Kitabı oku: «Tödliche K. I.», sayfa 3
Kapitel 4
Montag, 12. Oktober 2020 – Wilhelmsruh, Berlin
Jana fühlte sich wie gerädert. Sie lag auf dem Rücken in ihrem Bett, Arme und Beine von sich gestreckt, und starrte an die Decke. Die ganze Nacht hatte sie kaum ein Auge zugetan. Inzwischen graute der Morgen, und erstes Licht fiel durch die Ritzen zwischen den Lamellen der Rollos. Ihre Lippen verzogen sich zu einem bitteren Lächeln bei dem Gedanken, wie lange sie mit sich gerungen hatte, die Teile anzuschaffen. Sie mochte weder Vorhänge noch Rollos, aber ihre Fenster hatten keine Rollläden, und im Hellen konnte sie nicht schlafen. Das waren damals Probleme! Inzwischen raubte ihr die Frage den dringend nötigen Schlaf, wie Abu Mujahed, wer auch immer sich hinter dem Namen verbarg, an ihre wahre Identität und E-Mail-Adresse gekommen war.
»So geht das nicht«, zischte sie, richtete ihren Oberkörper auf und ballte die Fäuste.
Ihr Blick fiel auf die Folge von Picasso-Stierbildern an der Wand, neben drei japanischen Kalligrafien im Wohnzimmer der einzige Wandschmuck in ihrer Wohnung. Es faszinierte sie, wie Picasso in wenigen Schritten das Wesentliche an einem Stier herausgearbeitet, in der letzten Zeichnung mit lediglich fünf Strichen auf den Punkt gebracht hatte.
Was war das Wesentliche in ihrer Lage? Irgendwelche Leute wollten etwas von ihr, wollten sie für Zwecke vereinnahmen, die sie verabscheute. Nicht mit mir!, ärgerte sie sich. Ich tanze nicht nach eurer Pfeife! Mit einem Satz war sie aus dem Bett und marschierte erbost in einer Art Stechschritt zu ihrem Rechner. Dort begann sie nach allen möglichen Kombinationen und Teilen der Begriffe »Abu Mujahed«, »Streiter Gottes« und »Kameradschaft Achatz Hilger« im Internet zu suchen. Sogar die Serveradresse aus Achatz’ E-Mail gab sie im Browser ein: »wsgh.net«, allem Anschein nach eine Poker-Seite in China. Sie fand nichts Brauchbares. Wenigstens stellte sich das beruhigende Gefühl ein, die Kontrolle über ihr Leben zurückzugewinnen. Es hielt nicht lange an. Eine hartnäckige Stimme in ihrem Hinterkopf wurde nicht müde zu betonen, dass etwas nicht stimmte.
Jana blähte die Backen und sah auf die Uhr: gleich halb neun. Übernächtigt machte sie sich auf den Weg zur Uni. Ihre Hoffnung, dass die Routine sie wenigstens ein bisschen ablenken würde, erfüllte sich nicht. Die erste Vorlesung zog wie ein unscharfer Film an ihr vorbei. Gegen elf verließ sie den Hörsaal und zermarterte sich das Hirn darüber, ob das unerklärliche Heißlaufen ihres Rechners etwas damit zu tun haben könnte, dass sie widerliche und an sie persönlich gerichtete Spam-Nachrichten auf ihre normale E-Mail-Adresse bekam. Schließlich war ihr Computer die einzige Verbindung zwischen der anonymen »wbi8888«-Adresse und ihrer richtigen.
Auf dem Gang kam ihr Wibke entgegen. Ihre Bekannte hatte dunkle Ringe unter den Augen wie Jana selbst. Im Gegensatz zu ihr lächelte Wibke jedoch glücklich. Die Nacht war lang und schön gewesen, schloss Jana. Schnell verwarf sie die Hoffnung, mit Wibke über ihre Probleme reden zu können. Ein andermal vielleicht, aber heute Morgen würde Wibke kaum eine Hilfe sein. Jana beschloss, sich ihr gegenüber nichts von ihren Sorgen anmerken zu lassen.
»Gott sei Dank! Du lebst noch!«, begrüßte sie ihre Freundin.
»Wieso sollte ich nicht mehr leben?« Wibke gluckste.
»Na, immerhin warst du seit gestern Abend um sechs nicht mehr online auf Whatsapp, und ans Telefon bist du auch nicht gegangen. Was ist denn los?«
»Haucke – der Grund heißt Haucke.«
»Heißt so der Knabe aus dem Hoppegarten, dessentwegen ich vorgestern mit der S-Bahn zurückfahren musste?« Es klang nach Vorwurf und so gar nicht nach dem unbeschwerten Plauderton, den sie beabsichtigt hatte. Als ob sie Wibke ihre Eroberung missgönnte. Jana gab sich einen Ruck und lächelte herzlich. »Mir scheint, es hat sich gelohnt.«
Wibke zwinkerte ihr zu. »Warum sind denn so wenige da? Sag nicht, dass ich mich zu dieser nachtschlafenden Zeit herschleppe, und die Vorlesung fällt aus.«
»Nachtschlafend? Es ist immerhin gleich elf.«
»Du hast gut reden! Obwohl, warst du nicht gestern in dieser Bar? Die machen doch sicher nicht vor zwei zu. Oder hast du es dir anders überlegt mit dem Job?«
»Gestern war das Vorstellungsgespräch. Morgen ist meine erste Schicht. Die geht bis halb zwei.«
»Bis halb zwei schuften? Mir wäre das zu stressig.«
»Ich brauche eben das Geld«, murrte Jana.
»Was ist mit deinen Eltern? Geben die dir nichts?«
Einen Moment überlegte Jana, ob sie Wibke erklären sollte, warum sie zu stolz war, ihren Vater anzubetteln, dass sie lieber bis spät nachts arbeitete und sich einschränkte, als Abstriche an ihrer Unabhängigkeit zuzulassen, da bemerkte sie einen jungen Mann, der geradewegs auf sie zukam: Nils! Sein schmales Gesicht, das spitze Kinn und die wachen, grauen Augen hinter der Nickelbrille mit den runden Gläsern hätten ihm ein professorales Aussehen gegeben. Hätten, denn mit seinem fast bartlosen Gesicht und der aschblonden Stoppelfrisur wirkte er unreif wie früher als Schüler. Weder hatte er diesen schlaksigen Gang eines Halbwüchsigen abgelegt, noch achtete er auf sein Äußeres, alles genauso wie vor zwei Jahren, als sie zusammen ihr Abitur gemacht hatten. Das reinste Kontrastprogramm zu Wibke, die selbst heute, nach einer durchgemachten Nacht, mit Pumps, Minirock, karminrotem Blazer und selbstverständlich im gleichen Farbton lackierten Nägeln elegant und wie aus dem Ei gepellt auftrat.
»Hallo, Nils«, grüßte sie tonlos. »Bist du auch auf der HU?«
»Nein, ich studiere ITM an der TU. Hier höre ich nur Ludification als Gast.«
Jana hatte keinen blassen Schimmer, was Ludification oder ITM bedeutete. Ihre Gedanken rasten, ob sie Nils Wibke vorstellen sollte oder besser nicht. Was, wenn Wibke dabei erführe, dass sie jahrelang mit ihrer Mutter in einer Sozialwohnung in einem heruntergekommenen Stadtteil Kölns gewohnt hatte? Jana spürte, dass sie rot anlief, und nestelte an ihrem Schal, um Zeit zu schinden. Nils zog seine linke Augenbraue nach oben, räusperte sich in das unerquickliche Schweigen hinein und sagte: »Ich muss zur Vorlesung – man sieht sich.« Damit ließ er die beiden Frauen stehen und ging weiter.
»Wer war das denn?«, lästerte Wibke gerade laut genug, dass Nils sie nicht hören konnte. »Bitte sag, dass du mit dem nie etwas hattest.«
Gewissensbisse flackerten in Jana auf, denn Nils ließ nie jemanden im Stich und hätte sie sicher bei niemandem verleugnet. Wibke sah sie lauernd an. Werden wir richtige Freundinnen oder sind wir ein Zweckbündnis? Du bringst mich mit interessanten Leuten zusammen, und weil zwei schöne Frauen größere Aufmerksamkeit auf sich ziehen als eine, nimmst du mich mit?
»Natürlich nicht«, wiegelte Jana ab. »Ich weiß nicht, ob der überhaupt schon mal eine Freundin hatte. Wir waren bloß auf derselben Schule in Köln.«
»Ist ja egal. Es gibt genug interessante Typen und auf so einen bist du glücklicherweise nicht angewiesen. Warst du schon mal bei einem Pferderennen? Nein? Das geht ja gar nicht! Freitag ist Renntag im Hoppegarten, und ich gehe mit Haucke hin. Wenn du willst, bringt er einen schicken Kollegen mit.« Wibke zwinkerte verschwörerisch.
»Mal sehen«, wich sie aus und entschloss sich, eine Lanze für Nils zu brechen. »Du unterschätzt Nils, wenn du ihn nur nach seinem Äußeren beurteilst. Der hat echt was drauf. Es gab noch kein Computerproblem, das der nicht im Handumdrehen gelöst hat, und wenn wenigstens die Hälfte der Geschichten stimmt, die über ihn in Köln die Runde machen, ist er ein Hacker, der selbst in Regierungsrechner reinkommt.«
Wibke zuckte mit den Schultern. »Wenn du meinst. Manchmal kann man so jemanden ja gebrauchen.«
In den folgenden Tagen fuhr Jana ihren Rechner nicht ein einziges Mal hoch. Ihre Seminararbeit bearbeitete sie an öffentlichen Computern der Uni. Um mit den Freunden in Kontakt zu bleiben, schnell etwas im Netz zu recherchieren, selbst um Videos zu schauen, benutzte sie das Smartphone. Einmal lugte sie via Smartphone in ihre E-Mails – 684 neue Nachrichten, die meisten von der Art, die sie überhaupt nicht sehen wollte. Am Donnerstag spät abends wollte Jana vor dem Schlafengehen nach neuen Nachrichten sehen und griff zu ihrem Smartphone. Der jüngste Eintrag auf Whatsapp stammte von jemandem, der sich Achatz nannte. Sie kannte niemanden dieses Namens, wenn man vom Absender der Neonazi-E-Mails an »wbi8888« absah. Ihre Hand zitterte, als sie die Meldung öffnete.
Jana, willst du mit uns für die gemeinsame Sache eintreten und die Ehre Deutschlands wiederherstellen?
Wo kann ich dich treffen?
HH, Achatz
Janas Herz pumpte wild. Zuerst hatte Abu Mujahed ihr auf ihre echte E-Mail-Adresse geschrieben, jetzt Achatz auf Whatsapp, wofür er ihre Telefonnummer kennen musste. Die bekamen ihre wahre Identität heraus! Sie ließ sich auf die Matratze plumpsen und krallte ihre Hände in die Bettdecke, um das Zittern in den Griff zu bekommen. Ihr war, als stünde sie auf einer riesigen Bühne, angestrahlt von Scheinwerfern, schutzlos den Gaffern ausgeliefert. War es eine Frage der Zeit, bis ein Abu Mujahed oder ein Achatz an ihrer Tür klingelte?
»Die Telefonnummer!«, zischte Jana und sah auf ihr Smartphone. Mit fliegenden Fingern öffnete sie die Details zu Achatz’ Whatsapp-Kennung. Die hinterlegte Telefonnummer lautete 0171 123456789. Mit Sicherheit war das keine echte Nummer. Achatz hatte sich irgendwie in Whatsapp gehackt. Sie rannte ins Wohnzimmer zu ihrem Laptop und drückte den Anschalter. Wie in Trance trug sie alle Absender der Belästigungs-E-Mails im Spam-Filter ihres normalen Postfachs ein, bevor sie die Nachrichten in den Papierkorb verschob. Anschließend löschte sie das Postfach zu »wbi8888@web.de« und sperrte Achatz auf Whatsapp. Minutenlang saß sie einfach nur da und starrte die Wand an. Sie wusste, dass es sinnlos war, was sie gerade versucht hatte. Die hatten ihre E-Mail-Adresse, ihre Telefonnummer. Die wussten, wer sie war. Eine Frage der Zeit, bis die vor ihrer Tür standen!
Schließlich erhob sie sich von ihrem Schreibtisch, putzte die Zähne, zog ihren Schlafanzug an und legte sich ins Bett. Ein weiterer hilfloser Versuch, durch Routine ihr inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Er misslang. An Schlaf war nicht zu denken. Sie wälzte sich hin und her, bis sie den Versuch einzuschlafen aufgab und mit hinter dem Kopf verschränkten Händen dalag, die Decke von sich gestrampelt. Sie fühlte sich erbärmlich. Das spärliche Licht, das von draußen hereinfiel, ließ kaum Konturen erkennen. Das Zimmer wirkte wie ein schwarzes Loch und das Bett in der Mitte wie ein Schlund, der sie verschlingen wollte.
Was soll das Ganze?, fragte sie sich niedergeschlagen. Warum tue ich mir das alles an? Kaum komme ich ein bisschen aus dem Dreck heraus, schon habe ich Typen am Hals, die sonst was von mir wollen.
Sie drehte sich auf die Seite.
Vor ein paar Tagen im Hoppegarten stand mir alles offen. Und jetzt? Wer meinte, das Leben sei ein mieser Verräter, hatte recht.
Jana rollte sich zurück auf den Rücken. In einer Geste der Unterwerfung schloss sie die Augen, eine Besiegte, die den vernichtenden Schlag erwartete und gleichzeitig hoffte, das Schlimmste zu vermeiden. Das Gefühl der Ohnmacht angesichts der Bedrohung lähmte sie für einige Atemzüge – dann fachte es ihren Widerstand an, denn nichts hasste sie mehr als Bevormundung. Sie kniff die Lippen zusammen. Schon wieder andere, die über sie bestimmen wollten! Ihr Nacken versteifte sich, und sie ballte die Fäuste. »Das kann nicht alles umsonst gewesen sein«, fauchte sie und wischte sich über die Augen. »Das darf nicht alles umsonst gewesen sein! Und fang’ bloß nicht an zu heulen. Du hast ganz andere Sachen durchgestanden!«
Sie setzte sich auf und schaltete das Licht an. Ihr Herzschlag beruhigte sich und ihre Gedanken klarten auf.
Sie zwang sich zur Vernunft. Was würde ich einer Freundin empfehlen, die mich in so einer Lage um Rat fragt?
Jana lachte auf, schlug mit der flachen Hand auf die Stirn. Plötzlich schien alles ganz einfach. »Wir leben in Deutschland, im 21. Jahrhundert, einem Rechtsstaat, wie es wenige andere gibt«, erklärte sie der fiktiven Freundin, als stünde sie ihr gegenüber in der Schlafzimmertür. »Du kannst die Belästigungen einfach missachten, bis sie von alleine aufhören. Was wollen die schrägen Typen denn machen? Wenn tatsächlich ein Abu Mujahed oder ein Achatz oder sonst ein Schuft bei dir auftaucht, gehst du zur Polizei! Haaallooo!«
Entspannt sank sie zurück, löschte das Licht und schlief ein.
»Nein!«, schrie Jana und schlug die Hand zurück, die nach ihr griff. Statt gepflegter Nägel ragten spitze Dolchklingen aus ihren Fingern. Etwas bewegte sich rechts von ihr, ein Flackern, das sie durch die geschlossenen Lider wahrnahm. Sie schreckte hoch, riss die Augen auf und suchte die Umgebung nach dem Angreifer ab. Außer ihr war niemand im Zimmer. Eine Taube saß auf ihrer Fensterbank und putzte ihr Gefieder.
»Ein Albtraum«, hauchte sie erleichtert, wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Sie erinnerte sich an ihren Entschluss aus der letzten Nacht, die Belästigungen zu ignorieren und notfalls zur Polizei zu gehen. Sofort fühlte sie sich besser. Der Wecker zeigte kurz vor acht. Draußen war es bereits hell. Sie stand auf, ging in die Küche, schaltete die Kaffeemaschine an und mahlte schwarz geröstete Bohnen für Espresso sizilianischer Art – der ultimative Kick am Morgen. Sie duschte und zog sich an, bevor sie drei Tässchen im Stehen trank. Weil sie keinen Appetit auf Frühstück hatte, steckte sie einen Apfel ein und brach gegen halb neun zur Uni auf. Ganz bewusst nahm sie ihren Laptop zum ersten Mal diese Woche mit. Sollte sie auf ihr wichtigstes Arbeitsmittel verzichten, weil der Rechner unerklärlicherweise heiß gelaufen und die einzige Verbindung zwischen »wbi8888« und ihrer richtigen E-Mail-Adresse war? Schließlich hatten die ja auch Whatsapp gehackt – und die konnten sie mal.
Die kämpferische Stimmung trug sie bis zum Ausgang, wo sie mit dem Griff an die Klinke ihrer Wohnungstür ein mulmiges Gefühl beschlich. Sie hielt inne, ließ den Türgriff los. Greifbare Gefahren außer Acht zu lassen ist mindestens fahrlässig, überlegte sie. Es hilft nicht, den Kopf in den Sand zu stecken, widersprach ihr im Geist Tante Greta. Genauso wenig war es eine Lösung, sich in der Wohnung zu verschanzen. Jana atmete tief durch und drückte die Klinke nach unten. Vorsichtig spähte sie aus der Wohnungstür und kurz darauf aus der Haustür, um sicherzustellen, dass ihr niemand auflauerte. Die Straße war menschenleer.
Stell dich nicht so an, schalt sie sich in Gedanken und stapfte los zur S-Bahn. In der Uni war sie so früh dran, dass sie sich in der Nähe des Hörsaals in eine Sitzecke setzte, um mit der Übung für »Zeitlichkeit technischer Medien« für den kommenden Montag anzufangen. Sie doppelklickte das Symbol für die Datei, die die Übung enthielt, doch es zeigte sich nur das Logo des Textverarbeitungsprogramms und eine kleine Sanduhr. Irgendetwas dauerte unerklärlich lang. Mit den Fingern trommelte sie auf der Tischplatte und sah sich um. Vereinzelt kamen Studenten vorbei. Niemand beachtete sie. Endlich erschien die Datei auf dem Bildschirm; die erste Seite zeigte das Deckblatt. Jana blätterte um, und das Programm stürzte ab.
»Mist«, knurrte sie und rief die Datei erneut auf. Auch diesmal dauerte das Öffnen schier endlos. Sie ertappte sich dabei, dass sie in den Korridor spähte, nach einem ein fremden Mann Ausschau hielt, der sich als Abu Mujahed oder Achatz entpuppen würde. Sie zwang ihre Augen zurück auf den Bildschirm, blätterte um und las den ersten Satz, ohne den Sinn zu erfassen. Sie las den Satz ein zweites und ein drittes Mal, doch in ihrem Kopf hallte nur eine Frage wider: Wer ist Achatz?
Jana fuhr auf, weil sie Schritte auf sich zu schlurfen hörte. Es war nicht Achatz, es war Nils. Sie blähte die Backen, atmete aus und spürte, wie sich ihr Puls normalisierte.
»Hallo, Nils. Ist heute wieder Ludification?«
»Morgen, Jana.« Nils lächelte. »Schön, dich zu sehen. Nein, ich muss etwas abholen.«
»Sag mal, wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen?«
»Moment, lass mich kurz nachdenken. Zwei Jahre, sieben Monate und vierzehn Tage – wenn wir letzten Montag nicht zählen.«
»Du zählst die Tage, seit wir uns zuletzt gesehen haben?«
Nils’ Augenlider flatterten einen Moment. »Die Abi-Feier. Ich habe ein gutes Zahlengedächtnis.«
»Wegen neulich muss ich mich bei dir entschuldigen. Ich war einfach perplex, jemanden aus Kölnberg an der HU zu treffen. Du bist mir hoffentlich nicht böse?«
»Nicht der Rede wert.« Nils machte eine wegwerfende Handbewegung. »Was studierst du eigentlich genau?«
»Medienwissenschaft auf Master. Ist prima angelaufen, und ich habe eine Seminararbeit, die ich, wenn ich mich nicht dumm anstelle, zur Masterarbeit ausbauen kann.«
»Das hört sich doch klasse an. Warum schaust du dann deinen Rechner an wie ein Boxer seinen Gegner beim Gong zur nächsten Runde?«
»Ach, das blöde Teil zickt rum, kommt ewig nicht in die Pötte, und dann stürzt mir die Datei mit meiner nächsten Übung ab.«
»Darf ich?« Nils nahm sich den Stuhl neben Jana, griff wie selbstverständlich nach ihrem Rechner und drehte ihn zu sich, so dass er die Tastatur vor sich hatte und sie dennoch auf den Bildschirm sah.
Jana verspürte keine Lust, Nils ihre Probleme zu schildern. Aber wen konnte sie um Hilfe bitten, wenn nicht ihn? Sie gab sich einen Ruck. »Weißt du, ich bekomme auf einmal so komische Spam. Und der Rechner rödelt manchmal wie wild, obwohl er eigentlich im Bereitschaftsmodus sein sollte.«
Nils runzelte die Stirn. »Der Blechkopf rödelt im Bereitschaftsmodus?«
»Ja, und er läuft dabei so heiß, dass ich mir neulich am Lüftergitter fast die Pfoten verbrannt habe.«
Nils sagte nichts. Seine linke Augenbraue wanderte ganz langsam nach oben. Jana sah ihm an, dass ihr Problem keins von der alltäglichen Sorte war.
»Dann gehen wir mal ans Eingemachte«, brummte er, halb zu sich selbst, halb erklärend zu Jana, und wandte sich dem Bildschirm zu.
Nils drückte drei Tasten gleichzeitig. Ein Konsolenfenster öffnete sich. In schneller Folge tippte er Befehle ein. Das Ergebnis schien ihm nicht zu gefallen, denn seine Augen zogen sich zu Schlitzen zusammen, als belauere er ein wildes Tier.
»Hast du wirklich den GCC installiert?«, fragte er, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden.
»Den was?«
»Gnu-Compiler«, murmelte er, als habe er kein Ja erwartet. »Ist es in Ordnung, wenn ich ein paar Prozesse abschieße, die bei dir nichts zu suchen haben?«
»Klar, mach nur!« Jana fühlte sich erleichtert. Nils wusste offensichtlich, was er tat.
In den nächsten 20 Minuten schien er alles um sich herum zu vergessen. Seine Finger bewegten sich in atemberaubender Geschwindigkeit über die Tastatur und hin und wieder zuckten seine Mundwinkel. Nach einer Weile begann er, unverständliches Zeug zu murmeln. Die anfangs geschmeidigen Fingerbewegungen wurden abgehackter und härter, bis sie mit einem Schlag aufhörten. Er setzte sich auf, trommelte mit den Fingern der rechten Hand auf der Tischplatte und starrte feindselig auf den Bildschirm.
»Hmmm. Höchst merkwürdig. Auf deinem Rechner laufen Sachen, die ich nie vorher gesehen habe. Manche Hintergrundprozesse …« Er hielt inne und sah sie forschend an. »Weißt du, was das ist?«
Jana schüttelte den Kopf.
»Hintergrundprozesse sind, sagen wir, Programme, die du nicht siehst. Manche Prozesse auf deinem Rechner haben automatisch erzeugte Namen, und wenn man sie abschießt, werden sie unter neuem Namen neu gestartet. Es gibt auch große, verschlüsselte Dateien, die nie und nimmer von dir stammen und die mir Sorgen machen.«
»Ich habe noch nie etwas auf meinem Rechner verschlüsselt.«
»Solltest du schon, aber das ist eine andere Baustelle. Kann ich mir ein paar von den Dateien abziehen, um sie zu Hause unter die Lupe zu nehmen?«
»Klar«, antwortete Jana. »Mach, was du für richtig hältst.«
»Vielleicht hast du dir irgendwo einen Trojaner eingefangen, oder einen Virus, der noch nicht von den Schutzprogrammen erkannt wird«, erläuterte Nils und schob eine kleine Platine in den USB-Schacht.
»Meinst du, dass du das in den Griff bekommst?«
»Mach dir keine Sorgen. Gib mir ein bisschen Zeit und dann wird dein Virenscanner das Problem aus der Welt schaffen.«
»Mein Virenscanner?«
»Die Dinger arbeiten mit Signaturen, so etwas wie der binäre Fingerabdruck des Virus oder Trojaners oder was auch immer auf deinem Blechkopf herumspukt. Letztlich sind Viren nichts großartig anderes als gewöhnliche Programme. Jedes Programm hat typische Speichermuster. So ein Virenscanner sucht nach Mustern, die ihm bekannt sind. Das ist, wie wenn die Polizei von allen die Fingerabdrücke nimmt und so die schweren Jungs herausfischt, die sie in der Kartei haben.«
»Ähem. Was heißt das konkret?«
»Ich lege ein paar neue Karteikarten mit passenden Fingerabdrücken an, und dann machen wir ein außerplanmäßiges Update deines Virenscanners, und die Sache hat sich. Wir schieben sozusagen der Polizei hintenrum ein paar Karteikarten für schwere Jungs in den Kasten, die sie noch gar nicht kennt. Dafür brauche ich die Dateien, die ich eben gespeichert habe.«
Nils griff in seinen Rucksack, der aussah, als hätte er ihn aus einem Bergsteigermuseum entwendet, und zog einen kleinen, sehr flachen Klapprechner heraus, der in jedem Science-Fiction-Film futuristisch gewirkt hätte.
»Gib mir eine Stunde«, murmelte er und klappte das Gerät mit einer fließenden Bewegung auf.
»Sei mir nicht böse, aber das wird knapp«, erwiderte Jana nach einem kurzen Blick auf die Uhr. Die Vorlesung, die sie noch vor der Abfahrt hatte hören wollen, neigte sich dem Ende zu. »Meine Tante wird morgen 60, und ich muss gleich los nach Kaiserslautern.«
»Macht nichts. Deinen Virenscanner ziehen wir hoch, wenn du zurück bist. Die Dateien, die ich habe, sollten reichen, damit du den Spuk loswirst.«
»Danke, Nils, du bist der Beste. Wie erreiche ich dich am besten? Auf Whatsapp?«
Ein Anflug von Mitleid huschte über Nils’ Gesicht. »Ich nutze kein Whatsapp oder ähnlichen Quatsch. Falls mir noch etwas einfällt, schicke ich dir eine E-Mail. Deine Adresse habe ich ja von der Abi-Feier-Liste.«
»Das ist meine Spam-Adresse«, winkte Jana ab und kritzelte die ihren Freunden vorbehaltene Adresse auf einen Zettel. »Nimm die hier.«
Jana verabschiedete sich von Nils und spurtete zur S-Bahn. Die Sonne schien heller und die Vögel zwitscherten lauter, so beschwingt fühlte sie sich nach ihrer Begegnung. Zwar hatte sie die Vorlesung verpasst, derentwegen sie auf der Uni war. Aber was machte das? Nils würde den Albtraum beenden.
Auf dem kurzen Stück zum Hauptbahnhof kaufte sie sich online eine Bahnfahrkarte nach Kaiserslautern. Die Bahnfahrt verlief ereignislos, wenn man davon absah, dass sie wie meistens ihren Anschluss in Mannheim verpasste. Die anderthalb Stunden Verspätung konnten ihre Laune nicht trüben, so sehr freute sie sich darauf, ihre Tante wiederzusehen. Jana hatte kaum den Bahnsteig betreten, da war Greta bei ihr und schloss sie in die Arme.
»Jana, mein Kind«, begrüßte ihre Tante sie. Es war wie immer, es war wie nach Hause zu kommen, es war, wie es bei ihrer Mutter nie gewesen war. Jana fühlte sich geborgen.
Greta streckte ihre Arme, ohne Jana loszulassen, und strahlte sie an. Ein Schatten huschte über ihr Gesicht. »Ist alles in Ordnung, Jana? Du siehst angespannt aus.«
»Alles bestens, Tante Greta. Ist gerade stressig auf der Uni.« Später wollte sie unbedingt mit Greta über ihre Probleme reden, gerade fand sie die Situation unpassend.
»Komm, gib mir deine Tasche. Das Auto steht gleich da drüben. Immer noch Liebeskummer wegen Bastian?«
Jana lachte kurz auf. Von Bastian hatte sie sich vor über einem halben Jahr getrennt, und der Trennungsschmerz war längst verflogen.
»An Bastian denke ich überhaupt nicht mehr. Eigentlich habe ich gar keine Zeit für einen Freund. Obwohl«, Jana grinste keck, »eine Freundin hat mich kürzlich auf eine Party im Hoppegarten mitgenommen. Da waren ein paar Kerle, bei denen man schwach werden könnte.«
»Reiche Söhnchen im Reitklub? Lass dich nicht blenden. Such dir jemanden, auf den du dich verlassen kannst. Mach, was dir guttut! Vielleicht findest du ja eine jüngere Ausgabe von meinem Heinrich. Schau, da ist das Auto.«
»Du warst 19, als du ihn kennengelernt hast?«
»Ach was, kennengelernt. Hals über Kopf durchgebrannt bin ich mit ihm. Mit 19, ja, und wir hatten ein wunderbares Leben voller Abenteuer in aller Herren Länder!« Obwohl er über 20 Jahre älter gewesen war als ihre Tante, hatten sie in Janas Augen die ideale Ehe geführt. Greta lud Janas Rucksack in den Kofferraum und sie stiegen ein.
»Tante Greta, erzähl von dir«, nahm Jana das unterbrochene Gespräch wieder auf, als sie vom Parkplatz auf die Straße rollten. »Wie geht’s dir?«
»Nicht schlecht. Sogar richtig gut.« Tante Greta brach ab.
Jana spürte, dass etwas in der Luft lag. Ihr wurde heiß.
»Ich wollte es dir nicht am Telefon sagen«, fuhr Tante Greta fort und räusperte sich. »Ich werde mit ein paar Freunden nach Argentinien gehen. Auswandern. Nachdem Heinrich nicht mehr da ist, hält mich nichts in Deutschland.«
Jana zuckte zusammen. »Argentinien? Was willst du denn da?«
»In Freiheit leben. Hier wird es mir zu eng.«
Jana hatte das Gefühl, als schnüre ihr jemand die Luft ab. Tante Greta verließ sie, der einzige Mensch in ihrem Leben, der sich je um sie gekümmert und nicht nur an sich selbst gedacht hatte. Der einzige Mensch, den sie liebte, ließ sie im Stich.
Den Rest der Fahrt starrte sie wortlos geradeaus. Neben ihr schwärmte ihre Tante vom Auswandern, während sie sich mit aller Gewalt gegen die Tränen stemmte, die in ihre Augen drängten. Sie war keine Heulsuse, und Tante Greta hatte jedes Recht, ihr eigenes Leben zu leben, wie sie es für richtig erachtete.
»Da sind wir«, sagte Greta und bog schwungvoll in ihre Einfahrt ein. »Ist alles in Ordnung mit dir? Du bist so still. So kenne ich dich gar nicht.«
»Nein, nein, ich bin nur etwas müde.«
Sie stiegen aus, nahmen Janas Sachen aus dem Kofferraum und gingen zur Tür. Der große Nussbaum, auf den sie als Kind so gerne geklettert war, beschattete den Weg mit seinen herbstlich gelben Blättern. Auf der Straße spielten Kinder. Ein Junge jagte ein größeres Mädchen, das kreischend zu entkommen versuchte, doch der Junge war schneller und klatschte mit der flachen Hand auf ihren Rücken.
»Now you’ve got girl cooties«, feixte er. Die anderen Kinder flohen vor dem Mädchen, das mit den Tränen kämpfte.
»Kennst du das?«, fragte Greta. »Das sind Kinder amerikanischer Soldaten, und sie lieben das Cootie-Spiel. Cooties sind so etwas wie eingebildete Läuse, die du nicht mehr loswirst, es sei denn, jemand erbarmt sich deiner. Margy hat es schon wieder erwischt.«
»Da läuft einem ja eine Gänsehaut über den Rücken«, murmelte Jana. »Nicht schön, wenn man so eine Laus verpasst bekommt und niemand einem hilft.«
Jana schauderte bei der Vorstellung von Ungeziefer, gegen das man nichts unternehmen konnte. Unwillkürlich dachte sie an ihren Rechner und ihr Smartphone. Die benahmen sich auch, als wären sie von einer ansteckenden Krankheit befallen.
»Es ist ein Spiel«, sagte Greta und fasste ihren Arm. »Außerdem kann dich ein Kind des anderen Geschlechts immunisieren.«
Jana zwang sich zu einem Lächeln. »Ja, nur ein Spiel.«