Kitabı oku: «Rapsblütenherz», sayfa 5
Kapitel 8
Erledigt
Sie hatte Fieber. Denn sie war krank. Das wurde Johanna schlagartig klar, als sie die Augen öffnete. Sie versuchte sich zu orientieren und stellte fest, dass sie in ihrem Bett lag. Wie genau sie dort hingekommen war, konnte sie nicht sagen. Sie wusste nur, dass ihre Arme und Beine schmerzten, ihr Kopf zu platzen drohte und kalter Schweiß auf ihrer Stirn stand. Draußen vor dem Fenster war es dunkel. Wie spät war es denn schon? Sie setzte sich so ruckartig auf, dass ihr schwarz vor Augen wurde und sie sich wieder in die Kissen fallen ließ.
Durch ihr Gepolter angelockt steckte Linea den Kopf durch die Tür und fragte: „Hey, du bist ja wieder wach. Wie geht’s dir?“
„Ich weiß nicht…“ Johanna verzog das Gesicht, denn das Sprechen verursachte Halsschmerzen. Dann fiel ihr etwas ein, dass sie wieder hochfahren ließ. „Ich muss zu Moritz!“ Zum Glück war Linea bei ihr, bevor sie aus dem Bett kippte. Fürsorglich stopfte sie Kissen zurecht und lehnte Johanna dagegen wie eine lebensgroße Puppe.
„Du musst nirgendwo hin!“, bestimmte ihre Freundin.
„Aber ich hab‘ es ihm versprochen“, krächzte Johanna verzweifelt. „Ich muss ihn wenigstens anrufen!“
„Ich mach‘ das. Er soll herkommen und sich um dich kümmern.“ Linea verließ den Raum und fügte beim Gehen hinzu: „Aber nicht, dass du denkst, dass ich das nicht gerne mache. Ich bin bestimmt eine gute Krankenschwester!“ Damit entlockte sie Johanna ein schwaches Lächeln, bevor diese dankbar die Augen wieder schloss. Nach einer Weile kam Linea zurück und verkündete: „Er kommt nicht. Er will dich nicht stören…“
„Aber das ist doch lieb von ihm“, versuchte Johanna ihren Freund mal wieder zu verteidigen.
„Pah! Eine kranke Freundin passt nicht in sein Weltbild, so sieht’s aus“, ereiferte sich Linea. Johanna wollte ihr widersprechen, aber zum einen fehlte ihr die Kraft dazu und zum anderen wusste sie, dass ihre beste Freundin Recht hatte.
Am nächsten Tag schleppte Linea sie zum Arzt, der wenig überraschend einen heftigen grippalen Infekt diagnostizierte. Er schrieb sie gleich zwei Wochen krank, was bei Johanna eine fast überwältigende Erleichterung auslöste. Das anhaltende Fieber verhinderte zudem, dass sie zu viel über ihren unrühmlichen Abgang im Büro nachdenken konnte. Sie schlief viel und sogar ihre Träume waren seltsam formlos, nichts als schemenhafte Konturen, wilde Farben und Emotionen, die sie nicht fassen konnte. Wenn sie mal wach war, unterhielten Linea und ihre Mutter sie, die zudem bei jedem Besuch reichlich Hühnersuppe mitbrachte (auf die Johanna leider wenig Appetit hatte). Ansonsten lenkten seichte Soaps sie ab, die sie bestimmt schon seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Dieser dumpfe Zustand wäre durchaus nicht unangenehm gewesen, wären da nicht die andauernden Kopf- und Gliederschmerzen gewesen. Aber solange ihr alles wehtat, hatte sie wenigstens einen greifbaren Grund sich elend zu fühlen.
Moritz meldete sich überhaupt nicht, was Linea nur mit vernichtenden Blicken quittierte. Johanna, die ja eigentlich wütend oder traurig darüber hätte sein müssen, war es erstaunlich egal. Als sie am Ende der ersten Woche wieder dazu in der Lage war, wählte sie trotzdem seine Nummer.
„Hanni-Bunny! Alles wieder fit?“, fragte ihr Freund gutgelaunt.
„Es wird langsam.“
„Cool! Hör’ mal, Schnuffi, wir treffen uns heute mit ein paar Leuten bei Jan. Komm‘ doch auch!“
„Du, Moritz, ich liege seit einer Woche krank im Bett, habe gerade mal kein Fieber mehr und bin noch total erledigt. Ich kann heute noch nicht wieder auf eine Party gehen“, erwiderte Johanna entschuldigend. Gleichzeitig merkte sie, wie irgendwo unter dem tauben Krankheitsgefühl Wut in ihr hochkochte. Sie ignorierte sie und fügte schnell hinzu: „Du kannst doch heute Abend zu mir kommen. Ich bin bestimmt nicht mehr ansteckend und ich würde mich echt freuen!“
„Was soll ich denn bei dir, wenn’s dir noch so schlecht geht?“ Er räusperte sich unbehaglich. „Aber gut, wenn ich dir damit einen Gefallen tue, komm‘ ich eben kurz, bevor ich zu Jan fahre.“
Plötzlich war Johannas Wut verschwunden, genauso wie das unterschwellig schlechte Gewissen, das sie Moritz gegenüber immer verspürte. Ihr Kopf wurde vollkommen klar.
„Nein“, sagte sie ruhig.
„Was? Aber du hast doch gesagt…“
„Ja, aber ich habe es mir anders überlegt. Bitte komm‘ heute Abend nicht. Ich möchte, dass du gar nicht mehr kommst. Moritz, es tut mir leid, aber es ist aus!“ Sie legte auf, bevor er etwas sagen konnte. Sie wollte nichts mehr hören! Keine Entschuldigungen, keine Vorwürfe, keine Versprechen und erst recht keine Liebesbekundungen. Denn da, wo mal ihre Liebe zu ihm gewesen war, war nur noch ein schales Gefühl. Johanna wartete darauf, dass die Tränen kamen, aber nichts passierte. Sie war einfach nur erschöpft. Also legte sie sich wieder hin, zog die Bettdecke bis zum Kinn und schloss die Augen. Es war wirklich aus!
* * *
Sonnenstrahlen tanzten auf den Wänden als Johanna wieder erwachte. Sie horchte in sich hinein und stellte überrascht fest, dass sie sich gut fühlte: Nichts tat mehr weh, ihre Stirn war kühl und ihre Nase nicht mehr verstopft. Anscheinend war sie wieder gesund! Sie öffnete das Fenster, um die Krankheit aus dem Zimmer zu verscheuchen, wobei der frische Duft des Frühlings vermischt mit den allgegenwärtigen Abgasen hereinströmte. Draußen sangen Vögel. Nach einer ausgiebigen Dusche fühlte auch Johanna sich wieder frisch und wie ein Mensch. Während sie sich abtrocknete, fiel ihr auf, dass sie noch weiter abgenommen hatte (was kein Wunder war, wenn man nichts als dünne Hühnerbrühe aß). Die Frau, die sie jetzt aus dem Spiegel heraus ansah, hatte eine erstaunlich gute Figur! Johanna musste grinsen und ihr Spiegelbild grinste zurück.
Da sie gerade alleine in der Wohnung war, wanderte sie ziellos herum, nachdem sie sich fertig gemacht hatte. Die Erinnerung daran, dass sie gestern mit ihrem Freund Schluss gemacht hatte, kam langsam wieder an die Oberfläche, aber die Erkenntnis erschreckte sie nicht so sehr, wie sie es erwartet hatte. Bis auf die Geräusche der Großstadt im Hintergrund war es still und Johanna hatte das Gefühl, sich in einem Vakuum zu befinden. Ihre Beziehung zu Moritz gab es nicht mehr, ihr Alltag, das Büro, alles schien unendlich weit weg. Noch in dieser seltsamen Stimmung setzte sie sich mit einem Käsebrot und in eine Decke gewickelt auf den Balkon. Langsam kaute sie und war erstaunt darüber, wie wunderbar so etwas Selbstverständliches wie das Schlucken sein konnte, wenn es gerade noch stechende Schmerzen verursacht hatte.
Es war nicht die Leere, die sie genoss, wurde ihr klar, es war die Möglichkeit, die sich ihr dadurch bot! Neben ihrem Körpergewicht hatte sich auch irgendetwas in ihr verändert und diese andere Johanna konnte nicht mehr so weitermachen wie bisher. Sie hatte sich so sehr bemüht, es so sehr gewollt und jetzt war sie doch gescheitert. Eigentlich hätte jetzt die Welt untergehen müssen, aber das tat sie nicht. Auf nichts war mehr Verlass.
Erneut las sie die Nachricht von Evi, dann holte sie ihr Notizbuch und begann noch ziemlich schwach, aber entschlossen zu schreiben.
Projekt: Neuanfang
Sie musste an die pastellfarbenen Romane auf ihrem Nachtisch denken und an die gehässigen Gedanken, die sie diesbezüglich gehabt hatte. Ein Neuanfang ist was für Loser… Ja, vielleicht war sie wirklich einer, aber es war ihr egal. Sie konnte einfach nicht anders! Die Aussicht auf etwas Neues machte das Gefühl des Versagens zudem erträglicher.
Als es an der Tür klingelte, war sie so ins Schreiben vertieft, dass sie es gar nicht wahrnahm. Erst beim dritten Klingeln erhob sie sich widerwillig, um den Türöffner zu betätigen. Okes schwere Schritte polterten das Treppenhaus hoch. „Alles ok, Hanna? Mensch, ich dachte schon, du wärst umgekippt!“
„Ne, alles gut! Mir geht’s besser“, erklärte Johanna und ließ ihn herein. Sie hatten sich noch nicht mal gesetzt, da platzte sie heraus: „Ich hab‘ mich von Moritz getrennt und…ich werde kündigen.“ Oke musterte sie kritisch, dann lächelte er.
„Endlich! Es war echt ätzend, dich so unglücklich zu sehen!“
„Ich war nicht…“ begann Johanna, verstummte dann aber. Sie war tatsächlich unglücklich und hatte es nicht mal gemerkt. Oder hatte sie es nur nicht wahrhaben wollen?
Sie plauderten eine Weile, dann meinte Johanna zögerlich: „Ich muss dir noch was sagen… Ich werde auch eine Weile weggehen.“ Sie hatte ihren (ehrlich gesagt noch sehr rudimentären) Plan noch nicht ganz erklärt, als Linea nach Hause kam. Also fing sie noch einmal von vorne an und beide hörten ihr mit großen Augen zu.
„Das wird bestimmt gut!“ Oke zog sie in seine Arme und zerquetschte sie fast.
Linea zögerte etwas länger, dann nickte auch sie: „Wenn du das machen willst, ist es das Richtige. Auch wenn ich dich fürchterlich vermisse werde!“
„Ich dich doch auch! Und die Miete zahle ich natürlich erstmal noch weiter, ich hab‘ ein bisschen Geld gespart.“
„Ach, da findet sich schon eine Lösung.“ Linea grinste schief und blinzelte die Tränen weg. „Komm‘ her, Süße!“
Die beiden Frauen umarmten sich weinend, bis Oke diskret hüstelte: „Jetzt beruhigt euch, noch ist Hanna ja nicht weg!“
Sie lachten und Johanna war trotz des beginnenden Abschiedsschmerzes erleichtert, dass sie eine Entscheidung getroffen hatte. Jetzt musste sie es nur noch ihren Eltern sagen. Da Linea, die beste Freundin auf dieser Welt, ihr verbot, mit der U-Bahn zu fahren, rief Johanna ihre Mutter an, damit diese sie für den Abend abholte. Während sie wartete, überprüfte sie noch einmal die Liste, die sie zuvor geschrieben hatte:
Mit Moritz Schluss machen – Erledigt!
Linea und Oke informieren – Erledigt!
Mama und Papa informieren
Kündigen!
Nachmieter für WG-Zimmer suchen
Koffer kaufen
Zeug verkaufen/einlagern
Verbindung nach Augraben recherchieren
Evi schreiben
Zufrieden mit ihrer Vorbereitung klappte Johanna ihr Notizbuch zu. Eine Menge Arbeit lag vor ihr, aber auch wenn sie sich eben noch schlapp gefühlt hatte, sprühte sie jetzt vor Tatendrang. Bestimmt hatte sie auch noch einige Punkte vergessen (zum Beispiel so entscheidende wie „Wo genau werde ich wohnen?“ oder „Muss ich mich arbeitslos melden?“), aber sie wusste einfach, dass sie es schaffen würde.
* * *
„Und wie lange gedenkst du auf diesem Bauernhof zu bleiben?“ Man sah, wie es hinter Jens Herzogs Schläfen arbeitete. Johanna trank einen Schluck Wasser, um ihre Antwort hinauszögern.
„Ein Freiwilliges Soziales Jahr oder so ist ja immer ein Jahr“, warf ihr Bruder da geistreich ein. Johanna aber nickte dankbar und murmelte, dass das durchaus vergleichbar wäre. Insgeheim wollte sie sich aber gar nicht festlegen, wollte zum ersten Mal in ihrem Leben keinen festen Plan haben. Das würde sich schon ergeben! Woher sie diese Gewissheit nahm, wusste sie selbst nicht.
„Vielleicht ist ein bisschen Erholung gar nicht schlecht nach der ganzen Studiererei und dem anstrengenden Job“, meinte ihre Mutter und strich Johanna über die Schulter. „Wie dünn du geworden bist!“
„Von Erholung kann sie sich aber nichts kaufen, Jutta“, widersprach ihr Vater. „Ich bin nicht sicher, was zukünftige Arbeitgeber zu einem Jahr Bauernhof sagen werden.“ Seine Tonlage verriet jedoch, dass er sich durchaus sicher war, dass niemand etwas Positives daran finden würde. Johanna waren ihre noch nebulösen, kommenden Arbeitgeber gerade herzlich egal, trotzdem hatte sie eine Argumentation vorbereitet, die sogar gar nicht so weit hergeholt war:
„Sabbaticals werden immer verbreiteter und viele Arbeitgeber schätzen es inzwischen, wenn man auch mal über den Tellerrand guckt. Außerdem ist so ein Gestüt auch ein komplexer Betrieb, da kann ich meine Kenntnisse aus der Unternehmensberatung bestimmt einbringen.“ Das Wort „Gestüt“ betonte sie dabei absichtlich, denn das war natürlich etwas ganz anderes als ein Bauernhof.
Ihr Vater schien zu merken, dass er seiner Tochter die Idee nicht ausreden konnte, also überlegte er angestrengt, wie er die Sache vor sich und der Welt rechtfertigen konnte. Irgendwann nickte er grimmig und sagte: „Ja, das ist wahr. Das Gestüt kann nur von deinem Aufenthalt profitieren!“
Letzte Male können sehr schön oder sehr schrecklich sein. Auf jeden Fall sind sie seltsam und manchmal auch alles zusammen.
Ein letztes Mal überquerte Johanna mit der S-Bahn die Lombardsbrücke, um am Bahnhof Dammtor auszusteigen. Ein letztes Mal kaufte sie dort einen Karamell-Macchiato und ein Franzbrötchen für Nana. Kurz überlegte sie, ein zweites für Mareck mitzunehmen, konnte sich dann aber nicht dazu überwinden. Seit sie ihn so beschimpft hatte, waren sie sich nicht mehr begegnet, und sie war sicher, dass es so auch besser war.
Nachdem sie ein letztes Mal durch die Drehtür eingetreten war, stand sie nervös auf dem Flur vor Stegmann & Partner. Wenn sie wieder herauskam, würde sie keine Mitarbeiterin mehr sein. Ihre Kündigungsfrist war kurz, der Jahresurlaub noch nicht angetastet, deswegen würde sie keinen Tag mehr arbeiten müssen. Das war ein Segen, denn sie hätte es nicht ertragen, Mareck auch nur noch eine Minute gegenüberzusitzen. Entschlossen trat sie ein und schob Nana gleichzeitig die Tüte mit dem Franzbrötchen und ihre Kündigung über den Tresen. Während diese ungläubig las, tupfte Johanna ein letztes Mal Brötchenkrümel von der glänzenden Oberfläche. Traurig sah Nana sie an, sagte aber nur: „Du machst das Richtige!“ Warum wussten das alle, nur Johanna selbst hatte es so lange nicht bemerkt?
„Danke!“ Sie lächelte ihre Fast-nicht-mehr-Kollegin an. „Dann geh‘ ich jetzt zu Hajo.“ Ohne anzuhalten ging sie an den Schreibtischen vorbei Richtung Glaskasten. Sie registrierte nur, dass die zweite Nische auf der linken Seite leer war. Obwohl sie gehofft hatte, Mareck nicht treffen zu müssen, war sie irgendwie enttäuscht. Hajo sah sie abwartend an, als sie eintrat. Unbeholfen erklärte sie ihr Anliegen und legte dabei ihr Schreiben auf den Tisch. Hajo betrachtete die Kündigung, dann wieder Johanna, dann bleckte er die Zähne zu seinem typischen Haifisch-Lächeln. „Ich wünsche dir alles Gute. Die Schlüssel kannst du gleich hier lassen!“ Das war’s. Wie oft hatte sie sich diesen Moment in schillernden Farben ausgemalt und jetzt war das alles! Das Gefühl des Triumphs, von dem sie geträumt hatte, blieb aus.
„Tschüss“, murmelte Johanna, der nichts Besseres einfiel, und machte sich auf den Rückweg durch den langen Gang. Dieses Mal sah sie in jede Nische, um jeden der Menschen, die ihr so ans Herz gewachsen waren, ein letztes Mal zu sehen - Merit, Dirk, Paul und all die anderen. Kein Mareck. Bei der großen Glastür drehte sie sich noch einmal um. Alle Augen waren auf sie gerichtet und sie wollte so viel sagen. Aber das ging nicht, denn Napoleon lauerte in seinem Aquarium. „Ihr seid die besten Kollegen“, erklärte sie deswegen nur schlicht. „Macht’s gut!“ Sie lächelte tapfer, dann floh sie aus dem Büro.
„Warte!“ Johanna war schon im Treppenhaus, als Nana nach ihr rief. Die blonde Mähne flog um ihren Kopf, als sie Johanna hinterherstürmte. Sie drückte sie einmal fest an sich und sagte: „Wir sehen uns wieder, klar?“ Bevor Johanna etwas erwidern konnte, huschte Nana die Treppe wieder hoch und die Tür zu Stegmann & Partner schloss sich.
Wieder zu Hause heulte Johanna erst einmal ausgiebig, dann zückte sie einen Stift und setzte ein weiteres „Erledigt!“ hinter ihre Liste. In diesem Moment kam ein grinsender Oke ins Zimmer. Sie überlegte kurz, dass er in letzter Zeit ziemlich häufig in der WG war, verwarf den Gedanken aber wieder. „Ich wollte nur mal kurz die Wand ausmessen.“
„Was willst du mit meiner Wand machen?“ Johanna sah ihn verwirrt an.
„Bald ist es nicht mehr deine Wand.“ Okes Schmunzeln wurde breiter. „Bald ist es meine Wand! Ich werde nämlich dein Nachmieter!“
„Oh, super!“ Vor Begeisterung hüpfte Johanna auf und ab. „Aber wie kommst du da auf einmal drauf? Was ist mit deiner Wohnung? Was ist mit deiner Freundin?“
„Die gibt’s nicht mehr. Also die Freundin. Die Wohnung gibt’s natürlich schon noch. Aber hier ist es schöner!“ Komischerweise wurde der große Teddy krebsrot, während er das sagte. Johanna dachte aber auch darüber nicht weiter nach, sondern griff noch einmal zum Stift:
Erledigt!
Kapitel 9
126 Liter
Ich bin nicht peinlich!
Trotzig setzte Johanna den Stift so fest auf, dass die Spitze durch das Papier drückte. Ja, sie mochte Farbe, sie mochte Glitzer und sie liebte Pink. Aber deswegen musste man sich noch lange nicht für sie schämen, wie Moritz es immer getan hatte. Und sie würde es ab jetzt auch nicht mehr tun! Sie sah zu dem Rollkoffer hinüber, den sie gerade zusammen mit ihrer Mutter gekauft hatte und der jetzt wie ein Ufo mitten im Zimmer stand, und schmunzelte. Er war lila, mit großen Blumen in Rosa und Pink bedruckt und genauso hässlich, wie Johanna ihn großartig fand. Der Kauf war so etwas wie eine letzte Rebellion gegen ihren Exfreund gewesen, der immer am liebsten im Boden versunken wäre, wenn sie irgendwie aus der Masse herausstach.
Der Koffer war nicht nur bunt, sondern auch riesig. Wenn man einen zusätzlichen Reißverschluss öffnete, sollte er 126 Liter fassen. Ein größeres Gepäckstück war nicht zu haben gewesen, selbst die von Linea viel beschworenen Trekking-Rucksäcke waren nicht geräumiger. Aber mit einem solchen Ding auf dem Rücken wäre Johanna sowieso niemals losgezogen. Erstens verabscheute sie Rucksack-Touristen, weil diese ihr in der U-Bahn regelmäßig ihr Gepäck ins Gesicht drückten, und zweitens hatte sie viel zu große Angst davor, mit einem Rucksack, der größer war als sie selbst, nach hinten überzukippen und dann wie ein Käfer hilflos mit den Beinen zu strampeln. Dieses Argument hatte ihre Freundin schließlich gelten lassen, sie würde ja nicht da sein, um Johanna aufhelfen zu können. Bei der Erinnerung an dieses Gespräch rollte erneut der Abschiedsschmerz, der seit ihrem Entschluss in Wellen kam, auf Johanna zu. Sie konnte sich einen Alltag ohne Linea überhaupt nicht mehr vorstellen. Warum wollte sie nochmal weg? Aber schließlich würde sie ja nicht aus der Welt sein. Vom Hauptbahnhof bis nach Augraben war es mit Bus und Bahn nur eine gute Stunde (Verbindung recherchieren - Erledigt!). Aber trotzdem… Es würde nicht mehr dieselbe Welt sein.
Johanna raffte sich auf und sprang von der Fensterbank in ihrem Zimmer, auf der sie gesessen hatte. Es brachte ja nichts, sich jetzt in Grübeleien zu verlieren! Außerdem hatte sie noch viel zu tun: 126 Liter Fassungsvermögen war zwar eine Menge, aber trotzdem erschreckend wenig im Vergleich zum momentanen Inhalt ihrer Schränke. Deswegen blieb Johanna gar nichts anderes übrig, als kräftig auszusortieren, und gleichzeitig gefiel ihr die Vorstellung, wirklich nur mit den Dingen aufzubrechen, die sie wirklich mitnehmen wollte. Ballast abwerfen und so…
Sie stellte mehrere Wäschekörbe bereit und holte die Umzugskartons, mit denen sie vor fünf Jahren hier eingezogen war. Es kam ihr vor, als wäre seitdem eine Ewigkeit vergangen. Eine gewisse Bitterkeit erfüllte sie, als sie daran dachte, wie sicher sich die zweiundzwanzigjährige Studentin von damals gewesen war, dass in ihrem Leben niemals etwas schief gehen könnte. Energisch öffnete sie die erstbeste Schranktür, um das unangenehme Gefühl zu vertreiben, und stürzte sich in die Arbeit. Zuerst verpackte sie alle Unterlagen aus dem Studium in Kartons, ebenso Fachbücher und sonstige Dokumente, die man nicht täglich brauchte. Ihre Romane teilte sie in zwei Stapel, den einen brachte sie in Lineas Zimmer, den anderen legte sie für ihre Mutter beiseite. Dann kam der Kleiderschrank an die Reihe: Die edlen Business-Outfits, die sie nicht weggeben mochte, wanderten ebenfalls in einen der Kartons. Diese würde sie bei ihren Eltern auf dem Dachboden unterstellen, wo bestimmt auch noch ihre Barbies lagerten. Alle verbleibenden Kleidungsstücke nahm sie einzeln in die Hand und betrachtete sie so eindringlich, als wollte sie fragen, was sie zu ihrer Verteidigung zu sagen hatten. Anschließend warf sie sie in einen der Wäschekörbe: „Mitnehmen“, „Verkaufen“ oder „Sozialkaufhaus“.
Nach zwei Stunden quollen die beiden letztgenannten Körbe über, während der erste erstaunlich übersichtlich war. Neben ein paar Lieblingsteilen (darunter der korallfarbene Mantel und das royalblaue Kleid, von denen sie sich einfach nicht trennen konnte, obwohl sie sie auf dem Lewat-Hof bestimmt nicht brauchen würde) warteten vor allem praktische Klamotten, die man gut kombinieren konnte, darauf, in den bunten Koffer umzuziehen.
Als alle Schränke leer waren (was sich unglaublich befreiend anfühlte), nahm sich Johanna die Deko-Gegenstände und den verbleibenden Krimskrams auf den Regalen vor, die sich über die Jahre angesammelt hatten. Sie gruppierte alles auf ihrem Bett, bevor sie nach ihrer Freundin rief: „Linea? Möchtest du davon etwas haben?“
Linea suchte sich zwei Vasen und eine hübsche Schale aus, dann brach sie in wahre Begeisterungsstürme aus, als sie einen kleinen Stoffelefanten entdeckte. „Erinnerst du dich? Den haben wir zusammen in Kopenhagen gekauft!“
Johanna grinste, denn sie hatte diesen Trip noch sehr lebhaft im Gedächtnis. „Behalt‘ ihn“, meinte sie aber nur schulterzuckend, „und auch alles andere, was dir gefällt. Der Rest kommt in den Müll.“
„Was? Aber das sind Erinnerungen! Die kannst du doch nicht alle wegwerfen!“ Linea starrte sie entrüstet an.
„Erinnerungen sind im Kopf, meine Liebe“, entgegnete Johanna fest.
„Nein, so geht das nicht!“ Linea lief aus dem Zimmer und kam kurz darauf mit einer hübschen Schachtel in der Größe eines Schuhkartons wieder. „Den Kopenhagen-Elefanten kannst du hier lassen, wenn du unbedingt willst, aber die Sachen, die wirklich etwas für dich bedeuten, musst du mitnehmen!“ Damit ließ sie Johanna wieder allein.
Diese überlegte und betrachtete das Verfassungsvermögen der Schachtel, das natürlich nur ein kleiner Bruchteil dessen des Koffers war. Was war so wichtig, dass es dort hinein durfte? Bei den Fotos, die auf der Kommode standen musste sie nicht lange überlegen: Sie im Talar mit Jonas und ihren Eltern beim Uni-Abschluss und ein Selfie von Oke, Linea und ihr. Eigentlich komisch, dass kein Bild von Moritz und ihr da gestanden hatte, überlegte sie und plötzlich kam es ihr wie ein Zeichen vor. Als Nächstes fand sie einen kleinen Stapel Tickets, Eintrittskarten und Postkarten. Immer wenn sie sich an den entsprechenden Tag erinnern konnte, landete das Stück Papier in der Schachtel, ansonsten gnadenlos im Abfalleimer. Bei der Eintrittskarte vom letzten Springderby angelangt entfuhr ihr ein aufgeregtes Kichern, bevor natürlich auch diese in die Schachtel kam. Schließlich hatte dieser Tag sozusagen ihr Leben verändert… Es folgten ein glatter Kiesel, den ihr Kollege Paul ihr in einer Mittagspause zur Aufmunterung geschenkt hatte, und die Visitenkarte von Mareck, die er ihr an ihrem ersten Arbeitstag gegeben hatte und die ihr jetzt ein wehmütiges Lächeln entlockte. Auch ein Herz aus Vollmilchschokolade, das Moritz ihr geschenkt, sie jedoch aus bekannten Gründen nicht angerührt hatte, behielt sie. Denn die Beziehung war ja nicht immer furchtbar gewesen, wie sie großmütig anerkannte, und irgendwann würde sie sich bestimmt daran erinnern wollen. Nur jetzt nicht! Schwungvoll klappte sie den Schachteldeckel zu.
Linea kam wieder herein und grinste frech, als sie die inzwischen sorgfältig mit mehreren Gummibändern verschlossene Schachtel sah. „Na, war die Idee doch nicht so doof?“
„Nein, war sie nicht!“, gab Johanna widerwillig zu. „Es hat sogar Spaß gemacht, die Sachen zu sortieren und sich zu erinnern. An manche Momente hab‘ ich schon ewig nicht mehr gedacht!“
„Gut!“ Lineas Grinsen wurde breiter. „Und wenn du auf diesem Pferdehof bist, guckst du dir den Inhalt der Schachtel regelmäßig wieder an, damit du uns nicht vergisst.“ Ihre Worte lösten die nächste Flutwelle Abschiedsschmerz aus und Johanna kamen die Tränen.
„Ich werde euch bestimmt nicht vergessen!“, rief sie leidenschaftlich und umarmte ihre Freundin, die ebenfalls Rotz und Wasser heulte. Nachdem sie sich beide wieder halbwegs beruhigt hatten, sahen sie sich im Zimmer um: Neben dem Koffer, den Kartons und Körben waren nur noch die nackten Möbel übrig. Die meisten davon würde Oke übernehmen, nur an Johannas Schminktisch hatte er naturgemäß wenig Interesse. Aber morgen würde eine Bekannte vorbeikommen, diesen zu einem günstigen Preis abholen und schon würde Johanna vollständig ausgezogen sein. Abgesehen von ihren Gefühlsausbrüchen kam ihr bisher alles erschreckend einfach vor.
„Was hast du jetzt vor?“, fragte Linea und wischte sich verschmierten Mascara von den Wangen.
„Weiß nicht. Jonas kommt erst heute Abend mit Papas Auto und holt die Kisten und mich ab“, erwiderte Johanna und putzte sich die Nase.
„Dann gehen wir jetzt zum Friseur!“, entschied Linea, die jetzt wieder strahlte.
„Was? Warum? Ich muss nicht zum Friseur!“
„Doch, muss du! Dieser Punkt fehlt nämlich auf deiner Liste. Man geht nach einer Trennung immer zum Friseur und lässt sich die Haare abschneiden“, erklärte ihre Freundin aber, während sie sie bereits aus dem Zimmer zog. „Hast du eigentlich noch mal was von Moritz gehört?“, erkundigte sie sich auf dem Weg zu dem wenige Straßen entfernten Salon. „Wie ich ihn kenne, wahrscheinlich nicht, oder?“
„Doch, er wollte sich sogar noch einmal mit mir treffen“, gestand Johanna und seufzte.
„Und?“
„Ich wollte nicht. Weißt du, er ist kein schlechter Kerl…“ Linea reagierte mit einem ungläubigen Schnauben. „Nein, das ist er wirklich nicht. Deswegen hatte ich Angst, dass ich wieder schwach werde, wenn ich ihn sehe“, fuhr Johanna fort. „Und das will ich nicht. Es ist definitiv Schluss!“
„Bravo!“ Linea wirkte erleichtert. „Deswegen: Haare ab!“ Damit öffnete sie die Tür des Friseursalons, der sie mit dem Bimmeln einer kleinen Glocke freundlich willkommen zu heißen schien.
„Was darf es denn heute sein?“, fragte die gut gelaunte Friseuse, die Johanna regelmäßig bediente. „Wie immer?“
„Nein, heute nicht.“ Johanna zögerte. Haare ab? Sie fühlte sich nicht als Kurzhaar-Typ. Außerdem wollte sie nicht, dass man ihr schon von weitem die Trennung, ihr Scheitern in der Liebe, ansah… Aber ihre Spitzen waren wirklich schrecklich kaputt…
Fast zwei Stunden, einen Kaffee für sie und drei Gläser Orangensaft für Linea später blickte eine verwandelte Johanna in den Spiegel. Komischerweise hatte sie dabei das Gefühl, dass sie sich lange nicht mehr so ähnlich gesehen hatte. Ihre Haare waren ab, aber nicht kurz. Schulterlang fielen sie in den leichten Wellen, die Johanna die letzten Jahre immer mit dem Glätteisen bekämpft hatte, weich um ihr Gesicht. Außerdem waren die blonden Strähnchen in dunklem Braun übergefärbt, das durch Highlights in anderen Brauntönen so aufgehellt wurde, dass das Ergebnis ihrer Naturhaarfarbe möglichst nahe kam. Das wirkte gar nicht so scheckig, wie Johanna ihre Haare in Erinnerung gehabt hatte, sondern sah eigentlich echt hübsch aus. Auf jeden Fall würde man nicht sehen, wenn die Farbe herauswuchs, denn wer wusste schon, wann sie wieder zum Friseur kam, wenn sie erstmal in Augraben wohnte.
Linea war mit Johannas neuer Friseur und mit sich (denn schließlich war es ja ihr Vorschlag gewesen) extrem zufrieden und auch Jonas sagte anerkennend: „Wow, du siehst ja wieder aus wie meine Schwester!“, als er sie wenig später mit dem Auto abholte.
Mit Jonas durch Hamburg zu fahren, war ein Abenteuer, denn da er den Führerschein noch nicht lange hatte und mit öffentlichen Verkehrsmitteln auch überall hinkam, hatte er nur wenig Fahrpraxis. Johanna durfte dazu aber nichts sagen, denn auch wenn sie bereits sieben Jahre länger in Besitz der Fahrerlaubnis war, saß sie so gut wie nie selbst am Steuer.
„Jetzt müssen wir es ausbaden, dass unsere Tochter einen Selbstfindungstrip machen muss“, grummelte ihr Vater, als er ihnen half, die Umzugskartons auf den Dachboden zu schleppen.
„Jens, wir haben doch wirklich genug Platz“, begütigte ihre Mutter und fügte leise hinzu: „Außerdem will ich hier heute keine schlechte Laune, es ist Johannas letzter Abend!“
„Aber Mama, du musst doch nicht traurig sein!“ Johanna schlang ihr die Arme um den Hals. „Augraben ist doch gleich um die Ecke. Ich komm‘ euch natürlich weiter besuchen. Zum Sonntagsfrühstück! Vielleicht nicht jede Woche, aber ich komme auf jeden Fall!“ Jutta nickte und gab ihrer Tochter einen Kuss auf die Wange.
„Ja, du hast ja Recht!“
Trotzdem war die Stimmung an diesem Abend seltsam im Hause Herzog. Die anstehende Veränderung lauerte stets hinter der nächsten Ecke.
* * *
„Auf Johanna, die es als erste von uns schafft, aus dieser Stadt herauszukommen!“ Oke hob seine Bierflasche und ließ sie gegen die Hugo-Fläschchen von ihr und Linea scheppern.
„Ganze 50 Kilometer ins nächste Bundesland, was für eine Leistung“, tat Johanna seinen Toast ab und lachte. Dabei kam es ihr eigentlich so vor, als würde sie morgen tatsächlich eine Expedition in eine andere Galaxie antreten. Nachdem sie gestern bei ihrer Familie gewesen war, verbrachte sie heute den letzten Abend mit ihren besten Freunden im Park. Es war ein schöner Tag Anfang Mai, der sich schon Richtung Sommer reckte. Erste Grilldüfte zogen durch die Luft und das vielstimmige Geplauder der anderen Parkbesucher hüllte sie ein wie eine angenehm warme Decke. Alles hier war ihr so vertraut. Warum wollte sie nochmal weg? Und warum fiel einem immer erst auf, was man alles hatte, wenn es zu spät war? Fantastische Freunde zum Beispiel oder eine tolle Heimat. Brauchte sie wirklich mehr? Dann fiel ihr aber wieder ein, dass sie keinen Freund mehr hatte und keinen Job und keine Wohnung. Sie hatte sich entschieden.
„Hey…“ Linea, die sie beobachtet hatte, stupste sie an. „Zum Trübsalblasen ist morgen noch genug Zeit. Heute wird gefeiert!“ Damit hob sie erneut ihr Getränk und rief: „Auf meine zwei besten Freunde auf dieser Welt und im nächsten Bundesland!“
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