Kitabı oku: «Tödliche K. I.», sayfa 2
Kapitel 2
Freitag, 9. Oktober 2020 – Wilhelmsruh, Berlin
Von der Uni machte sich Jana direkt auf den Weg zu ihrer Wohnung in Wilhelmsruh im Norden Berlins. Die halbe Stunde in der S-Bahn nutzte sie, um die Unterlagen durchzusehen, die sie von Lüneburger bekommen hatte. An einem Artikel über einen islamistisch motivierten Terroranschlag las sie sich fest. Das Bekennerschreiben war von einer Splittergruppe um einen Mann, der sich »Fackel der Gerechtigkeit« nannte. Er hatte bereits vor diesem Anschlag zweifelhafte Berühmtheit erlangt: Zwei Jahre zuvor hatte er in Jordanien eine Familie aus Großbritannien entführt, Touristen, die im Nahen Osten unterwegs gewesen waren. Er hatte sie eigenhändig vor laufender Kamera enthauptet und die Videos über das Internet verbreitet. Nun brüstete sich der Terrorist mit einem Bombenanschlag auf eine Mädchenschule in Syrien, bei dem über 50 Kinder getötet oder schwer verletzt worden waren. Beim Betrachten der beiliegenden Fotos von toten und verstümmelten Kindern würgte es Jana im Hals. Sie klappte die Mappe zu und starrte bis zum Bahnhof Wilhelmsruh aus dem Fenster, allerdings gelang es ihr nicht, die schrecklichen Szenen zu verdrängen. In Wilhelmsruh angekommen stieg sie aus. Auf dem Bahnsteig blies ihr ein kräftiger Nordwind ins Gesicht. Jana fröstelte und schlug den Kragen ihrer Jacke hoch. Die frische Luft lenkte sie ab und ließ die Bilder in ihrem Kopf verblassen. Ihre Gedanken wanderten zum Vortrag. Außer Frage stand, dass sie etwas zum islamistischen Terror bearbeiten musste. Sie beschloss, ihren Vortrag mit einem Propagandavideo der ›Fackel‹ einzuleiten, um ihre Zuhörer durch den Schock vom ersten Augenblick an zu packen. Dann ein paar Daten und Fakten, um die Dimension der Auseinandersetzung klarzustellen, gefolgt von den verschiedenen Sichtweisen der Parteien auf den Kernkonflikt. Je länger sie sich ausmalte, die kruden Hirngespinste zu entwirren, aus denen sich die Weltsicht solcher Terroristen zusammensetzen musste, desto stärker berauschte sie die Vorstellung, wie Professor Lüneburger ihren Vortrag gebannt verfolgen würde. Ein Glücksgefühl durchströmte sie bei dem Gedanken, mit glasklarer Logik die Anschauungen der Terroristen zu sezieren. Im gleichen Moment verstand sie, auf welchen Abwegen sich ihre Fantasie befand, und der Rausch verschwand genauso schnell, wie er gekommen war.
Sie blieb stehen, sah nach oben in die Kronen der Linden, die am Straßenrand standen. Als sie sich gesammelt hatte, ging sie langsam weiter.
Laut Lüneburger ging es darum, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass man »die Guten« war. Die »Fackel« – einer »der Guten«? Jana schüttelte den Kopf. Die Islamisten behaupteten von sich, einen heiligen Krieg zu führen. Konnte irgendjemand glauben, dass Gott es guthieße, Unschuldige umzubringen? Wodurch fühlte sich die ›Fackel‹ von Gott beauftragt, auf bestialische und heimtückische Art Kinder zu töten? Ging es gar nicht um Gott, sondern bloß um Macht? Darum, die Leute durch Angst gefügig zu machen?
Jana merkte, dass sie es drehen und wenden konnte, wie sie wollte: Um die Denkweise der »Fackel« zu verstehen – irgendeine innere Logik musste es ja geben –, konnte sie nicht umhin, mit seinesgleichen zu reden. Sie sah das Bild vor sich: die »Fackel«, der abgeschlagene Kopf der Engländerin, ein Lächeln für die Kamera. Nein, diesen Menschen tatsächlich gegenüberzutreten, von Angesicht zu Angesicht mit einem von ihnen zu sprechen, kam nicht infrage. Aber sie musste irgendwie mit ihnen in Kontakt kommen. Sicher würde man ihr gehörig auf den Zahn fühlen, was sie denn bezwecke. Und ebenso sicher war, dass sie besser nichts von ihrer Seminararbeit erzählte, weil diese Leute sich an fünf Fingern abzählen konnten, dass Jana darin kein Loblied auf sie singen würde – und im gleichen Moment wurde ihr noch etwas klar: Genau dies war die Art von Recherche, vor der Professor Lüneburger sie gewarnt hatte. Auch wenn es bloß um einen Seminarvortrag in der Uni ging: Diese Menschen gingen über Leichen, und Jana hatte keine Lust, die Nächste zu sein. Auf welche Art kam man an die ›Fackel‹ und ähnliche Leute heran, und vor allem, wie tat man das, ohne sich in Gefahr zu bringen?
Kurz darauf erreichte Jana den fünfgeschossigen Altbau aus DDR-Zeiten, in dem sich ihre Wohnung befand, schloss die Eingangstür auf und stieg die Treppe zum zweiten Stock hinauf. Oben angekommen steckte sie den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn zweimal, trat durch die schmucklose Wohnungstür, hängte ihren Mantel auf einen Haken und drückte die Tür mit dem Ellbogen zu. Dann ging sie ins Wohnzimmer, wo sie ihren Rechner in der Dockingstation einrastete und anschaltete, und von da aus weiter in die Küche.
Zur Feier des Tages einen Tarrazú aus Costa Rica, sagte sie sich, schüttete die Bohnen in die Kaffeemühle und drehte den Startknopf. Den habe ich mir verdient.
Genießerisch sog sie den Duft des frisch gemahlenen Kaffees ein und leerte den Siebträger der Espressomaschine mit einem harten Schlag auf den Rand des Mülleimers. Anschließend füllte sie den Metalleinsatz mit frischem Pulver, presste das Kaffeemehl sorgfältig an und schraubte das Sieb ein. Die Zeit, in der die Maschine auf die nötige Temperatur heizte, nutzte sie, um schnell bequeme Sachen anzuziehen und ihre Whatsapp-Nachrichten zu überfliegen. »Cocktailparty heute Abend im Hoppegarten – ganz schick«, stand da von Wibke. »Wann soll ich dich abholen?«
»Mensch, Wibke, ich muss arbeiten!«, stöhnte sie, vertagte das Absagen aber auf später und schob das Telefon zurück in ihre Gesäßtasche, weil in diesem Moment die grüne Lampe an der Espressomaschine aufleuchtete. Jana zapfte ihren Kaffee in ein kleines Tässchen und balancierte es auf einer Untertasse zu ihrem Rechner. Routinemäßig sah sie noch schnell bei Facebook und in ihren E-Mails nach, ob etwas Wichtiges anlag, doch außer der Nachricht, dass ihre Vorstellung in der Whiskybar auf morgen verschoben war, fand sie nur Belangloses und Spam. Jana trank einen Schluck von ihrem Espresso und atmete tief durch.
»Dann wollen wir mal!«, erklärte sie dem Rechner.
Die nächsten Stunden vertiefte sie sich derart in die Durchforstung des Internets nach Begriffen wie »asymmetrischer Krieg«, »Mudschahedin«, »Terroristen«, »Freiheitskampf« und »Guerilla« in allen möglichen Kombinationen mit Begriffen wie »Propaganda«, »Image« oder »Zustimmung«, dass sie sogar vergaß, ihren Kaffee auszutrinken. Dennoch fand sie nichts, was ihr nützlich erschien. Allmählich bezweifelte sie Lüneburgers Aussage, dass sie mit konventioneller Recherche viel mehr fände, als sie brauchte. Im Augenblick wäre sie froh, wenn sie überhaupt etwas Verwertbares im Netz zutage fördern würde. Ernüchtert schob Jana den Rechner von sich, rieb sich die Augen und blies die Backen auf. In ihren Ohren summte es, was ihr auch nicht dabei half, nützliche Ideen zu entwickeln.
Ihr Handy begann zu vibrieren. Sie zog es aus der Gesäßtasche und sah auf der Anzeige, dass es Wibke war. Mit schlechtem Gewissen nahm sie den Anruf an.
»Mensch Jana, hast du meine Nachricht nicht gelesen?«, beschwerte sich Wibke.
»Doch, aber …«
»Weißt du schon, was du anziehst?«, erstickte ihre Freundin jeden Widerstand im Keim. »Am besten wäre ein scharfes Cocktailkleid und ein abgefahrener Hut. Wart mal, bis du mich siehst!«
Dass sie absagen könnte, fand Wibke offenbar undenkbar.
Wahrscheinlich tut mir ein wenig Abwechslung sogar gut, um auf andere Gedanken zu kommen, überlegte Jana. Hier bin ich sowieso in einer Sackgasse.
»Einen Fummel, der als scharfes Cocktailkleid durchgehen kann, hätte ich sogar«, sinnierte sie laut. »Aber ich habe in meinem Leben noch keinen Hut getragen!«
»Ohne Hut bist du auf der Rennbahn quasi nackt. Das geht gar nicht. Aber mach dir keine Gedanken. Ich bringe dir einen mit.«
Das Telefon noch in der Hand blickte Jana an sich herunter. Die Schlabberklamotten waren bequem, aber außerhalb der eigenen Wände unpassend. »Uuups, so kannst du unmöglich auf der Rennbahn auftreten, liebe Jana!«, kicherte sie. Mit einem Mal verspürte sie richtig Lust auf die Party.
Sie trällerte »Jour 1« von Louane, tänzelte gut gelaunt unter die Dusche und schlüpfte anschließend in ein figurbetontes, enggeschnittenes Kleid. Ihre dunkelbraunen Haare föhnte und bürstete sie, bis sie glänzten. Die Frisur hatte sie bei Sandra Bullock abgeschaut, mittellang, glatt, offen, mit Seitenscheitel – ohne großen Aufwand und doch so hübsch, dass sie sich wohlfühlte. Sie schminkte sich gerade, als die Anzeige ihres Handys wegen einer neuen Nachricht aufleuchtete. Wibke wartete unten vor der Tür. Schwarze Pumps vervollständigten ihr Outfit und Minuten später glitten sie in Wibkes Sportwagen durch Berlin in Richtung Osten.
Der Roadster war kein halbes Jahr alt, roch fabrikneu, und die cremefarbenen, unglaublich bequemen Ledersitze zeigten nicht die geringsten Gebrauchsspuren. Auf Jana, die nach der Trennung ihrer Eltern in sehr einfachen Verhältnissen aufgewachsen war, wirkte das Ganze geradezu unwirklich. Das Gefühl verstärkte sich, als sie auf der Rennbahn eintrafen. Wibkes riesigen, mit Reiherfedern geschmückten Hut auf dem Kopf schwebte Jana neben ihrer Freundin in die Bar des Rennklubs. Drinnen tummelten sich elegante Damen, die allesamt exotische Kopfbedeckungen trugen, neben Herren in Tweed-Jacketts. Die Atmosphäre wirkte eine Spur aus der Zeit gefallen. Sie kam sich vor wie eine Komparsin in einer Filmszene, die in Ascot spielte. Die Bedienung empfing sie mit der Frage: »Champagner? Roederer oder Krug?«
Jana fühlte sich in der fremden Welt der jungen Berliner Oberschicht wie auf einer Safari. Wibke stellte sie anfangs einigen Bekannten vor, verschwand aber bald in der Menge, um Freundinnen mit Küsschen zu begrüßen und vermutlich den jüngsten Tratsch und Klatsch auszutauschen. So ließ sich Jana die längste Zeit des Abends allein durch die Glitzerwelt der Reichen treiben und kostete zum ersten Mal in ihrem Leben Champagner. Sie fand es anregend, aber sie scheute sich, die Sicherheit ihres imaginären Safari-Jeeps zu verlassen, bevor sie die Gefahren dieser Wildnis einschätzen konnte. Für diesmal, tröstete sie sich und griff sich ein neues Glas vom Tablett eines Kellners, der gerade an ihr vorbeikam. »Türen stehen dir offen, Jana. Ob du hindurchgehst, wird sich finden!«, sagte sie leise zu sich selbst, schnupperte an ihrem Glas und trank einen Schluck. Krug-Champagner ist meine Marke, beschloss sie und lächelte glücklich.
Später am Abend schwebte Wibke auf sie zu.
»Jana, da bist du ja! Ich suche dich die ganze Zeit.« Wibke kam ganz dicht an ihr Ohr. »Würde es dir etwas ausmachen, dir eine andere Fahrgelegenheit für die Rückfahrt zu besorgen? Es kostet dich ein Lächeln – lauter gute Partien um dich herum!«
»Kein Problem, ich finde alleine heim!« Jana machte eine großzügige Geste, bei der sie kurzzeitig ein wenig das Gleichgewicht verlor. Der Champagner war tückisch.
»Soll ich dir Per vorstellen?«, unterbrach Wibke ihre Gedanken und zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Den kenne ich aus Hamburg. Ganz nett, schließt gerade sein BWL-Studium ab und steigt später bei seinem Vater in die Reederei ein. Er hat mich eben gefragt, wer denn meine schöne Freundin wäre. Der Gute hat uns zusammen reinkommen sehen und traut sich nicht, dich anzusprechen – weil du so unnahbar wirkst und alle abblitzen lässt.«
Über Wibkes Schulter hinweg sah sie einen schmalgesichtigen Mann, der ihr schüchtern zulächelte. Er sah nicht schlecht aus und hatte in jedem Fall auf eine plumpe Anmache verzichtet. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, die Recherche für den Vortrag zu verschieben und sich mit Per einen schönen Abend zu machen, verwarf den Gedanken jedoch sofort. Ihr Studium abzuschließen, um auf eigenen Füßen zu stehen, war wichtiger als Kontakte in die High Society. »Du, danke, ein anderes Mal gerne. Ich nehme die S-Bahn. Wollte sowieso noch etwas arbeiten, und das passt bestimmt nicht in Pers Pläne.«
Als Jana kurz nach Mitternacht ihre Wohnung aufschloss, fühlte sie sich ausgelassen und unbeschwert. Der Schampus war ihr im Laufe der Fahrt noch mehr in den Kopf gestiegen. »… irgend so ein Schnucki mit ’ner Riesenjacht …«, trällerte sie den Ohrwurm, der sich im Hoppegarten in ihrem Kopf festgesetzt hatte, warf ihren Mantel mit Schwung auf den Haken in der Diele und ging ins Wohnzimmer. Dort klappte sie ihren Rechner auf, ließ sich auf ihren Bürostuhl plumpsen und drückte den Startknopf. Ihr war ein wenig schwindlig. Sie massierte ihre Stirn, zog die Hände bis zu den Wangen nach unten und spähte über die Fingerspitzen auf den Bildschirm. Er zeigte verschiedene Artikel zur »Fackel der Gerechtigkeit«.
»Na, ›Fackel‹, wie bist du so drauf?« Ihre Ängste vom Nachmittag kamen ihr kleinmütig vor. Sie dachte an die gelassen zur Schau getragene Selbstsicherheit der Partygäste im Hoppegarten. Wer nichts wagt, der nichts gewinnt, hieß es schließlich nicht umsonst. Ja, natürlich musste sie ausreichenden Sicherheitsabstand halten. Das änderte nichts an der Tatsache, dass sie herausfinden musste, was solche Leute zu derartig abscheulichen Taten trieb. Jana griff nach der Espressotasse, die vom Nachmittag noch halbvoll neben ihrem Rechner stand. Der Kaffee war natürlich längst kalt. Es schüttelte sie, als die bittere Flüssigkeit durch ihre Kehle rann.
»Wir gehen auf Nummer sicher.« Erfüllt von Zuversicht, das Richtige zu tun, rief sie »web.de« auf, um sich eine neue E-Mail-Adresse anzulegen. Mit einer unauffälligen Adresse bei einem der größten Anbieter kostenloser E-Mail-Kennungen würde sie kein Aufsehen erregen. Welchen Namen geben wir der Kennung?
»Wer bin ich, ›Fackel der Gerechtigkeit‹?«, murmelte Jana. »Wer bin ich? Jedenfalls geht dich das nichts an.«
Tante Greta sagte immer, egal ist 88, erinnerte sich Jana. Zweimal 88 ist scheißegal.
Mit der Kennung »wbi8888« – wer bin ich? Scheißegal! – konnte sie die »Fackel der Gerechtigkeit« aus sicherer Entfernung ausforschen und herausfinden, wie er und seine Anhänger tickten.
Das Anlegen der E-Mail-Kennung dauerte keine zwei Minuten. Die Anmeldemaske fragte nach ihrem Namen, ihrer Adresse und ihrem Geburtsdatum. Jana kicherte, als sie »Joachim Müller«, »5.6.1987« und »München« eintrug.
»Jana, du hast einen Schwips«, gluckste sie, nachdem sie die Maske fertig ausgefüllt hatte, und ließ ihren rechten Zeigefinger mit einer weit ausholenden Bewegung am gestreckten Arm auf die Enter-Taste fallen. »So, ›wbi8888‹, die Jagd kann losgehen!«
Anschließend richtete sie sich ein weiteres Postfach auf ihrem Rechner ein, um bequemer auf die Nachrichten der neuen Mailadresse zugreifen zu können. In mehreren einschlägigen Foren stellte sie ihre Fragen und forderte die Fackel und seine Unterstützer auf, »wbi8888@web.de« Rede und Antwort zu stehen. Dann klappte sie den Rechner zu und ging schlafen. Es war Viertel nach drei, und ihr Kopf brummte nicht nur vom Alkohol.
Als Jana am nächsten Morgen auf ihren Wecker blickte und sah, dass es schon fast elf war, war sie schlagartig hellwach. Hektisch sprang sie auf, duschte und schlüpfte mit nassen Haaren in ihre Kleider. Um zwölf war ihr Vorstellungsgespräch in der Whiskybar »Fàilte!«, wozu sie auf keinen Fall zu spät kommen wollte. Sie hatte schon den Mantel in der Hand, um hinaus in Richtung S-Bahn zu stürzen, als sie wieder an ihre Anfragen aus der letzten Nacht dachte. Hin- und hergerissen spähte sie ins Wohnzimmer, wo der Laptop zusammengeklappt auf dem Schreibtisch lag.
»Okay, zwei Minuten«, genehmigte sie sich und flitzte zu ihrem Arbeitsplatz, um unter »wbi8888@web.de« nachzusehen, ob sich bereits etwas getan hatte. Ihr fiel auf, dass der Rechner eigenartig heiß war und der Lüfter auf vollen Touren lief. Dabei war sie sich sicher, dass sie ihn wie immer in den Bereitschaftsmodus heruntergefahren hatte. Mit fliegenden Fingern rief sie das neue Postfach auf und stellte fest, dass sie tatsächlich zwei E-Mails erhalten hatte. Ihr Herz klopfte, als sie die erste öffnete.
von: Abu Mujahed <abumujahed@gmail.com>
an: wbi8888@web.de
Betreff: Streiter für die gerechte Sache!
Du willst für die Sache Gottes kämpfen? Schließ dich uns an! Wer bist du? Wo wohnst du?
Allahu akbar
Jana schluckte. Mit so einer Antwort hatte sie nicht gerechnet. Und sie würde mit diesen Leuten ganz sicher nicht direkt verkehren, selbst wenn sie nichts in Erfahrung brächte. Mit geringeren Erwartungen öffnete sie den zweiten Eingang.
von: Kameradschaft Achatz Hilger <kah@wsgh.net>
an: wbi8888@web.de
Betreff: Treffen
Kamerad, willst du mit uns für die gemeinsame Sache eintreten und die Ehre Deutschlands wiederherstellen?
Schließ dich uns an! Antworte auf diese E-Mail, damit wir wissen, wo wir dich treffen können.
HH, Achatz
Jana schüttelte den Kopf und löschte die beiden E-Mails. Sie stellte den Laptop auf Stand-by und klappte den Deckel zu. Der Lüfter schaltete auf höchste Drehzahl und pustete heiße Luft gegen ihre linke Hand, die auf der Schreibtischplatte lag. Der neue Rechner war doch nicht etwa kaputt? Um das herauszufinden, hatte sie jetzt keine Zeit. Wollte sie rechtzeitig zu ihrem Vorstellungsgespräch in der Bar sein, musste sie sich sputen.
Als Jana die Wohnung verließ, hatte sie das merkwürdige Verhalten des Rechners schon vergessen. Auf dem Weg nach unten rief sie ihre Tante Greta an, um von ihr noch schnell so viel wie möglich über Whisky zu erfahren. Greta war die einzige Person, die sie kannte, mit der sie über Kaffee fachsimpeln konnte, und Jana wusste, dass sie auf den Gebieten Käse, Wein und eben Whisky ähnlich gut beschlagen war.
Kapitel 3
Samstag, 10. Oktober 2020 – Friedrichshain, Berlin
Als Jana an der Whiskybar ankam, blieben ihr fünf Minuten Zeit bis zum vereinbarten Termin. Im spiegelnden Rauchglas der Eingangstür überprüfte sie ihr Äußeres und zupfte den Schal zurecht, mit dem sie für diesen Anlass frische Farben in ihre übliche bequem-lässige, eher schlichte Kleidung aus Kuschelpullover und Jeans brachte. Du hast genau eine Gelegenheit, einen guten ersten Eindruck zu machen, sagte Tante Greta immer. Neben der Tür hing die Getränkekarte. Jana stellte fest, dass das »Fàilte!« 117 verschiedene Whiskys, neun verschiedene Mineralwasser und drei reinsortige Kaffees führte. Entweder war das ein Laden ganz nach ihrem puristischen Geschmack oder völlig abgedreht. Sie sah auf die Uhr: zwei Minuten vor zwölf. Jana atmete tief durch und öffnete die Tür. Drinnen empfing sie eine gediegene Atmosphäre: dunkles Holz, lederne Clubsessel, Bilder von Golfspielern und Fliegenfischern.
Das sieht nach guten Trinkgeldern aus, freute sie sich.
»Fàilte, Jana!«, rief eine rauchige Stimme vom Tresen. »Ciamar a tha thu?«
»Wie bitte?« Jana krauste die Stirn und spähte zur Theke, doch sie konnte niemanden entdecken. Hinter dem Ausschank stand eine Tür offen, die in einen Lagerraum führte. Sie wollte gerade darauf zugehen, als ein Mann Anfang 40 in der Tür auftauchte, die Theke umkurvte und mit ausgestrecktem Arm auf sie zukam.
»Das ist Gälisch, die Sprache meiner Heimat Islay, und heißt ›Willkommen, Jana, wie geht es dir?‹«
Sein Deutsch war fehlerfrei, wenngleich mit einem starken Akzent, wobei sein gutturales R am meisten auffiel. Er überragte Jana fast um einen Kopf, seine roten Haare wallten ihm offen über die Schultern – und er trug einen Kilt. Seine Pranke packte ihre Hand, und Jana unterdrückte einen Schmerzenslaut.
»Danke, mir geht es gut«, erwiderte sie und knetete verstohlen ihre Fingerknöchel. »Und ich bin beeindruckt: Sie haben ja eine imposante Karte, Herr Bayne. Ich bin wirklich beeindruckt.«
»Das freut mich zu hören! Nenn mich bitte Iain und sag du zu mir. Förmlichkeiten vertragen sich nicht mit dem Genuss edlen Whiskys.«
Iain und seine Bar gefielen Jana immer besser, und sie hatte den Eindruck, dass auch er sie mochte. Er bat sie mit einer einladenden Geste an den Tresen, was ihr das Gefühl gab, den Job so gut wie in der Tasche zu haben. Jana setzte sich auf den Stuhl, den Iain ihr zurechtschob, reckte den Hals und sah ihn offen an.
»Ich hoffe, du kennst dich mit Whisky aus?«
»Hmm, ich denke schon.«
»Malt, Single Malt, Blend, Bourbon?«
Bei jedem der Begriffe nickte Jana zustimmend.
»Kennst du den Unterschied zwischen Whisky und Whiskey mit ›e‹?«
»Klar, der mit ›e‹ ist aus Irland«, antwortete sie.
»Und, kannst du darüber ein bisschen ausführlicher erzählen?«
Sie sah Iain fragend an.
»Irischer Whiskey, schön, aber das reicht mir nicht. Was ist das Besondere daran? Pot Still? Grüne Gerste?« Seine Stimme bekam einen ungeduldigen Unterton, der Jana unwillkürlich an die des Fremdprüfers in ihrer mündlichen Abiturprüfung erinnerte. Als sie nicht antwortete, sah er fast enttäuscht auf sie herab. Janas Gesicht glühte auf. Nach der halbstündigen Druckbetankung in Sachen Whisky-Wissen durch Tante Greta hatte sie sich als Expertin gefühlt. Jana versteifte sich. Kampflos wollte sie trotzdem nicht aufgeben.
»Okay, als Whisky-Expertin kann ich vielleicht nicht durchgehen.« Sie setzte ihr gewinnendstes Lächeln auf. »Aber unter Umständen kann ich Sie, äh, dich auf eine andere Art beeindrucken …«
Iain zog die rechte Augenbraue empor.
»Ich habe gesehen, dass du drei reinsortige Kaffees auf der Karte hast.«
»Ja, sicher. Meine Gäste sind anspruchsvoll.«
»Warum führst du drei sehr kräftige, eher säurereiche Sorten und keine einzige milde?«
»Was würdest du denn vorschlagen?«
»Vielleicht einen Maragogype, zum Beispiel aus Mexiko?«
»Oha, keine Whisky-, aber dafür Kaffeeexpertin? Haben deine Eltern eine Rösterei?«
»Nein«, erwiderte Jana, »das ist ein Tick von mir, den ich mir eigentlich nicht leisten kann. Faule Kompromisse hasse ich.«
»Du hasst also faule Kompromisse«, wiederholte der Barbesitzer und griff hinter sich in einen Schrank. Wortlos stellte er sechs Gläser vor sie und goss aus verschiedenen Flaschen ein.
»Ardbeg aus meiner Heimat Islay, The Glenlivet, Slyr, Yamakazi, Jameson – einer mit ›e‹.« Dabei lächelte er sie auf eine Art an, von der sie nicht hätte sagen können, ob sie spöttisch oder verschwörerisch war. »Und der Vollständigkeit halber etwas von dem grauenvollen Zeugs, das die Amis brennen.«
»Ein Bourbon?«
»Ja, Kentucky, Sour Mash. Probier den zuerst. Dann hast du es hinter dir.«
»Soll das heißen, dass ich den Job habe?«
»Wir können es ja mal miteinander versuchen«, sagte er gedehnt. »Aber du musst wissen, wovon du redest, dich mit Whisky solide auskennen. Mit zusammengegoogeltem Halbwissen vergraulst du mir meine Gäste.«
Geraume Zeit später trat Jana ins Freie. Der Whisky in ihrem Bauch wärmte sie so sehr, dass sie die kühle Luft kaum spürte. Sie hatte den Job und in ihrer Handtasche zehn Fläschchen ausgefallener Whiskys, die sie bis zu ihrer ersten Schicht kennen musste.
Am nächsten Morgen wachte Jana gegen acht auf und tappte im Halbschlaf in Richtung Küche, um sich einen Kaffee zu machen. Weil ihr aus dem Wohnzimmer ein seltsames Rauschen entgegendrang, bog sie ab und bemerkte, dass an ihrem Klapprechner ein gelbes Licht blinkte. Jana wunderte sich – normalerweise sah man an dem Rechner nur blaue und grüne Lichter – und trat näher heran. Sie hörte, dass der Lüfter wie verrückt arbeitete, hielt die Hand an die Lüftungsschlitze und zuckte zurück. Das Metallgitter war so heiß, dass sie sich fast verbrannt hatte, und das, obwohl der Computer im Bereitschaftsmodus nichts tun sollte.
»Was machst du denn für einen Unfug?«, grummelte sie und klappte den Laptop auf. Der Bildschirm war schwarz. Sie drückte den Startknopf, ihre Arbeitsfläche leuchtete auf und zeigte das, was sie auch am Vortag vor ihrem Aufbruch ins »Fàilte!« gesehen hatte. Probeweise verschob sie mit der Maus ein paar Fenster und öffnete eine Datei. Alles schien einwandfrei zu funktionieren. Sie zuckte mit den Schultern und klickte sich zu ihrem neuen Postfach. Heute Morgen gab es nicht nur zwei E-Mails auf »wbi8888@web.de«, sondern 48. Sie begann die Nachrichten zu lesen. Es waren durchgängig plumpe Anwerbeversuche von Islamisten oder Neonazis.
»Warum Islamisten und Neonazis und nicht zur Abwechslung Kommunisten oder Esoteriker?«, knurrte sie, ohne dass der Sarkasmus ihre Stimmung besserte. Die Sache wurde ihr unheimlich. Und überhaupt: Sie hatte sich in den Internetforen an Islamisten gewandt. Wieso belästigten sie auch Neonazis?
Verärgert legte sie die Stirn in Falten und schüttelte den Kopf. »Alles Deppen«, murmelte sie und löschte kurz entschlossen alle E-Mails auf einen Schlag. Danach saß sie einige Sekunden regungslos vor ihrem Rechner und lauschte dem Lüfter, der weiterhin auf vollen Touren lief. Weil ihr nichts Besseres einfiel, hob sie das Notebook an und prüfte, ob vielleicht Staub den Lüftungsschacht blockierte, doch sie fand nichts. Die Erkenntnis, praktisch nichts über ihren Computer zu wissen, ernüchterte sie. Sie spitzte die Lippen und stellte das Gerät zurück auf den Schreibtisch.
»Was soll’s. Ist ja noch Garantie drauf«, beruhigte sie sich und beschloss, das seltsame Verhalten fürs Erste zu übergehen. Wie meistens klickte sie sich zuerst auf ihre Facebook-Seite. Dort stand nichts Wichtiges, ebenso wenig bei Instagram oder in ihren E-Mails. Gerade wollte sie den Rechner ausschalten, als eine neue Nachricht in ihrem privaten elektronischen Postfach aufleuchtete. Sie öffnete die Nachricht und las:
von: Abu Mujahed
an: jyloewe@t-online.de
Betreff: Streiter für die gerechte Sache!
Jana, du möchtest für die Sache Gottes kämpfen? Schließ dich uns an! Willst du uns nicht sagen, wo du wohnst? Die Brüder in Berlin freuen sich darauf, dich kennenzulernen!
Allahu akbar
Jana stieß den Rechner von sich. Ihr Herz raste.
»Das darf nicht wahr sein! Wie um alles in der Welt sind die auf Berlin, an meinen Namen und an meine richtige E-Mail-Adresse gekommen?«