Kitabı oku: «Rapsblütenherz», sayfa 4

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Kapitel 6
Krokusse

Kleine Pfützen. Reste von Streusand. Ein bisschen Schlamm mit einem aufgeweichten Papiertaschentuch.

Den Blick starr auf den Bürgersteig gerichtet eilte Johanna Richtung Büro. Das bewahrte sie davor, mit den hochhackigen Stiefeletten zu stolpern und den Karamell-Macchiato auf dem neuen, korallfarbenen Mantel zu verteilen. Außerdem war die Beschaffenheit des Fußwegs ein guter Indikator für das Wetter in der Großstadt. Letzte Woche war sie noch über hartnäckiges Glatteis geschlittert, jetzt lagen die Temperaturen aber schon seit einigen Tagen über dem Gefrierpunkt. Johanna wich einem Fahrradkurier aus, um einem tragischen Unfall im Straßenverkehr zu entgehen, und landete dabei in der schmutzigen Erde, die man wohl Grünstreifen nennen sollte. Sie fluchte leise, während sie sich bückte, um sich den Matsch von den Schuhen zu wischen.

Da sah sie ihn. Zwischen zwei Gehwegplatten hatte sich ein einzelner Krokus ans Tageslicht geschoben. Es war nur ein Krokus. Ein ganz gewöhnlicher Krokus. Aber Johanna hatte ihn gesehen. Nein, sie hatte ihn nicht nur gesehen, sie hatte ihn wahrgenommen. Hatte die schmalen grünen Blätter, noch nass vom letzten Regen, die Blüte in sattem Violett und das leuchtend gelbe Innere mit den Augen aufgesogen. Wann war ihr das zum letzten Mal passiert?

Natürlich gab es in Hamburg nicht nur diesen einen Krokus. Tatsächlich war die Stadt sogar erstaunlich grün und Johanna hatte bestimmt schon Jahre ihres Lebens in Parks und am Elbstrand verbracht. Im Laufe der letzten Monate musste sie das aber vergessen haben. Die Sonne kroch jetzt langsam über die Häuser und Johanna fühlte sich plötzlich wieder ein kleines bisschen lebendiger. Mit einem Mal war jede Straße voller Krokusse und in jedem Baum zwitscherten Vögel.

„Guten Morgen!“ Beschwingt betrat sie wenig später das Büro und überließ Nana, ohne mit der Wimper zu zucken, ihr ganzes Franzbrötchen. Es störte sie noch nicht einmal, dass ihre Tasche vom Schreibtisch glitt und sich der gesamte Inhalt auf den Boden ergoss. Sorgfältig verstaute sie Lippenstift, Handy, Haarbürste, Taschentücher, Portemonnaie und den übrigen undefinierbaren Kleinkram wieder. Als sie zu ihrem treuen Begleiter, dem Notizbuch, griff, zog sie spontan die Visitenkarte heraus, die Evi ihr beim Springderby gegeben hatte. Johanna hatte die letzten zehn Monate gewusst, dass sie dort war, hatte sie aber nie angesehen. Warum auch?

Lewat-Hof

Inh. Evelyn und Justus Matthey

Kirchweg 7

21483 Augraben

info@lewat-hof.de

Evelyn… Für Johanna wollte das nicht so recht zu der Frau passen, die sie so unverhofft kennen gelernt hatte. Aber was wusste sie schon? Sie hatten sich schließlich nur kurz getroffen. Sie las die Adresse noch einmal. Anhand der Postleitzahl erkannte sie, dass der Lewat-Hof nicht weit entfernt sein konnte, auch wenn ihr der Ort nichts sagte. Da es für eingefleischte Hamburger aber auch nur Hamburg, lange Zeit nichts und dann den Rest der Welt gab, war das nicht weiter verwunderlich. Auf jeden Fall klang Augraben sympathisch. Unwillkürlich musste sie an das Auenland mit seinen grünen Hügeln denken. Oder war es die Wiese aus ihrem Traum? Lächelnd schob sie die Visitenkarte wieder in ihr Notizbuch.

* * *

Ihre Hochstimmung hielt immer noch an, als sie sich nach Feierabend für ein Treffen mit Moritz‘ Familie fertig machte (obwohl das in der Vergangenheit selten ein Grund zu ungetrübter Freude gewesen war). Passend zum inneren sowie äußeren Frühlingsausbruch wählte sie zum ersten Mal in diesem Jahr wieder ihr Lieblingskleid in strahlendem Royalblau und freute sich, dass es viel lockerer saß als noch im letzten Herbst. Natürlich war der Kontrast zu dem korallfarbenen Mantel, den sie Moritz natürlich auch vorführen wollte, ziemlich heftig. Aber da beide Kleidungsstücke schlicht geschnitten waren, wirkte das Ensemble zusammen mit einer schwarzen Strumpfhose und den hohen, schwarzen Stiefeletten richtig edel und modern. Johanna war mit ihrem Erscheinungsbild mehr als zufrieden, als sie wenig später aus dem Haus trat. Moritz lehnte bereits an seinem Auto und spielte mit seinem Smartphone. „Na endlich!“, begrüßte er sie. „Beeil‘ dich, sonst kommen wir noch zu spät.“

„Ich freu‘ mich auch dich zu sehen“, entgegnete Johanna und verdrehte die Augen. Das Risiko, zu spät zu kommen, lag nämlich eher darin begründet, dass Moritz darauf bestanden hatte, mit dem Auto zu fahren. Sie würden garantiert ewig im Verkehr feststecken, denn sie mussten einmal quer durch die Stadt. Johanna hatte deswegen ihren guten Freund den öffentlichen Nahverkehr vorgeschlagen, aber Moritz hatte nichts davon wissen wollen.

„Ist der neu?“ Moritz deutete mit dem Kinn auf ihren Mantel und Johanna freute sich, dass es ihm aufgefallen war.

„Ja!“ Sie machte eine Drehung auf dem Bürgersteig, sodass sich ihr Kleid zu einem Teller auffächerte. „Gefällt’s dir?“

„Erinnert mich mit dem Kleid irgendwie an einen Nymphensittich“, erwiderte Moritz. Johanna wollte seinen gequälten Blick nicht bemerken und lachte, als wäre die Bemerkung ein Scherz gewesen.

„Hast du schon mal einen blauen Nymphensittich gesehen?“, fragte sie ungewohnt frech und fügte hinzu: „Außerdem ist das modern…Color Blocking! Fahren wir?“ Im Auto lehnte sie sich entspannt zurück, während Moritz erwartungsgemäß schon an der zweiten Kreuzung mit hektischem Blick zur Uhr zu fluchen begann. Im Gegensatz zu ihm hatte sie es nicht sonderlich eilig anzukommen.

Als sie - natürlich mit einer deutlichen Verspätung - auf der kiesbestreuten Einfahrt vor Moritz‘ Elternhaus hielten, unterdrückte sie ein Seufzen. Es war nicht so, dass sie die Eltern ihres Freundes nicht mochte. Auch seine ältere Schwester und ihr Mann waren durchaus nett. Johanna fehlte aber bei jedem Besuch die Vertrautheit und Herzlichkeit, die für sie das Zusammensein mit der Familie ausmachten. Bei den Ulrichs hatte es bestimmt noch nie einen verschlafenen Sohn mit ungekämmten Haaren beim Frühstück gegeben…

Moritz öffnete die Haustür mit seinem Schlüssel und sie traten in einen großzügigen Vorflur, den man fast schon als Eingangshalle bezeichnen konnte. Er hielt Johanna an der Schulter zurück und wies zur Garderobe hinüber. „Lass‘ den Mantel doch lieber gleich hier!“ Sie kannte ihren Freund gut genug, um das übersetzen zu können: Ich möchte nicht, dass meine Eltern dich in dieser Aufmachung sehen! Am liebsten wäre Johanna sofort wieder gegangen, über den knirschenden Kies, zur nächsten Bushaltestelle und von dort aus auf direktem Weg nach Hause unter die Bettdecke. Aber das war natürlich keine Option. Also nickte sie und hängte den Stein des Anstoßes wortlos auf einen Bügel. Auf dem Weg ins Esszimmer (das Moritz‘ Mutter nur „Salon“ nannte) war sie sich dann auch gar nicht mehr so sicher, ob ihr Outfit nicht doch ein wenig zu gewagt gewesen war.

„Da seid ihr ja!“ Edith Ulrich begrüßte ihren Sohn und Johanna mit mehreren Wangenküsschen. „Das Essen ist schon fertig, deswegen setzen wir uns lieber gleich. Wir hatten euch früher erwartet!“

„Sorry, Mum, aber Hanni ist im Büro nicht fertig geworden, deswegen sind wir nicht rechtzeitig losgekommen“, erklärte Moritz ohne zu zögern und schien gar nicht zu merken, dass Johanna ihn ungläubig anstarrte.

„Ach je, hast du viel zu tun, Schätzchen?“, erkundigte sich Edith, während sie am großen Esstisch Platz nahmen, der so aufwendig gedeckt war wie in einem Sternerestaurant.

„Ja, ich bin kurz davor, ein wichtiges Projekt abzuschließen“, antwortete Johanna etwas lahm. Sie wollte Moritz nicht auflaufen lassen, also blieb ihr nichts anderes übrig als sein Spiel auf ihre Kosten mitzuspielen.

„Wenn es zum Ende hin hektisch wird, liegt es immer am Projektplan“, warf Dr. Norbert Ulrich ein, der gerade mit einer Weinflasche hereinkam. Moritz‘ Vater war zwar Zahnarzt, was ihn aber nicht davon abhielt, zu allem und jedem eine Meinung zu haben.

„Mit Terminen hast du es ja wirklich nicht so.“ Moritz lachte und seine Familie stimmte ein. Wie kam er darauf? Als Johanna stumm blieb, fügte er immer noch lachend hinzu: „Jetzt komm‘ schon, Hanni-Bunny, steh‘ doch einfach dazu!“ Während Charlotte, seine Schwester, irgendetwas von Schwächen erzählte, die ja jeder hatte, um die Situation halbwegs zu retten, entschuldigte Johanna sich und floh auf die Toilette.

Sie schaffte es mit größter Mühe, die Tränen zurückzuhalten, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. Noch nie hatte sie sich so gedemütigt gefühlt! Ach, doch, beim letzten Familientreffen der Ulrichs. Und dem davor. Und in Gegenwart von Hajo. Das konnte doch nicht richtig sein! Sie setzte sich auf den Klodeckel und fing an, in ihrer Handtasche zu kramen. Zuerst wollte sie ihre Mutter anrufen, dann doch lieber Linea. Anstelle ihres Handys fand sie aber ihr Notizbuch. Einer plötzlichen Eingebung folgend holte sie Evis Visitenkarte wieder hervor. Unschlüssig drehte sie sie in den Händen und las immer wieder die wenigen Worte. Dann nahm sie doch das Smartphone zur Hand, öffnete ihr E-Mail-Postfach und tippte - nur so zum Spaß natürlich - eine Mailadresse ein: info@lewat-hof.de. Das war gar nicht schwer gewesen, warum also nicht weitermachen? Sie musste - und wollte - die Nachricht ja nicht abschicken.

Betreff: Springderby / Rote Schleife im Sand

Liebe Evi,

Johanna stutzte und löschte das Geschriebene wieder. Sie hatte die Inhaberin des Lewat-Hofs zwar als Evi kennengelernt, jetzt kam es ihr aber unpassend vertraulich vor, da sie sich ja wie gesagt kaum kannten. Sollte sie deswegen diese Mail nicht auch besser gar nicht schreiben? Für ein paar Sekunden schwebten ihre Finger unschlüssig über dem Display, dann tippte sie weiter:

Guten Tag Evelyn,

wie du dich ggf. erinnerst, haben wir uns im letzten Jahr beim Springderby in Klein-Flottbek zufällig kennen gelernt.

Du hattest mir im Laufe unseres Gesprächs angeboten, dich mal auf deinem Hof zu besuchen, und mir deine Karte gegeben.

Deswegen jetzt meine Frage: Gilt das Angebot noch und wenn ja, wie lange könnte ich bleiben?

Viele Grüße (auch an Carrie),

Janna Herzog

Der Name hatte sich wie von selber getippt und fühlte sich gleichzeitig erneut aufregend fremd an. Die Nachricht war viel direkter und undiplomatischer als Johanna es von sich kannte, was vielleicht daran liegen mochte, dass sie beim Schreiben kaum nachgedacht hatte. Die Worte flossen einfach so aus ihr heraus und das fühlte sich verdammt gut an. Wie es wohl wäre, wenn sie doch auf „Senden“ drücken würde? Wahrscheinlich würde sie sowieso nie eine Antwort erhalten. Und sie musste Evelyn Matthey auch nie wiedersehen… Also warum nicht? Was hatte sie schon zu verlieren? Sie holte einmal tief Luft wie vor einem Sprung vom Drei-Meter-Brett, dann tippte sie mit dem Daumen ganz sacht auf den unschuldigen blauen Button. „Nachricht gesendet“ erschien auf dem Display. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

Johanna merkte, dass sie die ganze Zeit die Luft angehalten hatte, und atmete mit einem Seufzen aus. Es war ganz leicht gewesen! Und seltsamerweise fühlte sie sich auch selbst mit einem Mal viel leichter. Es war, als hätte sich eine verborgene Tür aufgetan, ein Ausweg. Natürlich würde sie niemals durch diese Tür gehen, aber allein das Gefühl, dass es sie gab, war eine ungeheure Erleichterung. Ob sich der violette Krokus auch so gefühlt hatte, als er zwischen den schweren Gehwegplatten zum ersten Mal den Himmel gesehen hatte? Konnten Krokusse überhaupt sehen? Johanna lachte bei diesem überspannten Gedanken einmal laut auf.

„Ist dir schlecht geworden?“, hörte sie Edith auf der anderen Seite der Tür irritiert fragen.

„Nein, alles gut!“, antwortete Johanna, die immer noch mit der Visitenkarte eines Reiterhofes in der Hand auf dem unglaublich schicken Klodeckel in diesem unglaublich schicken Badezimmer saß, und fing hysterisch an zu lachen.

Kapitel 7
Ausstieg links

Nach „dem Vorfall“, wie Moritz‘ Mutter Johannas Entgleisung diskret nannte, hatte Moritz sie noch vor dem Aperitif nach Hause gefahren. Erschöpfung… schlimme Migräne… PMS… Da konnte es schon mal passieren, dass man nicht mehr ganz bei sich war. Wenigstens Linea hatte auf Grund von Johannas Schilderung der Ereignisse noch einen wirklich heiteren Abend erlebt.

Seitdem waren zwei Wochen vergangen. In der Stadt war immer noch Frühling und Moritz war immer noch sauer. Wobei das nicht ganz stimmte: Moritz war nicht sauer, das war er nie. Trotzdem ließ er Johanna spüren, dass er ihr Verhalten absolut missbilligte. Ihr tat es auch wirklich leid, dass sie ihn vor seiner Familie bis auf die Knochen blamiert hatte (seine Formulierung!), sie sah es aber trotzdem nicht ein, sich zu entschuldigen. Schließlich hatte er sie zuerst im Stich gelassen! Entsprechend frostig war die Stimmung zwischen ihnen. Einerseits entlastete das Johannas Terminplan deutlich, anderseits litt der Harmoniemensch in ihr sehr unter der Unstimmigkeit. Vielleicht sollte sie doch einlenken… Kurzentschlossen drehte sie auf dem Bahnsteig so abrupt um, dass sie bei den übrigen Bahnreisenden eine Massenkarambolage verursachte, und fuhr mit der nächsten S-Bahn zu ihrem Freund.

Es war gerade erst Viertel nach sieben als Johanna bei Moritz ankam, eine Uhrzeit zu der er garantiert noch schlief. Trotzdem klingelte sie so lange, bis ein zerzauster Blondschopf im Türspalt erschien. „Mo, ich muss mit dir reden!“

„Jetzt? Weißt du, wie spät es ist?“

„Ja und ich weiß auch, dass ich dich geweckt habe und dass ich wahrscheinlich auch zu spät zur Arbeit komme, aber es ist wichtig.“ Sie sah ihn bittend an. „Ich will, dass wieder alles normal ist zwischen uns!“

„An mir hat es nicht gelegen“, brummelte Moritz.

„Nein…doch…ich weiß nicht. Es tut mir leid, dass ich uns den Abend verdorben habe, aber ich kam mit so blöd vor“, versuchte Johanna zu erklären.

„Was?“ Moritz sah sie an, als hätte sein verschlafenes Hirn ernsthafte Schwierigkeiten ihre Worte zu erfassen. „Ich geh‘ erstmal kurz aufs Klo“, fügte er hinzu, als ihm das wohl auch aufgefallen war. Johanna mochte ihn in diesem Moment nicht bitten, sich zu beeilen, weil sie ja schließlich zur Arbeit musste, und nickte nur.

„Weiß du, ihr habt alle über mich gelacht“, begann sie erneut, als ihr einige lange Minuten später ein wacherer Moritz gegenüberstand.

„Nein, das hast du falsch verstanden. Wir haben doch nur mit dir gelacht.“

„Aber…“ Johanna stutzte. „Ich hab‘ doch gar nicht gelacht. Ich…“

„Dann war das ein Missverständnis!“, unterbrach Moritz sie schnell. Sein Hundeblick wirkte ehrlich betroffen. „Vielleicht bist du ein bisschen überempfindlich, Schnuffi. Ich liebe dich doch!“ Er wollte sie küssen, aber Johanna zögerte.

„Versprich‘ mir, dass du nicht mehr vor deiner Familie über mich lachst. Oder vor deinen Freunden!“ In ihrer Vorstellung war das eine selbstbewusste Forderung gewesen, in der Realität klang ihre Stimme aber ziemlich jämmerlich.

„Ich versprech‘ dir, was du willst!“ Moritz nahm sie jetzt in die Arme und Johanna war unendlich froh, die Sache geklärt zu haben.

„Ich liebe dich auch“, murmelte sie und machte sich unwillig von ihn los.

„Was ist?“, fragte er irritiert.

„Ich muss doch zur Arbeit!“ Sie gab ihm noch einen Kuss.

„Es wäre alles einfacher, wenn du mehr Zeit für uns hättest“, schmollte Moritz.

„Heute Abend sehen wir uns, versprochen!“ Damit eilte sie winkend die Treppe hinunter.

* * *

Johanna hoffte inständig, dass Napoleon auch heute nicht vor 11:00 Uhr im Büro erscheinen würde, aber leider erfüllen sich Hoffnungen ja nur selten. Als sie völlig außer Atem ins Büro stürmte, machte Nana ihr bereits aufgeregt Zeichen und Johanna sah, dass ihr Chef alle Mitarbeiter um sich versammelt hatte. Hatte sie jetzt auch noch ein Meeting vergessen? Möglichst lautlos schlüpfte sie durch die Glastür. Auch wenn natürlich einige der anderen ihr Kommen bemerkt hatten, sagte niemand etwas. Der Ehrenkodex unter Kollegen galt. Naja, niemand außer Dirk, der sie mit einem fröhlichen „Guten Morgen, Hanna!“ begrüßte, woraufhin sich alle Augen einschließlich der von Hajo auf sie richteten. Sie stöhnte innerlich. Dirk hatte das bestimmt nicht absichtlich gemacht, er war einfach nur ungeschickt, aber trotzdem…

„Guten Morgen, Johanna!“, sagte jetzt auch Hajo und strahlte sie an. „Schön, dass du jetzt auch da bist!“ Warum hatte er so gute Laune? Das konnte nichts Gutes bedeuten!

„Hallo! Tut mir leid, dass ich zu spät bin“, erwiderte Johanna vorsichtig.

„Kein Problem, wir haben ja Vertrauensarbeitszeit.“ Hajo machte eine wegwerfende Geste. Ein Raunen ging durch die Belegschaft, denn normalerweise bedeutete Vertrauensarbeitszeit bei Stegmann & Partner nur, dass Hajo darauf vertrauen konnte, dass seine Mitarbeiter zur Verfügung standen, wann immer er sie brauchte. „Außerdem habe ich die Besprechung ganz kurzfristig angesetzt“, ergänzte er und fuhr mit seinen Ausführungen fort, ohne ihr weiter Beachtung zu schenken. Johanna konnte ihr Glück kaum fassen! Wie so häufig hatte sie das Gefühl, dass in Hajo doch ein guter Kern steckte, dass es ihm nur eben meist schwer fiel, das zu zeigen.

Es ging auf die Mittagspause zu, die sie heute zum ersten Mal in diesem Jahr wieder draußen auf ihren Bänken verbringen wollten, und Johanna entspannte sich langsam. Moritz liebte sie und Hajo hatte ihr nicht den Kopf abgerissen, wenn das kein erfolgreicher Tag war!

„Johanna?“ Wie aufs Stichwort öffnete sich die Tür des Glaskastens und Hajo kam auf sie zu. „Ich brauche noch ein paar Auswertungen zum Projekt Svensson.“ Er schob einen Schmierzettel mit seinen Notizen auf ihren Schreibtisch.

„Bis wann brauchst du das?“, fragte sie, denn obwohl seine Schrift wie immer kaum lesbar war, konnte sie den drohenden Arbeitsaufwand bereits absehen.

„Ach, lass‘ dir Zeit. Bis morgen reicht es!“

„Bis morgen? Hajo, das schaffe ich nicht. Ich muss ja auch noch die Präsentation für dich überarbeiten.“ Johanna ärgerte sich, dass sie so unsouverän reagiert hatte, aber sie merkte, dass Panik in ihr aufstieg. Wie sollte sie das alles hinbekommen? Moritz konnte sie gerade heute unmöglich absagen!

„Wenn ich mich recht erinnere, warst du ja heute Morgen etwas später hier, da sollte ja nach hinten raus noch etwas Puffer sein“, meinte Napoleon mit einem Lächeln, das keinen Widerspruch zuließ. „Oder meinst du wirklich, dass du nicht in der Lage bist, deine Arbeit zu schaffen?“

„Doch, natürlich. Morgen früh hast du die Auswertungen und die Präsentation vorliegen.“ Johanna starrte hilflos auf ihren Bildschirm, während Hajo ohne ein weiteres Wort wieder in sein Aquarium eintauchte und die Tür hinter sich schloss.

„Ach, Hanna, warum lässt du dir das gefallen?“ Marecks leise Stimme ließ sie aufblicken. Ihr Kollege sah sie von der anderen Schreibtischseite aus besorgt an.

„Was soll ich denn machen?“, flüsterte Johanna tonlos. „Es hat doch sowieso keinen Sinn.“ Ohne es zu wollen, war sie den Tränen nah.

„So darfst du nicht denken! Du hast es doch gar nicht nötig, dich von ihm so behandeln zu lassen!“ Er warf dem Glaskasten einen bösen Blick zu.

„Aber was soll ich machen?“, wiederholte Johanna so laut, dass es bestimmt das halbe Büro hören konnte. Die Tränen liefen ihre Wangen herunter, aber sie konnte nichts dagegen tut, denn inzwischen weinte sie vor Wut.

„Du kannst einfach gehen“, sagte Mareck schlicht. In seiner Stimme lag so viel Verständnis und Mitgefühl, dass es sie nur noch rasender machte.

„Einfach gehen?“, fauchte sie ihn an. „Das sagt der Richtige! Wer lässt sich denn hier schon Jahre lang schikanieren?“

„Das ist etwas anderes.“ Seine Standardantwort.

„Unsinn! Du würdest noch überall einen neuen Job finden. Oder du machst dich endlich selbstständig.“ Johanna war es egal, dass mitterweise alle Anwesenden (mit Ausnahme von Hajo, denn glücklicherweise war der Glaskasten schalldicht) das Schauspiel verfolgten. Mit zitternder Stimme fügte hinzu: „Aber dazu bist du wahrscheinlich einfach zu feige!“ Mareck sah sie immer noch besorgt an, aber Johanna konnte den Schmerz in seinem Blick erkennen. Warum wurde er nicht auch mal wütend? Warum war er immer so ätzend verständnisvoll und gelassen? Ohne eine Antwort wandte Mareck sich ab und arbeitete schweigend weiter. Auch alle anderen beschäftigten sich wieder mit sich selbst, die Vorstellung war beendet. Nur Johanna saß immer noch reglos da, starrte ihren guten Freund Mareck an und hatte das Gefühl gerade aus Raum und Zeit gefallen zu sein.

Nach einer kleinen Ewigkeit, die genauso gut nur ein paar Minuten gedauert haben konnte, griff sie planlos nach ihrem Handy. Während sie das Display entsperrte, fiel ihr ein, dass sie einmal gelesen hatte, wie häufig man täglich unbewusst sein Smartphone zur Hand nahm. Die Zahl war erschreckend hoch gewesen, auch wenn sie sich nicht mehr genau erinnern konnte. Egal, unnützes Wissen… Ein Benachrichtigungsfenster informiert sie über eine neue E-Mail, und Johanna stellte mit Erschrecken fest, dass sie eine Antwort vom Lewat-Hof erhalten hatten. Prompt fühlte sie sich noch schlechter. Seit sie ihre Nachricht abgeschickt hatte, fürchtete sie diesen Moment und hatte inständig gehofft, dass er nie eintreten würde. Da wurde sie aus reiner Höflichkeit eingeladen, wenn überhaupt wahrscheinlich auf einen Kaffee, und was machte sie? Fragte quasi, ob sie dort einziehen könnte! Ihr kam es vor, als könnte man ihr ihre Scham über ihre gesamte Existenz ansehen, also schlich sie mit gesenktem Kopf ins Büromateriallager.

Der fensterlose Raum war mit deckenhohen Regalen gepflastert und mit Druckerpapier, Ordnern und ausrangierten Grünpflanzen so vollgestellt, dass man Platzangst bekommen konnte. Da man aber gleichzeitig der häufig bedrückenden Atmosphäre im Büro entkam, war er trotzdem ein beliebter Zufluchtsort, um wieder zu Atem zu kommen. So ging es jetzt auch Johanna, als sie sich hinter einer Pinnwand auf den Boden kauerte. Sobald ihr aber die ungelesene E-Mail wieder einfiel, wurde ihr vor Nervosität fast übel. Aber mehr als eine Absage konnte es ja nicht sein, oder? Höchstens eine mitleidige Absage oder eine belustigte auf Grund ihrer Naivität oder eine Absage verbunden mit dem Rat, einen Therapeuten aufzusuchen… Sie öffnete die Nachricht, als würde sie eine Giftschlange freilassen:

Liebe Janna,

ich habe mich sehr über deine Nachricht gefreut! Ich hatte schon darauf gewartet.

Für Stadtmenschen wohnen wir mitten im Nirgendwo und wir haben viel, auch körperlich schwere Arbeit, nicht zu vergleichen mit geregelten Arbeitszeiten im Büro.

Wenn du trotzdem kommen möchtest, kannst du so lange bleiben, wie du möchtest. Kost und Logis sind frei.

Schreib‘ mir einfach, wann du ankommst!

Liebe Grüße,

Evi

Eine vergessene Pinnnadel bohrte sich in ihren Rücken, aber Johanna merkte es kaum. Sie las den kurzen Test noch einmal. Die Nachricht war so klar und selbstverständlich, dass man sie gar nicht missverstehen konnte. Zuerst war sie überrascht, dann empfand sie so etwas wie Freude, dann war ihr plötzlich alles zu viel. Sie stürmte aus dem Lagerraum, raffte ihre Sachen zusammen und ging. Nana sah sie fragend an und Johanna stammelte nur, dass es ihr nicht gut ginge und sie nach Hause müsste. „Sagst du Hajo bitte, dass ich mich krankgemeldet habe?“, bat sie ihre Kollegin, ohne stehen zu bleiben.

„Äh...ja, mach‘ ich“, rief Nana ihr hinterher. „Gute Besserung!“ Johanna war ihre Besorgnis unangenehm, denn sie war ja gar nicht wirklich krank. Sie musste nur hier raus!

Trotzdem fühlte sie sich auf dem Heimweg so elend wie noch nie. Sie saß wie immer in der U2 und es roch wie immer muffig. Irgendwo schrie ein Baby und ein anderer Fahrgast beschwerte sich lautstark. Wie immer. Nur kam Johanna auf einmal alles fremd vor. Sie hatte das Gefühl zu ersticken. Die mechanische Frauenstimme kündigte den nächsten Halt an und fügte hinzu: „Ausstieg links.“ Mit zittrigen Fingern griff sie nach ihrem Notizbuch, um sich daran festzuhalten, aber plötzlich waren die Worte wieder da, die ihr in den letzten Monaten gefehlt hatten:

Ausstieg links! Und ich stehe auf der rechten Seite, zerre an der Tür und komme nicht raus…

„Was ist passiert?“, fragte Linea sofort, als Johanna mitten am Tag nach Hause kam.

„Nichts, mir ging es nur nicht so gut.“ Johanna versuchte sich an ihrer Freundin vorbei in ihr Zimmer zu drängeln.

„Bist du krank?“

„Nein, ich musste da nur raus…Hajo…Mareck…ich…“. Ihre Stimme versagte und schon wieder kamen ihr die Tränen.

„Ach, Süße!“ Linea umarmte sie. „Aber du bist trotzdem krank! Du hast Fieber!“

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