Kitabı oku: «Tödliche K. I.», sayfa 4
Kapitel 5
Samstag, 17. Oktober 2020 – Bruchmühlbach-Miesau bei Kaiserslautern
Am nächsten Morgen half Jana nach einem schnellen Frühstück bei den Vorbereitungen zur Feier. Der Tag verging, ohne dass sich eine Gelegenheit ergeben hätte, ihre Tante wegen Abu Mujahed und Achatz um Rat zu fragen. Für ihren Geschmack viel zu früh waren die ersten Gäste gekommen, und Jana stand mit ihrer Tante und drei weiteren Argentinien-Auswanderern an einem der kleinen runden Tische, die sie überall im Haus aufgestellt hatten.
Das Gespräch drehte sich ausschließlich ums Auswandern. Jana beteiligte sich nicht daran. Was Tante Greta ans andere Ende der Welt zog, blieb ihr schleierhaft.
»Mit dem Geld, das ich habe, kann ich in Deutschland nicht ordentlich leben, in Argentinien aber schon«, hatte ihr Greta lapidar auf ihre Frage geantwortet.
»Mein Chef hat mich gefragt, ob ich Tabletten nehme«, schimpfte Mandy, eine der drei Mit-Auswanderer. »Weil ich mein Konto aufgelöst hatte und mein Gehalt in bar wollte.«
Jana hatte ihr bislang nur mit halbem Ohr zugehört, aber immerhin mitbekommen, dass die Mittfünfzigerin aus Bautzen gerade ihre Eigentumswohnung auf den 18-jährigen Sohn überschrieben, Telefon und Handy abgemeldet sowie alle Computer entsorgt hatte, um so weit wie möglich aus der Datenerfassung zu verschwinden. Sie fand, man habe sich in der DDR genug überwachen lassen müssen und wollte das nicht mehr. Gerade erzählte sie, dass sie zum Abschluss ihre Stelle gekündigt hatte. Jana kräuselte die Stirn. Wie sollte man so jemanden ernst nehmen?
»Jana, dein Glas ist leer«, unterbrach Greta ihre Gedanken. »Darf ich dir etwas bringen?«
»Nein.« Jana zwinkerte ihr zu. »Ich komme mit!«
Jana folgte Greta in die Küche, wo sie sich an einer lautstark debattierenden Vierergruppe vorbei zu den Flaschen vorarbeiten mussten.
»Was magst du denn?«, fragte Greta, nachdem sie es bis zu den Getränken geschafft hatten.
»Kannst du mir etwas Schickes mixen?«, antwortete Jana mit einer Gegenfrage. Das hitzige Gespräch der vier in ihrem Rücken war nicht zu überhören.
»Mein Rechner ist Teil meiner Privatsphäre«, wetterte Georg, den sie von den Vorbereitungen fürs Fest kannte. Der kleine Mann mit dem graumelierten Vollbart war felsenfest davon überzeugt, im Gegensatz zu allen anderen den Durchblick zu haben. Er war die treibende Kraft hinter der örtlichen Bürgerinitiative gegen Fluglärm. »Da hat niemand etwas zu suchen!« Jana drehte den Kopf und beobachtete die Szene aus dem Augenwinkel. Georg sah seine Gesprächspartner beschwörend an, die Arme vorgestreckt, als wolle er sein Gegenüber an den Schultern packen. »Keine Polizei, kein Geheimdienst, und schon gar keine Unternehmen. Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Ich erwarte vom Staat, dass er meine Privatsphäre schützt!«
»Georg, du bist naiv!«, entgegnete Ronna. »Dann darfst du mit deinem Rechner nicht ins Netz gehen. Es gibt zigtausende von Schwachstellen, die man nutzen kann, um in einen Rechner einzudringen, nicht nur die extra eingebauten Hintertüren für Geheimdienste. Und natürlich werden solche Schwachstellen auch von Kriminellen ausgenutzt. Es gibt sogar einen schwungvollen Handel damit. Gibt doch einfach mal ›exploit‹ in eine Suchmaschine ein. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. Schließlich mache ich das beruflich für die US-Army!«
»Wenn man euch zuhört, muss man ja glauben, dass die Mafia jeden Rechner in ihrem Sinne fernsteuert«, spottete Gabriel. Der über zwei Meter große Apotheker war die Ruhe selbst. Am Handgelenk hatte er die neueste Apple-Watch. »Das Internet ist doch großartig. Man kann Sachen machen, von denen man früher nicht zu träumen gewagt hat. Und fast alles ist kostenlos, weil die Leute sich gegenseitig helfen.«
»Und sicher«, sekundierte seine Frau Verena. »Ich mache zum Beispiel alle Bankgeschäfte online. Aber von meinem Konto wurde noch nie etwas nach Sizilien abgebucht.« Sie lachte.
»Mensch, Verena«, brach es aus Georg hervor. »Hast du schon mal Skype benutzt?«
»Natürlich, fast täglich. Meine Tochter ist zu einem Austausch in den USA.«
»Darüber wurde der erste Bundestrojaner installiert. Von dem hast du doch gehört? Glaubst du, dass niemand sonst auf die Idee kommt, dir auf die Art einen Trojaner einzuschleusen? Wer ist hier naiv?«
Jana fand Georg unsympathisch – ein überspannter Verschwörungstheoretiker, der Gabriel und Verena intellektuell nicht das Wasser reichen konnte. Sie spürte Gretas Hand an ihrem Arm. »Magst du French 69? Derzeit mein Lieblingscocktail.«
»Das werde ich jetzt herausfinden«, sagte Jana und griff das Glas, das ihre Tante ihr anbot. »Lass uns wieder ins Wohnzimmer gehen. Hier ist es mir zu eng und zu hitzig.«
»Gerne. Erzähl mal. Wie läuft es so in Berlin?«
»Ganz okay. Der Uni-Wechsel war richtig, und wenn es so weitergeht, habe ich in einem Jahr den Master in der Tasche.«
»Dein Gesichtsausdruck passt aber nicht zu den glänzenden Aussichten. Was ist? Liebeskummer? Ärger mit dem Vermieter? Oder bist du abgebrannt?«
»Nichts von allem. Ich habe einen Job in einer coolen Whiskybar, und mein Vermieter ist zwar ein Oberspießer, aber ich komme klar. Das Einzige, was nervt, ist Spam. Irgendwie haben irgendwelche Typen viel über mich herausgefunden und schreiben mich sehr gezielt an. Fast schon unheimlich.«
Sie näherten sich dem alten Tisch, und Mandy kam wie ein Tiger auf Beutefang auf sie zu.
»Jana, du nutzt doch sicher Facebook?«, unterbrach sie das Gespräch mit Greta.
»Ja, natürlich.«
»Seht ihr!«, warf Mandy triumphierend über ihre Schulter, bevor sie Jana die nächste Frage stellte: »Weißt du, was das Facebook-Tracking-Cookie ist?«
Jana runzelte die Stirn.
»Seht ihr!«, tönte Mandy erneut nach hinten.
Jana bekam ein ungutes Gefühl. Entweder waren das hier allesamt kauzige Spinner oder sie ein naiver Tropf.
»Wovon reden Sie? Was macht dieses Facebook-Cookie?«
»Die speichern etwas auf allen deinen Geräten, sodass jeder deine Identität auslesen kann. Einfach so. Von wegen Internet 2.0 und sich unerkannt im Netz bewegen.«
Allem Anschein nach unterschätzte man die kleine Frau mit der Fistelstimme.
»Dann kann also jeder herausfinden, welche Geräte ich benutze und letztlich, wer ich bin, nur weil ich Facebook benutze?«
»Klar, und du wusstest das nicht, wie die Allermeisten. Das Beste ist, dass du inzwischen nicht einmal mehr bei Facebook sein musst, um so beglückt zu werden. Günther und Tatjana wollen mir das nicht glauben.«
»Versuch mal, dich bei FB einzuloggen, wenn du Cookies deaktiviert hast.« Ronnas raue Stimme war die Ruhe selbst. »Hast du dich nie gewundert, wieso du im Nullkommanix die passende Werbung überall eingeblendet bekommst, nachdem du in irgendeinem Online-Shop warst? Es reicht sogar, nur über die Sachen zu reden. Mikrofone im Smartphone oder Rechner lauschen mit, Spracherkennung und künstliche Intelligenz im Hintergrund erledigen den Rest.«
Unwillkürlich versteifte sich Jana. Sich als Dummchen abkanzeln zu lassen tat weh. »Es ist doch viel besser, gleich passende Angebote zu bekommen, statt ewig zu suchen«, erwiderte sie zaghaft. Der Grat zwischen maßgeschneiderten Angeboten und arglistiger Verführung war schmal, und es störte sie gewaltig, wenn sie nicht Herr ihrer Entscheidungen war.
»Auch, wenn man dafür aufzeichnet, was du kaufst, mit wem du Kontakt hast, wo du herumläufst, wann du was machst?« Mandy fand das offensichtlich unzumutbar.
Jana stimmte ihr grundsätzlich zu, aber das wollte sie nicht zugeben. »Schön«, erwiderte sie mit einem Schulterzucken. »Aber das stört mich nicht. Die paar privaten Daten, die ich damit freigebe – ich habe ja nichts zu verbergen, und dafür bekomme ich das alles kostenlos.«
»Bist du sicher, dass du überhaupt private Daten hast?« Mandy schnaufte abschätzig.
Jana antwortete nicht. Die Situation war ihr unangenehm. Schön, sie hatte eine Menge Dinge erfahren, die sie erst einmal verdauen musste.
»Kann mir jemand sagen, wo Greta ist?«, fragte sie. Ihre Tante war nicht stehen geblieben, als Mandy sie auf dem Rückweg von der Küche abgefangen hatte.
»Sie ist auf die Terrasse gegangen«, sagte Ronna.
Jana bedankte sich und steuerte die Terrassentür an. Sie rieb ihre feuchten Handflächen aneinander. Die Probleme waren nicht in Berlin geblieben. Ihr Versuch, sich über eine neue E-Mail-Adresse zu tarnen, war kläglich schiefgegangen. Man hatte ihre wahre Identität herausgefunden – wer auch immer man war. Sie hoffte, dass Nils ihr helfen konnte, bevor etwas wirklich Schlimmes passieren würde.
Kapitel 6
Mittwoch, 28. Oktober 2020 – Humboldt-Universität, Berlin
Die folgende Woche war ohne größere Zwischenfälle oder dubiose Nachrichten verlaufen. Jana hatte eisern gearbeitet, um versäumten Stoff nachzuholen. Unter den Problemen der vergangenen Wochen hatte nicht nur ihre Seminararbeit gelitten. Nachdem sie auch das Wochenende in ihrer Wohnung über Büchern und Skripten brütend verbracht hatte, fühlte sich sich wieder auf Stand im Studium.
Ihren Rechner hatte sie in der Zeit nicht angerührt. Am Montag hatte sich Nils endlich per E-Mail gemeldet und vorgeschlagen, sich am Mittwoch um 14.00 Uhr in der Mensa der Humboldt-Uni zu treffen, um ihren Laptop auf Vordermann zu bringen. Erwartungsvoll bezog Jana fünfzehn Minuten vor der verabredeten Zeit ihren Posten am Eingang der Mensa, um Nils auf keinen Fall zu verpassen. Zehn Minuten später kam er mit langen Schritten auf sie zu.
»Hi!«, grüßte er. »Was gibt es denn heute?«
»Hallo!«, erwiderte Jana. »Weiß nicht.« An Essen hatte sie nicht gedacht. Nils’ Gesichtsausdruck nach zu urteilen war er am Verhungern. Er deutete mit einer seitlichen Kopfbewegung in Richtung Essensausgabe und ging voraus. Sie folgte ihm.
»Auf dem Geburtstag meiner Tante gab es ein paar schräge Typen«, begann Jana, während sie mit Tabletts bewaffnet das Angebot sondierten. »Eine Frau hat erzählt, dass die Googles, Amazones, Facebooks dieser Welt überall Cookies hinterlassen, was im Endeffekt dazu führt, dass man einfach rausfinden kann, was ich wann mit meinem Computer mache. Noch schlimmer, dass die über die Mikrofone einen abhören und das für ihre Zwecke analysieren. Wie siehst du das?«
»Stimmt schon«, meinte Nils und griff sich eine Schüssel voll Eintopf. »Die greifen ungefragt deine Kontakte ab und benehmen sich, als würde dein Rechner ihnen gehören.« Jana nahm sich ein belegtes Brötchen und ein Mineralwasser. »Aber du hast selbst dann Probleme, wenn dein Blechkopf offline ist. Mir fällt keine plausible Erklärung ein, warum deine Maschine im Stand-by die ganze Zeit rödelt oder woher diese obskuren Prozesse kommen.« Nils brach ab und zahlte seinen Eintopf. Jana zahlte ebenso, sie holten sich Besteck und sahen sich nach einem geeigneten Platz um. Gegen 14.00 Uhr verloren sich nur noch wenige in der Mensa. Sie setzten sich nebeneinander an einen Tisch abseits, und Jana legte ihren Laptop zwischen Nils’ Schüssel und ihren eigenen Teller. Sie klappte den Rechner auf und entsperrte ihn. Nils steckte einen USB-Stick ein.
»Ich halte es nicht für undenkbar«, nahm Nils das unterbrochene Gespräch wieder auf, »dass Unternehmen Trojaner einschleusen. Moralische Bedenken haben die keine, da bin ich mir absolut sicher. Allerdings kommt so etwas unweigerlich irgendwann heraus und könnte das Unternehmen ruinieren. Nicht vorstellbar, dass die sich trauen, merkwürdige Prozesse zu starten und Sachen zu kompilieren. Google, Amazon, Instagram, Facebook, Snapchat und so weiter können wir somit ausschließen. Ein Trojaner, der deinen Rechner fernsteuert und in ein ›Botnetz‹ einbindet, scheidet ebenfalls aus. Die Teile müssen unauffällig sein. Weißt du, was das ist?«
Jana schüttelte den Kopf.
»Bot ist die Abkürzung für Roboter. ›Botnetze‹ schleusen Trojaner in alle möglichen Rechner ein und nutzen deren Rechenkapazität für krumme Sachen. Man schätzt, dass bis zu 40 Prozent aller Privatrechner in Deutschland für ›Botnetze‹ missbraucht werden.«
Jana schnappte nach Luft. Es überstieg ihr Fassungsvermögen, dass fast die Hälfte aller Rechner in Deutschland gehackt waren.
Nils sprach unbeirrt weiter. »Ich denke, du hast einen neuen Virus oder ein ähnliches Tierchen im Rechner, und das werden wir gleich beseitigen.« Dabei pochte er auf den USB-Stick und grinste lausbübisch. »Auf dem USB-Stick habe ich die neuen Signaturen und die passenden Programme, um sie einzuspielen.« Nils tippte einen Befehl ein. »So, das war’s. Jetzt lassen wir den Virenscanner die ganze Festplatte von Grund auf abgrasen, und die Sache hat sich.« Er deutete auf ein Bildschirmfenster, das den Fortschritt anzeigte. Nebenbei löffelte er seinen Eintopf. Jana betrachtete schweigend den Bildschirm, wo der Prozentwert der Fortschrittsanzeige gleichmäßig anwuchs, bis er schließlich 100 erreichte. Unter einem grünen Balken erschien der Hinweis, dass alles in Ordnung sei.
Jana sah zu Nils, der mitten in der Bewegung innehielt und für einen Moment mit vollem Löffel vor dem offenen Mund dasaß.
»Das gibt es doch nicht.« Nils legte den Löffel zurück in den Teller. »Das Teil hat nichts gefunden.«
Jana verschränkte die Arme. Ihr lief es eiskalt über den Rücken. »Habe ich eine Zeitbombe im Rechner, die alle meine Daten löscht oder mein Bank-Passwort abgreift?« Sie kratzte sich hinter dem Ohr.
»Mach dir keine Sorgen.« Nils machte eine beschwichtigende Geste in ihre Richtung, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden. »Das werden wir in den Griff bekommen. Dauert aber ein paar Tage. In der Zwischenzeit könntest du das selber im Auge behalten und mir Bescheid sagen, falls sich etwas ändert. Du machst den Affengriff und klickst hier, um den Task-Manager zu starten. Damit hast du die Anzeige mit den laufenden Prozessen. Abschießen geht über rechte Maustaste und klick.«
»Ich musste eben, als du von Tierchen auf meinem Rechner gesprochen hast, an Cooties denken«, bemerkte Jana, während sie den Rechner zu sich nahm und probeweise den Task-Manager aufrief. »Hast du davon schon mal gehört?«
»Die eingebildeten Läuse aus dem Kinderspiel? Das spielen doch nur die Amis.«
»Du kennst das? Ich habe letztes Wochenende zum ersten Mal davon gehört, und seitdem muss ich mich laufend kratzen. Ich werde ich das Gefühl nicht los, ich hätte so eine widerliches Pseudoungeziefer, das man nicht wieder loswird.«
»Ach, komm. Du bist ein Mädchen, da kann ich helfen. Wie ging der Spruch mit dem Immunisieren?«
Wer hätte gedacht, dass Nils richtig charmant sein kann?, dachte Jana.
Am nächsten Morgen war Jana spät dran für die Lüneburger-Vorlesung, die sie keinesfalls verpassen wollte. Sie hatte nach der Arbeit in der Whiskybar noch gelernt, am Morgen fast verschlafen und zu allem Überfluss ihre S-Bahn verpasst. Zehn Minuten fror sie im kalten Nebel, bis endlich Lichter über dem Gleis auftauchten und der nächste Zug kam. Sie stieg ein, setzte sich auf eine freie Bank und schloss die Lider, um ein wenig zu dösen. Ihre Augen brannten vor Müdigkeit und sie fröstelte. Nach 20 Minuten musste sie am Bahnhof Friedrichstraße aussteigen. Das kurze Stück von dort zur Humboldt-Uni legte sie im Laufschritt zurück. Trotzdem war es fast Viertel nach neun, als sie den menschenleeren Gang erreichte, an dessen Ende ihr Hörsaal lag. Eine Neonröhre flackerte und verlieh dem fensterlosen Korridor eine Atmosphäre, die an einen Hitchcock-Film erinnerte. Mit langen Schritten eilte sie über den dunkelgrauen Steinboden. Die Hörsaaltür war zu. Unsicher öffnete Jana die Tür und trat ein. Lüneburger war noch nicht da. Erleichtert verschnaufte sie.
Eine kleine Gruppe von Studenten bemerkte Jana und ihr Gespräch erstarb abrupt. Eine kleine Frau, rothaarig mit Igelschnitt, starrte sie feindselig an, bevor sie sich zu den anderen umdrehte und aufgeregt zu tuscheln begann. Was sollte das? Sie kannte die Rothaarige kaum, wusste nur über eine gemeinsame Bekannte, dass sie Renate hieß. Die Übrigen kannte sie gar nicht.
Jana schüttelte den Kopf und kämpfte gegen die Beklemmung an, die begann, ihre Kehle zu verstopfen. Sie entdeckte Wibke, die wie üblich in einer der hinteren Bänke außen saß, und dachte nicht mehr an die rothaarige Renate. Jana ging zu ihrer Freundin und setzte sich neben sie. Dabei beschlich sie das unangenehme Gefühl, dass sich Blicke in ihren Rücken bohrten.
»Guten Morgen«, grüßte Jana. »Das war knapp. Ich hasse es, zu spät zu kommen.«
»Morgen«, erwiderte Wibke eisig. »Mit dir habe ich heute gar nicht gerechnet.« Wibke wandte sich zu ihr um und betrachtete sie mit dem Gesichtsausdruck einer Sphinx. Sie war gewohnt elegant gekleidet und stark geschminkt, doch heute wirkte sie mit dem karminroten Lippenstift und dem strengen Dutt regelrecht unnahbar. Wibkes sündhaft teures Parfum stand wie eine Mauer zwischen ihnen.
»Guten Morgen«, tönte es von vorne und lenkte Janas Aufmerksamkeit ab. »Professor Lüneburger ist heute verhindert, sodass ich die Vorlesung halten werde.« Jana sah zu Alexander Maybach, Lüneburgers Assistenten, der ihn gelegentlich vertrat. »Das Thema heute heißt ›Anker setzen‹. Sie alle kennen das Prinzip. Geschicktes Verhandeln bedeutet, rechtzeitig eine konkrete Zahl ins Spiel zu bringen …« Wibke musterte sie die ganze Zeit von der Seite, statt Maybach zuzuhören.
»Ist etwas?«
»Tu nicht so!«, zischte Wibke. Ihre karminrot lackierten Fingernägel trommelten fordernd auf dem kleinen Pult.
»Was … was ist denn?«
»Das besprechen wir am besten nach der Vorlesung. Dabei muss ich dir in die Augen sehen.« Demonstrativ drehte Wibke sich Maybach zu.
Den Rest der Vorlesung hätte Jana sich sparen können. Wibke würdigte sie keines Blickes, und sie zermarterte sich das Hirn, was in ihre Freundin gefahren sein könnte. Nach dem Ende der Vorlesung verließen die meisten Studenten schnatternd den Hörsaal. Nicht wenige warfen Jana beim Vorbeigehen abfällige Blicke zu und tuschelten hinter vorgehaltener Hand. Wibke zog wortlos ihren Rechner hervor und sah sich um. Schräg hinter ihnen lungerte die Gruppe der Studierenden um Renate am Ausgang herum. Ungeschickt versuchten sie, Jana und Wibke zu beobachten. Wibke schaute sie herausfordernd an, bis sie verschwanden. Dann klappte sie ihren Rechner auf.
»Erklär mir bitte, was das soll!«, forderte Wibke und zeigte Jana eine E-Mail mit Absender »jane-the-lion@web.de«.
Hi, warum hast du mir nie erzählt, dass der Penner auf dem Bild unten dein richtiger Vater ist. OMG!
Jana las, betrachtete das Bild eines Obdachlosen und blickte entgeistert zurück zu Wibke, deren Mund ein schmaler roter Schlitz war.
»Oder das!«
Wibke zeigte ihr eine Whatsapp-Nachricht, in der unterstellt wurde, sie hätte sich in ihrer Schulzeit prostituiert – versandt von Jana!
»Oder das!« In einem Facebook-Eintrag wurde gewarnt, dass Wibke illegale Schneeballgeschäfte anstoße. Der Eintrag war in einer neuen Whatsapp-Gruppe gepostet, der außer Wibke und Jana nur fünf weitere Personen angehörten, alle aus ihrer gerade gegründeten Lerngruppe, zu der sie sich demnächst erstmals treffen wollten.
Angelegt hatte die neue Gruppe eine »Liowa Colonia«, von der auch der Facebook-Post stammte.
»Keine Ahnung«, stammelte Jana. »Ich sehe das alles zum ersten Mal. Du glaubst doch nicht, dass das von mir ist?«
»Es fällt mir schwer, das nicht zu glauben. Weißt du, ich habe die anderen gefragt. Niemand kennt eine ›Liowa Colonia‹. Bleibst du. ›jane-the-lion‹ hört sich so nach Jana Loewe an, dass es dich fast entlastet, so schwachsinnig ist es. Aber schau mal auf die Zeile unter der Signatur. ›Zu viel Mathe schadet dem Gehirn.‹ Hast du mir nicht kürzlich erzählt, dass das dein Lieblingsspruch auf der Schule war?«
Jana schluckte. Ihr wurde eiskalt. »Du musst mir glauben«, flüsterte sie. »Ich habe damit nichts zu tun!«
Wibke schnaubte empört, doch es wirkte eine Spur weniger aufgebracht als eben.
»Und was hätte es für einen Sinn, dich zu beschimpfen? Meine beste Freundin auf der Uni.«
»Hmm«, knurrte Wibke. »Wenn du es nicht warst, wer war es dann?« Prüfend sah sie Jana in die Augen, als wolle sie sie hypnotisieren.
»Mit so einem Mist würde ich mich total isolieren«, beteuerte Jana. »Wer kann denn so etwas wollen?«
»Wer kann so etwas wollen?«, wiederholte Wibke leise, wobei sie an Jana vorbei hinunter zur Tafel sah. »Du selbst scheidest aus. Jedenfalls bist du zu klug, und von einer masochistischen Ader habe ich an dir bislang nichts bemerkt.« Wibke wandte sich wieder Jana zu, und ihr Blick wärmte wie ein Kaminfeuer auf einer Skihütte. »Folglich jemand anderes. Wer könnte dich isolieren wollen? Ha!« Ein triumphierender Ausdruck legte sich auf Wibkes Gesicht. »Wie heißt dieser Typ, den wir neulich getroffen haben? Der, den du wegen deines Rechners um Hilfe gebeten hast.«
»Nils? Wie kommst du auf Nils?«
»Der will dir an die Wäsche. Das sieht doch jeder Blinde! Und nach allem, was du mir erzählt hast, kann der Typ mit deinem Rechner alles machen, was er will. Spätestens, wenn du online bist! Der Kerl hat keine Freundin, oder?«
»Nils? Das ist ausgeschlossen. Nils ist hilfsbereit, und ansonsten lebt er in seiner Welt aus Computern, Rudern und Go-Spielen. Aus Frauen macht der sich nichts.«
»Rudern? Der Hänfling! Mädchen – sei nicht so blauäugig! So ein Kerl sammelt Infos, wie und wo er dir nachstellen kann.«
»Das ist absurd«, widersprach Jana. Überraschenderweise klang es bei Weitem nicht so überzeugend, wie sie es klingen lassen wollte. Was Wibke sagte, war nicht unvorstellbar. Andererseits fühlte sie sich wohl mit Nils, und soweit sie sich erinnern konnte, hatte Nils stets gerne geholfen und nie jemanden gelinkt. Warum sollte er bei ihr darauf aus sein? »Nein, Wibke, du kennst Nils nicht. Das ist nicht so einer. Ausgeschlossen. Und Rudern können auch Hänflinge. ›Leichtgewichte‹ nennt sich das.«
»Und wie erklärst du sonst den Dreck?« Mit Nachdruck zeigte sie auf den Bildschirm ihres Rechners. Ihr Mund schrumpfte zurück zu dem schmalen Strich.
»Keine Ahnung. Es muss eine andere Erklärung geben. Vielleicht hat Nils eine Idee?«
Wibke zuckte zusammen, als sie Nils’ Namen aussprach. »Na, dann ist alles gesagt«, stellte sie fest und klappte den Rechner zu. »Ich muss los.«
Sie stand auf, drehte sich um und stieg die Treppe zum Ausgang hoch. Jana folgte ihr aufgewühlt. Irgendwer hatte es auf sie abgesehen und war in der Wahl seiner Methoden nicht zimperlich. Das Letzte, was sie gebrauchen konnte, war, dass sich ihre beiden einzigen Freunde in Berlin gegenseitig an die Gurgel gingen.
Das Scharnier quietschte leise, als Wibke den Ausgang aufdrückte und hindurchging. Draußen blieb sie stehen und sah Jana durchdringend an, während hinter ihnen dumpf die Tür zufiel. Der Getränkeautomat gegenüber schien hämisch zu feixen.
»Glaub mir. Dieser Nils steckt dahinter!«, drängte Wibke.
Jana fühlte einen Kloß in ihrem Hals. Lief es auf er-oder-ich hinaus? Sie sah ihre Freundin verständnisheischend an. Wibkes Gesichtsausdruck verhärtete sich. Eine Freundschaft mit Wibke würde immer nach Wibkes Regeln ablaufen, begriff Jana, und in diesem Augenblick zweifelte sie daran, dass Wibke ihr je eine echte Freundin sein könnte, eine, der sie blind vertraute und mit der sie durch dick und dünn ging.
»Man sieht sich«, unterbrach Wibke ihre Gedanken, wandte sich ab und ging kerzengerade davon.
Der Takt, den ihre Stöckelabsätze auf den Steinfliesen schlugen, klang in Janas Ohren wie ein böses Vorzeichen. Sie sah ihr nach, bis sie verschwunden war. Der dunkelgraue Boden unter ihren Füßen fühlte sich an wie ein Sumpf, in dem sie zu versinken drohte. Wer oder was hatte sich gegen sie verschworen?