogar schon angefangen.“ Er deutete Richtung Küche, die genau wie die übrigen Zimmer erstaunlich geräumig dafür war, dass Moritz noch studierte. Die Wohnung verschlang einen Löwenanteil der großzügigen Gaben seiner Eltern, mit dem Rest unterstützte er ebenso großzügig die lokalen Bars und Fitnessclubs, was höchstwahrscheinlich einer der Gründe dafür war, dass er noch kein bedeutender Anwalt war.

Auf der Arbeitsplatte lag eine Packung Spaghetti neben zwei Eiern. Eine Reibe war ebenfalls bereitgelegt und wartete geduldig auf den Zauberspruch, mit dessen Hilfe sie den Parmesanblock selbsttätig zu perfekten Spänen verarbeiten würde. Johanna - was blieb ihr auch anderes übrig? - seufzte.

„Nicht schmollen, Schnuffi!“ Moritz sah mit seinen braunen Welpenaugen so putzig aus, dass Johanna fast gegen ihren Willen lachen musste.

„Gut, dann kochen wir eben zusammen“, grummelte sie. „Du kannst ja schon mal den Tisch decken.“

Als Johanna wenig später mit einer großen Schüssel Spaghetti Carbonara (die sich freundlicherweise nicht in Rührei mit Nudeln verwandelt hatten) ins Wohnzimmer kam, hatte Moritz den Tisch vor die geöffnete Balkontür geschoben und eine Kerze daraufgestellt. Ein lauer Windhauch bewegte sanft die Flamme, die Pasta duftete und Johanna freute sich, dass sie jetzt doch noch zu ihrem italienischen Abend kam.

„Hast du vielleicht auch ein Glas Wein für mich?“, fragte sie Moritz, der ihr gerade eine Flasche Bier hinhielt. „Das würde gerade super zum Essen passen."

„Ne, lass‘ mal, Hanni. Es lohnt nicht, für dich jetzt extra eine Flasche aufzumachen“, meinte er und Johanna nickte.

„Hast du eigentlich noch was zum Umziehen dabei?“, fragte Moritz beim Essen beiläufig.

„Nein, zum Übernachten hab‘ ich doch alles hier.“

„Aber willst du wirklich so zur Party gehen? Die anderen werden…“

„Welche Party?“, platzte es aus Johanna heraus.

„Na, bei Jan. Hab‘ ich das nicht erzählt? Nur eine kleine Houseparty. Nur ein paar Leute.“ Nein, das hatte er zufällig nicht erwähnt…

„Mo, bitte, heute nicht. Ich möchte ehrlich nur noch aufs Sofa!“

„Schnuffi, das geht nicht. Das sind doch unsere Freunde und sie rechnen mit uns. Wir müssen da hin!“ Moritz schaute sie verständnislos an und Johanna bekam sofort ein schlechtes Gewissen.

„Ok… Aber lass‘ uns bitte nicht so lange bleiben, sonst übersteh‘ ich den Rest der Woche nicht“, lenkte sie ein.

„Deal!“ Moritz strahlte. „Nur eine Stunde, versprochen!“

* * *

In Jans Wohnung, die noch großzügiger war als die von Moritz, war es schwül und stickig. Im Halbdunkel sah Johanna Leute in Grüppchen zusammenstehen, durch die Luft waberte laute Musik. Sie mochte den Song. Kaum waren sie angekommen, verschwand Moritz mit einigen Kumpels und ward nicht mehr gesehen. Unschlüssig stand Johanna eine Weile herum und hatte das Gefühl, abschätzig beäugt zu werden. Aber wahrscheinlich war das nur Einbildung, denn ihr Outfit unterschied sich kaum von dem der anderen und auch ihr Make-Up hatte sie notdürftig aufgefrischt. Dann holte sie sich eine Cola light und gesellte sich zu einer Gruppe Mädchen, die sie flüchtig kannte. Die Unterhaltung schien sich um einige Typen zu drehen, die Johanna absolut nicht kannte.

Nachdem sie einige Minuten schweigend zugehört und dabei möglichst teilnahmsvoll genickt hatte, entschied sie, dass es wohl nicht sehr unhöflich wäre, wieder zu gehen. Also murmelte sie eine Entschuldigung, die wahrscheinlich in der Musik unterging, und machte sich auf die Suche nach Moritz. Sie fand ihn glücklicherweise auf der Dachterrasse, auf der es angenehm frisch war und man einen fantastischen Blick über die Nachbarschaft hatte. Er stand mit einigen Kommilitonen zusammen, die Moritz‘ Freundin freundlich grüßten. Es ging um vertrackte Fälle, die sie im Jurastudium behandelt hatten. An Moritz gelehnt hörte sie interessiert zu und wurde dabei angenehm schläfrig.

„Mo, wollen wir bald los?“, fragte sie leise, als sie irgendwann kaum mehr die Augen offen halten konnte. Er hatte gerade seine Bierflasche geleert, sodass es ihr ein passender Moment zu sein schien.

„Was? Wir sind doch gerade erst gekommen!“

„Nein, eigentlich nicht. Und außerdem hatten wir doch abgemacht, dass wir nur ein Stündchen bleiben.“

Moritz wandte sich peinlich berührt an seine Kumpel: „Hanni-Bunny ist nach der Arbeit immer schrecklich müde.“ Er tätschelte ihr die Schulter. „Sie arbeitet ja im Büro.“

„Ich bin Projektmanagerin in einer Unternehmensberatung“, warf Johanna ein.

„Tja, so ein Nine-to-Five-Job ist bestimmt was ganz anderes, als Tag und Nacht zu büffeln“, grinste Kilian und die Jungs brüllten vor Lachen. Johanna wurde so wütend, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen.

„Lass‘ uns bitte gehen“, bat sie noch einmal, sah dann aber, dass auch ihr Freund sich köstlich amüsierte. Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und verließ möglichst würdevoll die Wohnung.

Auf der Straße holte Moritz sie ein: „Warte! Schnuffi, du kannst doch nicht einfach so abhauen!“

„Doch, ich gehe nämlich nach Hause! Wie wir es besprochen hatten, erinnerst du dich?“

„Jetzt sei doch nicht so! Sei doch einmal spontan!“

„Wieso? Damit ihr weiter über mich lachen könnt?“, fuhr Johanna ihn an.

„Was? Nein! Das hast du falsch verstanden. Kilian macht doch nur Spaß, du kennst ihn doch!“, verteidigte Moritz sich. Eigentlich kannte sie ihn überhaupt nicht, sagte eine eindringliche Stimme in Johannas Kopf, die sie aber vorsichtshalber ignorierte. Überhaupt kannte sie eigentlich niemanden dieser Leute richtig, die angeblich ihre Freunde waren. Aber sie war erschöpft und sie wollte Moritz gerne glauben. Und als er sie dann wieder mit dem Welpenblick ansah und bat: „Komm‘, sei nicht sauer!“, nickte sie.

In Moritz Wohnung fiel Johanna nach einem kurzen Abstecher ins Badezimmer sofort ins Bett. Inzwischen war es nach Mitternacht und ihr Wecker würde in gut fünf Stunden klingeln. Sie hatte sich schon in ihre Decke gerollt, als Moritz‘ Hand unternehmungslustig an ihrem Oberschenkel hinaufwanderte. Sie küsste ihn, schob ihn aber sanft weg. „Heute nicht…“

„Aber wir sind doch schon wegen dir früher von der Party weg“, meinte er ungehalten und sofort meldete sich Johannas schlechtes Gewissen wieder. Na gut…

Sie hatte bestimmt nur drei Stunden geschlafen, als sie noch vor dem Weckerklingeln aufwachte. Im Zimmer war es noch dunkel, aber durch die Vorhänge fiel fahles Morgenlicht vermischt mit dem niemals erlöschenden Flackern der Großstadt. Johanna warf einen vorsichtigen Blick auf Moritz, der tief und fest schlief. Leise glitt sie aus dem Bett und schlüpfte aus dem Zimmer. Barfuß trat sie auf den Balkon, der auf eine dicht zugeparkte Nebenstraße hinabsah. Keine Menschenseele war hier unterwegs, aber das unermüdliche Rauschen der nahen Schnellstraße verstummte auch zu dieser frühen Stunde nicht. Die Steinfliesen waren kalt und Johanna fröstelte. Gleichzeitig fühlte sie sich seltsam schäbig. Sie schob den Gedanken beiseite und versuchte sich stattdessen an den Traum zu erinnern, den sie eben noch gehabt hatte.

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