Kitabı oku: «Verantwortungsvoll führen in einer komplexen Welt», sayfa 5
Lebensfähigkeit – der Versuch einer Definition
Noch vor der eigentlichen Einleitung in den strukturellen Aufbau des VSM soll zunächst der Begriff der Lebensfähigkeit definiert werden, weil dieser oftmals mit dem Terminus der Überlebensfähigkeit gleichgesetzt wird. Eine Differenzierung ist aber notwendig, um die Grundidee der Viabilität zu verstehen. Stafford BEER definiert «Viable» als die Fähigkeit, die eigene Existenz aufrechtzuerhalten (1972, 1985), und versteht darin ein Ganzes, das autonom in einer Umwelt existieren kann. Damit ist die Gefahr einer Verwechslung von Lebensfähigkeit und Überleben jedoch nicht gebannt, sodass zur weiteren Ausarbeitung ein Zitat von ALBERT SCHWEITZER (1966) zur weiteren Reflexion einladen soll:
«Der denkend gewordene Mensch erlebt die Nötigung, allem Willen zum Leben die gleiche Ehrfurcht vor dem Leben entgegenzubringen wie dem seinen. Er erlebt das andere Leben in dem seinen. Als gut gilt ihm: Leben erhalten, Leben fördern, entwickelbares Leben auf seinen höchsten Wert bringen. Als böse: Leben vernichten, Leben schädigen, entwickelbares Leben niederhalten. Dies ist das denknotwendige, universelle, absolute Grundprinzip des Ethischen.»
Aus dieser Herleitung wird deutlich, dass der Begriff «Leben» den Aspekt der Entwicklung integriert, der beim reinen Überleben nicht vorkommt, da es beim Kampf um Ressourcen eher um die Erhaltung des minimal notwendigen Status quo geht. Mithin kann man zur Unterscheidung auch die Bedürfnishierarchie von Maslow (1943) heranziehen. Lebensfähigkeit umfasst sowohl den Aspekt des Überlebens wie auch des Lebens. Wesentlich ist hierbei, den Grad der Autonomie zu bestimmen. Wenn ein Mensch auf einer Intensivstation von lebenserhaltenden Maßnahmen abhängig ist, dann mag er auf diese Weise überleben, aber er ist nicht mehr im Sinne der Lebensfähigkeit entwicklungsfähig – dieser Mensch braucht eine Form der medizinischen Unterstützung seitens der Umwelt, die nicht der Norm entspricht. In solchen Situationen geht es nur noch um die Aufrechterhaltung basaler Funktionen, um den Fortschritt einer Krankheit oder den Tod zu vermeiden. Im Umkehrschluss kann man damit formulieren, dass ein System vielleicht überlebens-, aber nicht automatisch lebensfähig ist. [47]
Abbildung 2.1 Die bekannte Pyramide von MASLOW (1943), ergänzt um die Begriffe Leben, Überleben und lebensfähig – immer vor dem Hintergrund einer relativen Autonomie!
Der ganzheitliche Blick auf ein Unternehmen
Das Viable System Model VSM integriert das normative, das strategische und das taktisch-operative Management sowie die Wertschöpfung eines Unternehmens zu einem Ganzen. Ebenso bietet das VSM einen holistischen Blick auf eine Organisation, um dem Wunsch nach mehr Agilität oder Lean Thinking Rechnung zu tragen und anpassungsfähige Strukturen aufzusetzen, die das alte Paradigma des Befehlens und Kontrollierens überwinden, ohne dabei eine Organisation grundsätzlich neu erfinden zu müssen. Ebenso wenig muss man die Prinzipien der guten Führung zum wiederholten Male neu beschreiben – auch diese Aspekte sind im VSM enthalten. Mithin erlaubt das Modell einen Ordnungsrahmen für Lebensfähigkeit – die innovative und nachhaltige Entwicklung des Unternehmens in einem sich rasch wandelnden Umfeld – zu schaffen, welchen reflektierende Praktiker bereits oft genug intuitiv einsetzen.
Statt jedoch nur auf die Intuition zu setzen und möglicherweise das Rad neu zu erfinden, offeriert das VSM eine solide Basis, um mit den typischen Denkfallen der Organisation eines komplexen Systems umzugehen. Ebenso ermöglicht das Modell einen kritischen Blick auf aktuelle Moden wie die Adhokratie, die Holakratie oder agile Frameworks wie z. B. das populäre Scaled Agile Framework oder Scrum of Scrums. Die Debatte um die Neuerfindung von Organisationen, wie diese u. a. durch Frederic LALOUX (2015) betrieben wird, erscheint daher einigermaßen seltsam. Fast niemand hat das VSM auf dem Schirm. Dies ist umso verwunderlicher, als mittels des VSM ein Denkwerkzeug zur Verfügung steht, mit dem die zuvor in der Einleitung benannten Themenkomplexe zur Strategie und zum Public Value bestens integriert und in eine operative Form überführt werden können. [48]
Die Komplexität der Organisation muss zur Komplexität der Umwelt passfähig justiert werden.
Die zentrale Frage der lebensfähigen Organisation lautet: Ist die Komplexität der internen Organisation passfähig zur Umwelt und den verschiedenen Anspruchsgruppen aufgestellt, und können gegebene Lieferversprechen eingehalten werden? Das in Kapitel 1 vorgestellte Gesetz der erforderlichen Varietät holt an dieser Stelle selbst die hartgesottenste Führungskraft wieder ein. Es braucht die Erkenntnis, dass erst die richtige Mischung aus Steuerung und Regelung die gewünschte Lenkbarkeit ergibt, um unternehmerische Ziele zu erreichen und den Einsatz der Mittel klug auszutarieren (Steigerung der Effizienz des Bestandsgeschäfts vs. Investitionen in neue Geschäftsmodelle). Des Weiteren lässt sich aus Ashby’s Gesetz ableiten, dass Wissen und Macht in jedem lebensfähigen System bereits verteilt sind. Niemand kann alles alleine wissen, geschweige denn tun. Damit wird klar, dass die Muster der Viabilität überall in Organisationen zu finden sind! Mithin dient das VSM zuvorderst als Analysewerkzeug, um herauszufinden: Welchen Preis zahlt ein Unternehmen, um seine Lebensfähigkeit aufrechtzuerhalten? Welcher Verlust wird bewusst oder unbewusst in Kauf genommen? Welche Reibungsverluste gibt es innerhalb der Teileinheiten? Welche basalen Organisationsprozesse funktionieren nur suboptimal?
Stafford BEER hat als Schöpfer des Modells einen wichtigen Ausdruck geprägt, der zentral für dessen Verständnis ist und übergreifend für alle Unternehmen gültig sein soll: «POSIWID – The Purpose of a System Is What It Does» (Beer, 1985, 99). Diese Aussage verweist darauf, dass nur die tatsächlich realisierten Verhaltensweisen und Leistungen eines Unternehmens den Sinn und Zweck («Purpose») ergeben. Diese sehr radikal klingende Formulierung stößt auf Kritik, da es zu einfach erscheint, den Sinn und Zweck einer Organisation anhand ihrer Resultate zu bewerten. Die Sichtweise des «Purpose» (Das große Warum) ist natürlich auch ein valider Ansatz, um auf ein Unternehmen zu blicken. Passenderweise lassen sich die beiden Perspektiven integrieren, wenn man den formulierten Sinn und Zweck mit dem realisierten Sinn und Zweck vergleicht. Erst beide Ansätze zusammen ergeben die Möglichkeit zur kontinuierlichen Entwicklung und Verbesserung der Ergebnisse des Unternehmens. Darauf wird im nächsten Kapitel vertieft einzugehen sein.
Eine besondere Eigenschaft des Modells ist noch hervorzuheben: Das VSM ist isomorph, d. h., es ist gleichgestaltig. In jedem lebensfähigen System sind die entsprechenden Muster des Modells anzutreffen, ganz gleich ob es sich um einen Großkonzern oder einen vergleichsweise kleinen Mittelständler handelt. Das ist eine starke Aussage, doch bis heute ist das VSM nicht widerlegt worden – ganz im Gegenteil. Dies zeigt sich in einer Studie aus dem Jahre 2016 (SCHWANINGER, SCHEEF, 2016). Darin wurde zum [49] ersten Mal mit einem quantitativen Verfahren die Rolle der proklamierten Teileinheiten als hinreichende Voraussetzung für die Lebensfähigkeit von Organisationen empirisch untermauert. Mit dem VSM wurden schon unterschiedlichste Organisationen analysiert und auf Stärken und Schwächen hin untersucht. Die Bandbreite reicht von Unternehmen bis hin zu öffentlichen Verwaltungen, Universitäten oder politischen Institutionen, wie die Literaturhinweise am Ende dieses Kapitels dokumentieren.
Die Geschichte des Modells reicht bis in das Jahr 1959 zurück, als Stafford BEER es in seinen ersten Zügen im Buch «Cybernetics and Management» (1959) beschrieb. Einen Auftritt auf der politischen Weltbühne hatte das Modell, als es im Projekt «Cybersyn» für die Restrukturierung der chilenischen Wirtschaft genutzt werden sollte. Es kam jedoch nicht in der vollen Ausprägung zum Einsatz, da der damalige Putsch das begonnene Experiment beendete.
Das VSM hat Zukunft!
Ohne zu viel der eigentlichen Herleitung des Modells vorwegzunehmen, so sei doch bereits an dieser Stelle ein kleiner Überblick gegeben, um die Einzigartigkeit der Theorie von der Lebensfähigkeit zu vermitteln, und zu zeigen, warum das VSM im Vergleich zu aktuellen Modethemen überlegen ist.
Aus dem Modell heraus lassen sich vier elementare Managementebenen, ein operatives System und die Umwelt herausfiltern, in die das lebensfähige System eingebettet ist. Damit sind die wesentlichen Bestandteile genannt, welche die Voraussetzung für die Lebensfähigkeit von produktiven, sozialen Systemen (ULRICH, 1968) sind.
Umwelt: Das Modell fordert die Nutzer gleich zu Beginn dazu auf, sich mit der Umwelt zu beschäftigen, denn ohne Umwelt kann ein Unternehmen nicht existieren. Es sind damit die vielfältigen Leistungsbeziehungen und die an die Kunden, die Aktionäre und die Gesellschaft gelieferte Wertbeiträge gemeint. Erst diese legitimieren das wirtschaftliche Handeln eines Unternehmens.
Operation: Der Ort der eigentlichen Wertschöpfung, in welchem relativ autonom Mehrwerte für eine Umwelt produziert werden, in die das System eingebettet ist. Damit ist diese Ebene elementar, um Lieferversprechen zu erfüllen, die Kunden zu generieren und zu behalten. In der Sprache des Fußballs formuliert: «Die Wahrheit ist auf dem Platz.» [50]
Lokales Management: Dieses System ist das «Scharnier» zwischen der Operation und der taktischen Management-Ebene. Es muss den Spagat zwischen lokaler Wertproduktion und übergeordneten Anliegen schaffen. Es kennt die Leistungsfähigkeit der Operation und ist in der Lage, lokal auftretende Probleme im Tagesgeschäft eigenständig zu lösen.
Taktisch-operative Management-Ebene: Hier findet die Koordination des Tagesgeschäfts statt. Es geht um das Lösen übergreifender Aufgabenstellungen, meist getaktet nach einem definierten Arbeitsrhythmus (z. B. Fünf-Werktage-Woche, eine Arbeitsschicht oder ein sogenannter Sprintzyklus im Scrum). Die Hauptaufgabe dieses Systems besteht darin, die übergeordneten Rahmenbedingungen für die Operation herzustellen, indem es Ressourcen und Regeln für die Wertschöpfung bereitstellt. Übergreifende Probleme werden per Audit erkannt und behoben. Im weiteren Verlauf wird diese Ebene der sprachlichen Einfachheit zuliebe auch als operatives Management bezeichnet.
Strategische Management-Ebene: Diese erkundet die Umwelt und bereitet die Organisation auf kommende Veränderungen vor, indem es vorrausschauend-vernetzt denkt und die Dynamiken der In- und Umwelt sichtbar und damit beschreibbar macht. Diese Ebene verantwortet strategische Szenarien und arbeitet mit Frühindikatoren, um rechtzeitig Maßnahmen langfristiger Natur in Gang zu setzen. Ebenso ist sie der Ort für Innovation und das Austesten neuer Opportunitäten. Es geht um die langfristige Entwicklung eines Unternehmens.
Normative Management-Ebene: Die letzte Ebene bildet den «Ethos» des Systems ab und die darin enthaltenen Themenkomplexe wie den «Sinn und Zweck» (Purpose), die Identität, die Vision und die Werte der Organisation. Dieses Teilsystem entfaltet im optimalen Fall den sozialen Klebstoff (Kohäsionskräfte) und hält «den Laden» zusammen.
In Abb. 2.2 sind diese Funktionen zu einem Ganzen zusammengefügt. Sie ergeben ein Lenkungssystem, dessen Komponenten nummeriert sind und die Systeme 1 bis 5 abbilden. [51]
Abbildung 2.2 Stark vereinfachte Darstellung des Viable System Model von Stafford BEER (1972)
Das VSM gibt unserem Buch die Struktur vor.
Nach dieser ersten groben Beschreibung des Modells wird nachvollziehbar, warum wir uns für die vorliegende Struktur dieses Buches entschieden haben. Hierbei haben wir bewusst dafür gestimmt, den Aufbau «von oben» zu beginnen, also beim Management zu starten und erst zum Schluss auf operative Themen einzugehen.
Im 3. Kapitel befinden wir uns daher auf der normativen Management-Ebene. Hier steht der Wertbeitrag des Unternehmens im Mittelpunkt. Welche Freiräume hat es, welchen Sinn und Zweck («Purpose») verfolgt es, welche Vision wird zum Kompass, und wie soll letztlich der Erfolg des Unternehmens beurteilt werden? Zentrales Instrument ist hier die Public Value Scorecard.
Im 4. Kapitel wird aufgezeigt, wie Strategien entwickelt und erfolgreich umgesetzt werden. Komplexe Systeme und ihre Dynamiken werden in ihren Zusammenhängen derart abgebildet, dass sie verstanden und ihre Hebelpunkte identifiziert werden können. Hier kommt das Vernetzte Denken als Werkzeug zum Zug.
Im 5. Kapitel schließlich steht auf der taktisch-operativen Ebene des VSM die Zusammenführung von Ansätzen des Lean- und Agile-Thinking zu einer ganzheitlichen [52] Sicht auf organisationale Wertströme, Liefertreue und Qualität im Vordergrund. Hier wird das VSM anhand von Praxisbeispielen weiter vorgestellt.
Mit dieser Struktur möchten wir nicht nur Stafford Beer, dem Begründer des VSM, die Ehre erweisen, sondern auch demonstrieren, dass wir Denkwerkzeuge nicht nur empfehlen, sondern sie auch selber anwenden. Es gilt: «Eat your own dogfood.»
Das Viable System Model stellt sich den aktuellen Moden der Unternehmensorganisation.
Nicht ohne Grund könnte ein Kundiger des VSM behaupten: Bisherige Versuche, neue Organisationsmodelle zu entwickeln, behandeln in ihren Lösungsansätzen nur die Symptome, aber nicht die Ursachen von «kranken» Organisationen. Es bleibt bei vielen «modernen» Ansätzen nur bei einer oberflächlichen Betrachtung der Pathologie, anstatt die basalen Ordnungsmuster der Organisation zu verstehen, um dann in die Tiefenbohrung zu gehen und Aspekte wie Entscheidungs- und Kommunikationsmuster, Informationsverbreitungs- und -speicherungs-Medien oder Zielfindungsprozesse zu untersuchen. Es werden häufig nur Teilaspekte von organisationalen Problematiken behandelt, aber eben kein erweiterter Blick auf das Gesamtsystem gerichtet. Es entstehen am Ende doch wieder die funktionalen Silos, die keiner wollte, und die politischen Ränkespiele, die mehr Schaden als Nutzen fürs Ganze anrichten, wie folgende Beispiele zeigen.
Der Ansatz der Holakratie – als kommerzieller Ableger der Soziokratie – (ROBERTSON, 2016) fokussiert sehr stark auf die Organisation von Kommunikationsmustern, die nach «Themen» bzw. Kreisen gegliedert werden. In dieser Governancestruktur kommen vordefinierte Rollen hinzu, um den Austausch zwischen den unterschiedlichen Kreisen sicherzustellen sollen. Dieser grundsätzlich interessante Ansatz, der soziale Systeme als Kommunikationen von Individuen versteht, greift jedoch zu kurz, da er Aspekten wie der Umwelt und der Lieferung von Mehrwerten nur unzureichend Rechnung trägt. Berichte aus der Praxis sprechen von einer Vervielfachung der Rollen für den Einzelnen, sodass eine entsprechende Verwirrung vorherrscht und es unklar ist, welche Aufgaben in welchem Kontext von einem Individuum erledigt werden sollen. Dieses Problem wird noch dadurch verstärkt, dass in der Holakratie eine Verfassung (Constitution) eingeführt wird, in welcher die Eigentümer freiwillig auf Befugnisse verzichten sollen, Eingriffe in subsidiäre Kreise vorzunehmen, da diese sich eigenständig konstituieren müssen. Interessanterweise kommt in der Mustervorlage einer holakratischen Verfassung nicht einmal das Wort Kunde vor. Aus unserer Sicht zeigt sich hier die dunkle Seite der Selbstorganisation, in welcher ein überbordendes Regelwerk zum Selbstzweck verkommt. Brian Robertsons [53] Metapher vom Betriebssystem einer Organisation ist letztendlich eine unzulässige Vereinfachung, die in verzwickter Kompliziertheit endet. Hier wird deutlich, wie eine falsche Interpretation von organisationalen Zusammenhängen zu einer Bürokratie ausarten kann und sich die bekannte Methodenhörigkeit im negativen Sinne auslebt – ganz so, als wenn die pure Anwendung eines Werkzeugs ein Erfolgsgarant wäre.
Die Kritik bezüglich der eindimensionalen Betrachtung betrifft genauso den Adhokratie genannten Ansatz, der das Problem der Entscheidungsfindung in einer vorgegebenen Zeit adressiert. Dieser von Alvin TOFFLER (1970) als Denkfigur ins Spiel gebrachte und von Henry MINTZBERG (1989) weiterentwickelte Denkrahmen setzt auf eine maximale Autonomie von peripheren, kundennahen Einheiten und einer minimalen zentralen Struktur. Dieser grundsätzlich löbliche Ansatz geht jedoch in der Praxis häufig zu Lasten der Kohäsionskräfte der Organisation, sodass es nur sehr wenigen derartig aufgestellten Unternehmen gelingt, zu einem gemeinsamen Ziel hinzustreben.
Was macht das Viable System Model so einzigartig?
Das VSM zeigt die Meta-Strukturen und deren Zusammenhänge jeder Organisation auf. Das VSM verhilft zu einer konsolidierten Ansicht, wie die zuvor benannten Management-Ebenen einer lebensfähigen Organisation im Wechselspiel verstanden und genutzt werden können.
Über die Strukturen hinaus enthält das Modell die grundlegenden Kommunikationsmuster, um die Teilsysteme zu einem Ganzen zu verbinden. Z. B. sind im VSM Managementaspekte wie KPIs/Kennzahlen, Zielfindungsprozesse oder Ressourcenverhandlungen explizit berücksichtigt.
Das Modell löst das Paradoxon «Lokal vs. Zentral» auf und integriert Selbstorganisation und übergreifende Strukturen zu einem Gesamtkonstrukt (im Fachjargon horizontale und vertikale Varietät genannt). Es gibt nicht vor, wie die Meta-Strukturen im Detail betrieben werden sollen, aber es vermittelt die Konsequenzen, wenn z. B. die strategische Ebene nicht zuverlässig bespielt wird. Das Modell bleibt also selbst offen und enthält damit keine Checklisten oder fertigen Management-Rezepte.
Ein wesentlicher Punkt zum Verständnis des VSM besteht darin, die enthaltene hierarchische Ordnung (gemäß Verantwortung) nicht als ein «Ober sticht Unter» zu interpretieren, sondern die Ebenbürtigkeit jedes Elements zu verinnerlichen. Jedes Element ist für sich genommen wertlos – nur das Zusammenspiel der Einzelteile ermöglicht die Entfaltung der in der Organisation enthaltenen Potenziale. Mithin fordert das VSM einen gesamtheitlichen Blick auf das «große Ganze», um lokale Minima in der Organisation zu reduzieren und stattdessen das Gesamtmaximum eines Systems zu erschließen. Dies im Hinblick auf das übergreifende Regulativ «Lebensfähigkeit und Entwicklung». [54]
Wahrscheinlichkeit statt Wahrheit
Es sei ergänzend darauf hingewiesen, dass das VSM für Systeme geeignet ist, die eher in einem von Wahrscheinlichkeiten geprägten Kontext operieren, also von einem bestimmten Grad an Unsicherheit bestimmt sind. Diese Unsicherheit resultiert zumeist aus einem unbeständigen Umfeld, ganz gleich ob die Volatilität aus dem Markt heraus, von der spezifischen Branche oder von sonstigen Faktoren wie der technologischen Entwicklung bestimmt ist. Die Planbarkeit von unternehmerischen Vorhaben kann also nur auf Wahrscheinlichkeiten beruhen; es gilt, ein mechanistisches Verständnis der Welt zu vermeiden. Diese Haltung ist zutiefst mit einem verantwortungsvollen Gebrauch des Modells verbunden.
Der Praxistest: Von den Denkmustern zur Landkarte
Zur abschließenden Beurteilung des VSM werden die fünf Denkmuster des 1. Kapitels herangezogen, um die Praxistauglichkeit unseres gewählten Ansatzes zu ermitteln.
1.Die optimale Vereinfachung von Komplexität
Die Originaldarstellung des VSM wirkt bei der ersten Begegnung zuweilen sehr detailliert, doch im Kern geht es eigentlich nur um ein paar Handvoll funktionaler Elemente, die man in ihrer Vernetzung erfasst haben sollte, um mit dem VSM sinnvoll arbeiten zu können. Zum weiteren Verständnis des VSM sind zusätzlich noch vier Prinzipien des Managements, drei Axiome und ein Gesetz zu verstehen, und schon hat man das Rüstzeug zur Hand, um loszulegen. Abschließend sei noch angemerkt, dass das Modell selbst rekursiv aufgebaut ist und eine fraktale (selbstähnliche) Struktur besitzt. Durch diesen Aufbau folgt es der im 1. Kapitel vorgestellten Idee der russischen Puppen – eleganter geht es nicht.
2.Die Perspektive der russischen Puppen
Das Modell enthält über die oben genannten Elemente hinaus auch eine umfassende Beschreibung der Umwelt, in welche das lebensfähige System eingebettet ist. Es wird also nicht wie in so vielen Organisationsmodellen der Fehler begangen, die Umwelt und die relevanten Anspruchsgruppen zu ignorieren. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass im Agile- und Lean-Kontext der Kunde als Anspruchsgruppe zwar prominent genannt wird. Das VSM geht aber noch weiter und macht es möglich, systematisch die in den Denkmustern identifizierten Stakeholder zu integrieren. Das VSM erlaubt damit einen erweiterten Blick auf die vielfältigen Beziehungen, die eine Organisation mit der Umwelt unterhält. Ebenso [55] gilt die Perspektive der russischen Puppen für die Innensicht eines Unternehmens, wie später noch zu erläutern sein wird –man trifft auf das Phänomen einer selbstähnlichen Struktur, die an ein Fraktal erinnert.
3.Die Einheit von Freiheit und Verantwortung
Hier offeriert das VSM gleich zwei Perspektiven, welche gesamtheitlich betrachtet werden sollten. Zum einen ist da die Frage nach der Gestaltung von Freiräumen und Verantwortung innerhalb der Organisation, zum anderen das Auftreten und Verhalten in der Umwelt. Bezüglich der ersten Frage zeigt das Modell, dass es stets um die richtige Balance aus Selbstorganisation in der Operation und passender Zentralität in den Managementprozessen gehen muss, damit ein nachhaltiges Gesamtoptimum möglich ist. Ebenso ist es mit dem Modell möglich, die externen Anforderungen an Compliance und darüberhinausgehend auch bezüglich des Gemeinwohls sichtbar zu machen. In diesem Kontext fungiert das VSM als dialektisches Hilfsmittel und wirkt dabei wie eine «Landkarte der Organisation». Dies ermöglicht die Katalyse von Diskursen rund um die Frage nach Freiheit und Verantwortung aus einer Helikopterperspektive.
4.Im Zentrum der Mensch
Das VSM operiert «ad rem» (von der Sache her), sodass es im Modell zunächst keine Menschen per se gibt. Es geht darum, Aufgaben zu erledigen; den Zweck der Organisation zu «produzieren». Hierfür werden Fähigkeiten gebraucht, um die verschiedenen Teilsysteme der Lebensfähigkeit verantwortungsvoll zu betreiben. Dies schließt natürlicherweise im 21. Jahrhundert die Symbiose von Mensch und Maschine ein, wie diese bereits in der Einleitung beschrieben wurde. Erst die Kombination der Stärken und Schwächen von Mensch und Maschine erlaubt die effektive und effiziente Herstellung von Mehrwerten in Form von Produkten oder Dienstleistungen. Dies ist im Grundsatz im VSM enthalten und soll in der nächsten Antwort weiter ausgeführt werden.
5.Die ganzheitliche Erfolgsmessung
Der Clou zum Verständnis des VSM besteht darin, das Modell als eine Meta-Informationsarchitektur zu verstehen, die in jedem lebensfähigen System zu finden ist. Man könnte das Modell auch als ein Meta-Kommunikationsnetzwerk interpretieren, um aus eingehenden Daten die notwendigen Informationen zu extrahieren, um diese zu organisationalem Wissen und letztendlich in Weisheit münden zu lassen. Man stelle sich dabei das Modell nicht nur als statische Darstellung vor, sondern als ein pulsierendes Gebilde, in welchem permanent Daten fließen und als Informationen verarbeitet werden.
Stafford BEER (1985) hat zur Harmonisierung der verschiedenen Planungsebenen, die sich aus der Struktur der Teilsysteme ergeben, die Bewertungslogik von Abb. 2.3 in das VSM integriert. [56]
Abbildung 2.3 Bewertungslogik des Viable System Model nach Beer (1985)
Aktual: die aktuellen Fähigkeiten, so wie diese vorhanden sind und zur Wertschöpfung im Moment genutzt werden. Die Optimierung des Aktuals obliegt der lokalen Regulation in Zusammenarbeit mit dem lokalen Management.
Fähigkeit: das Leistungsvermögen, das erzielt werden könnte, wenn mit den gleichen Ressourcen, aber perfekter innerer Organisation operiert werden würde. Fällt in die Verantwortung des taktisch-operativen Teilsystems.
Potenzial: die theoretisch möglichen Ergebnisse, wenn sowohl die interne Organisation als auch die Verbindung zur Umgebung (also den Kunden) sehr gut funktioniert. Es werden die realistisch erreichbaren Kennziffern ermittelt und nicht irgendwelche Fantasiewerte. Diese Kennziffern werden im Wesentlichen vom System 4 (Strategie) evaluiert und in die Rechnung eingebracht. Das VSM entspricht damit den Anforderungen der fünf Denkmuster, so dass es im nächsten Schritt in Aktion vorgestellt werden kann.