Kitabı oku: «Fettie macht 'ne Arschbombe», sayfa 5
Kaum ist unsere Gruppe um Geld oder Darminhalte erleichtert, warten die Ming-Gräber und der Heilige Weg auf uns. Zum Glück weht hier in den Bergen ein angenehmer Wind, so wird der Spaziergang entlang der Allee der steinernen Tiere trotz der Gluthitze kein Höllentrip. Die Steinskulpturen sind putzig, vor allem die Kamele, Elefanten und Löwen bringen Laune. Das rhythmische Auf- und Abschwellen der ohrenbetäubenden Zikadenchöre macht den Spaziergang auch zum akustischen Schmaus. Das Grab des Kaisers Yongle, das am Ende des sechs Kilometer langen Wegs liegt (den wir dankenswerterweise nicht komplett zu Fuß gehen müssen), ist hingegen mäßig beeindruckend – da noch gar nicht ausgegraben. Ein dicht bewachsener Grabhügel erhebt sich hinter einem recht unspektakulären Tempelmuseum, vor dem endlich mal ein paar Blümchen blühen. Wir kaufen uns zwei Pfirsiche und suchen uns ein schattiges Plätzchen. Dabei kann man gut die anderen aus unserer Gruppe beobachten. Gabi aus Fürth zum Beispiel startet hier ihr Baumumarmungsprogramm. Sie entdeckt im Park den Baum ihres Vertrauens und umarmt ihn herzlich, um Kraft zu tanken, wie sie uns versichert. Norbert aus München hingegen beweist, dass man auch bei 45 Grad im Schatten seine Schimanski-Jacke nicht ablegen muss. Es ist also möglich, auch dicke Kleidungsstücke komplett durchzuschwitzen und klatschnass die Sehenswürdigkeiten zu genießen. Helga aus Salzburg und ihre Tochter Kati hingegen demonstrieren ihre Qualitäten als Stilikonen. Sie zeigen uns, dass frau auch bei Gruppenreisen mit beschränktem Gepäck alles an bequemer, aber eleganter Garderobe, Accessoires und Make-up mit sich führen kann, was frau so braucht. Und die beiden Hasis – ebenfalls aus Österreich, die natürlich nicht Hasi heißen, aber diesen Spitznamen ihrem Nachnamen Haßlinger verdanken – kraxeln munter auf alles, was es an Tempeln oder Pagoden in der näheren und weiteren Umgebung zu besteigen gibt.
An diesem Abend erobern Carsten und ich Beijing auf eigene Faust. Viel erobern wir nicht. Die Fußgängerzone Wangfujing Dajie nahe dem Platz des Himmlischen Friedens ist recht schnell abgegrast. Die prunkvollen Kaufhäuser mit ihren Luxusartikeln, die erheblich mehr kosten als in Deutschland, interessieren uns nur peripher. In den Nebenstraßen gibt es außer Dunkelheit nicht viel zu sehen und die kleine Basarstraße, in die man über düstere Durchgänge mit zahllosen Tattoo-Studios gelangt, ist auch nicht der Bringer. Dort amüsieren sich hauptsächlich australische Rucksacktouristen an ballermannartigen Garküchen. Ein paar Blocks weiter ist der nächtliche Fressmarkt aufgebaut, wo es Spießchen mit allem gibt, was der chinesische Gourmet gerne schlemmt: Heuschrecken, Kakerlaken, Minischildkröten, Grillen, Seidenraupen, Skorpione, Seepferdchen, Schlangen und natürlich auch Fleisch. Wir sind heiß auf Hund oder Katze, doch schon der Reiseführer hielt die enttäuschende Nachricht bereit, dass solche Spezialitäten viel zu kostbar sind und nicht an Touristen verschwendet werden. Schade. Gut, wir wissen auch, dass wir den Beijingern Unrecht tun, wenn wir hier Haustier à la carte erwarten, denn die wildesten Allesfresser sitzen bekanntlich in Kanton. Beijinger hingegen haben Hunde ganz ganz arg lieb. Als Haustiere sind sie zwar offiziell verboten (der Hund als solcher kotet bekanntlich gerne die Gehsteige voll, und das kann in einer Großstadt voller Dauergewusel leicht zu Überkotung führen), doch in der Nacht sehen wir einige Beijinger verstohlen um die Ecken huschen, die einen Pudel oder anderen kleinen Schoßhund Gassi führen, bzw. Gassi tragen und nur schnell an einem Baum zur Erleichterung absetzen.
Dann also kein Hund. Nun wollen wir zwar gerne Schlange probieren (Heuschrecke hatten wir schließlich schon in Bangkok), doch in der irrigen Annahme, dazu würden wir im Laufe der Reise noch genug Gelegenheit haben, verzichten wir darauf und suchen uns ein Restaurant mit »english menu«. Eine englische oder sonst irgendwie verständliche Speisekarte ist selbst in Touristenzentren beileibe keine Selbstverständlichkeit. Wir haben Glück und können endlich mal gut schlemmen, auch wenn wir hier auf die auf der Bilder-Speisekarte angepriesenen Gänseköpfe und -füße verzichten. Obwohl in dem Lokal noch etliche andere Langnasen speisen, werden wir von den Tischnachbarn angestarrt wie das achte Weltwunder. Die Herren wollen uns dann sogar auf eine Portion Schnecken einladen. Schnecken? Wir wollen zwar kulinarisch etwas wagen, doch so abgebrüht sind wir dann doch nicht. Wir lehnen dankend ab.
Tags drauf ist der Himmel statt smoggrau zur Abwechslung smoggelb, dafür herrscht immer noch eine dunstige Gluthitze. Zwei Punkte fallen uns auf: Es scheint in Beijing keine Vögel zu geben, nicht einmal fliegende Ratten, also Tauben. Und es gibt, außer vor einigen wenigen Sehenswürdigkeiten, fast nirgendwo Blumen. Schon gar nicht auf unserer ersten Station des Tages. Wir werden zum Platz des Himmlischen Friedens gekarrt. Dass dieser Ort für viele von uns nach wie vor einen negativen Beiklang hat, weil man sofort an das blutige Massaker an demonstrierenden Studenten von 1989 denkt, stimmt auch Rainer nachdenklich. Er traut sich ein paar regimekritische Statements abzugeben, doch die wirken seltsam einstudiert. Womöglich ist es momentan Parteilinie, dass man sich über die Ereignisse auf dem Platz des Himmlischen Friedens jetzt kritisch äußern darf. Denn dass Rainer und auch alle folgenden Führer nur sagen, was Touristen hören wollen, und nur oberflächlich einen auf systemkritisch machen, merkt man spätestens daran, dass alle von der »autonomen Region Tibet« sprechen und nicht vom brutal überfallenen und widerrechtlich annektierten Tibet.
Der Platz des Himmlischen Friedens an sich beeindruckt durch seine Ausmaße und die schmucken Paradesoldaten, die überall paradieren und sich mit wütenden Gesten dagegen wehren, fotografiert zu werden. Noch beeindruckender ist jedoch die schier endlose Menschenschlange, die sich einmal um den Platz wickelt. Die Massen stehen brav an, um einen Blick in das Innere eines erschütternd hässlichen Siebzigerjahreklotzes zu werfen, der die südliche Hälfte des Platzes beherrscht: Das Mausoleum für den großen Vorsitzenden Mao. Die Besucher werden vor dem Betreten des architektonischen Schandflecks wie vor einem Flug nach Israel gefilzt, dann dürfen sie nur einmal schnurstracks durch die Halle laufen, weder Stehenbleiben noch Fotografieren sind erlaubt. Rings um den Klotz stehen monströse steinerne Heldendenkmäler, sozialistischer Realismus mit beschmunzelnswertem Pathos in Höchstform.
Nun wartet ein weiterer Höhepunkt auf uns – denken wir zumindest: Die Verbotene Stadt, der Palast der Kaiser von China, bekannt aus Film, Funk und Fernsehen. Enttäuschung Nummer eins: Exakt die linke Hälfte der gesamten Anlage ist komplett eingerüstet und wird renoviert. Enttäuschung Nummer zwei: In Bertoluccis Spielfilm »Der letzte Kaiser« wirkte das alles irgendwie größer und beeindruckender. Enttäuschung Nummer drei: Vor lauter Menschenmassen sieht man kaum einen Stein. Irgendwie hatten wir uns das anders vorgestellt. Also quetschen wir uns ziemlich lustlos durch die endlosen Höfe. Die Gebäude darf man nicht betreten, wenn man Glück hat, kann man durch blau getönte Fensterscheiben einen Blick hineinwerfen. Doch die Fenster sind vor lauter Fingertapsern beinahe blind. Mag sein, dass die Gebäude nach strengen rituellen Vorschriften erbaut sind und bestimmte Bedeutungen transportieren, aber ehrlich gesagt, sehen die Häuser für uns Architekturbanausen irgendwie alle gleich aus. Chinesisch halt. Wir können nun nachvollziehen, wie sich japanische Reisetruppen bei ihren »Europa in zwei Tagen«-Trips fühlen: »Gähn, schon wieder eine Barockkirche, sieht doch eine wie die andere aus. Was diese Europäer damit nur haben?«
So macht die Verbotene Stadt jedenfalls keinen Spaß. Aber was solls, denn letztlich ist nicht die alte Kaiserresidenz die Attraktion, sondern wir sind es. Man fotografiert uns im Stehen und Sitzen, man drückt uns Kleinkinder und Teenager in den Arm, man posiert neben, vor und hinter uns. Wobei nicht einmal ich mit meinen zwei Metern das beliebteste Fotomotiv bin, sondern Carsten. Der ist zwar nicht so groß, hat dafür aber blaue Augen, blonde Haare und eine Tätowierung, die unter dem T-Shirt-Ärmel hervorlugt. Ebenso distanz- wie hemmungslos zerrt der Chinese einfach an Kleidung und Arm, um die Tätowierung zu begutachten oder grabscht in helles Haar. Bloß raus aus der Verbotenen Stadt! Es kann nur besser werden, denken wir. Wie naiv wir waren! Wir hatten ja keine Ahnung, was uns am Nachmittag bevorstand: Der Sommerpalast, den Kaiser Qianlong seiner Mutter 1752 zum sechzigsten Geburtstag geschenkt hat.
Der Park mit den über 3 000 Pavillons, Hallen, Türmen, Promenaden und Brücken mag an sich eine schöne Anlage sein, eine Oase der Ruhe, eine traumhafte Gartenanlage mit pittoresken Architekturhighlights. Für die Mutter von Qianlong mochte das sicher so gewesen sein. Doch kaum strecken wir den großen Zeh in den Park, werden wir von den Menschenmassen, die sich wie ein Mahlstrom durch die Anlage quetschen, drängeln, schieben und quälen, vereinnahmt und mitgerissen. Wie zur Rushhour in der Tokioter U-Bahn kann man hier gar nicht umfallen, wenn man ohnmächtig wird, weil sich die Leiber dicht an dicht aneinander reiben. Wir sondern uns sofort von der Gruppe ab, kämpfen um jeden Millimeter, nur ein Ziel vor Augen: Weg vom Hauptweg! Nach dramatischen Minuten, die uns wie Stunden vorkommen, haben wir es geschafft. Am Rande der Erschöpfung brechen wir hinter einem Pavillon zusammen. Nur langsam, während wir nach Luft schnappen, wird uns klar, was wir hier gefunden haben. Noch können wir es nicht glauben, doch es ist tatsächlich so: In den kleinen Seitenanlagen und abgetrennten Minigärten finden wir entzückende, beschauliche Plätze ohne jegliche Menschen. Der endlose Strom an Menschenleibern quetscht sich nur eine Armeslänge entfernt von uns durch die vorgegebenen Pfade, wir genießen dafür den Bonsai-Garten und die romantische Teichanlage ganz für uns allein.
Auf der Rückfahrt in die Stadt, als wir in irgendeinem der zahllosen Staus auf Beijings Ausfallstraßen stehen, macht uns Rainer ein »Geschenk«. Er lädt die Gruppe in ein chinesisches Medizinzentrum ein. Dort könnten wir uns bei einer Fußmassage entspannen und über chinesische Heilkunst informieren – sofern wir jemals diesen Verkehrskollaps hinter uns bringen würden. Die Gruppe flippt vor Begeisterung aus, besonders die Damen, die nun eifrig tuschelnd die Köpfe zusammenstecken, um ihr Home-Shopping-Sender-Wissen über die Wundertaten chinesischer Medizin auszutauschen. Gespannt wie Flitzebogen betreten wir den schmucklosen Bau in einer grauen Vorstadtgasse. Das Medizinzentrum entpuppt sich schnell als TAZ Nummer drei. Eben müssen wir noch warten, bis eine indische Reisegruppe abgefertigt ist. Schon die Toiletten lassen sich mit einer medizinischen Einrichtung schwer in Einklang bringen. Hier droht dann doch die Frankfurter Flughafentoilette von Platz eins der Ekel-Top-Ten zu fliegen. Auch das restliche Gebäude zeigt, dass chinesische Medizin offenbar ganz andere Hygienestandards pflegt.
Wer sich in diesem TAZ auf die kostenlose Untersuchung einlässt, die im Wesentlichen aus kurzem Pulsfühlen besteht, bekommt garantiert drei tödliche Krankheiten diagnostiziert, die einzig und allein mit chinesischer Medizin im Wert von mehreren hundert Euro erfolgreich behandelt werden können – »Zahlen Sie bar oder mit Kreditkarte?«, fragt der fließend deutsch sprechende Arzt.
Immerhin gibt es tatsächlich eine beinahe kostenlose, rund einstündige Fußreflexzonenmassage für alle. Wir lümmeln auf Sperrmüllmöbeln und erhalten bunte Bildchen, auf denen die Fußreflexzonen gekennzeichnet sind, damit wir auch wissen, welche Organe oder Körperpartien mit welcher Fußzone korrespondieren. Für nur einen Euro könnten wir die Bildchen käuflich erwerben. Die Masseure legen sich ins Zeug und kneten, dass manche vor Schmerzen an die Decke hüpfen und schnell noch zwei Wehwehchen mehr diagnostiziert bekommen. Bei den Männern wird bevorzugt die Stelle malträtiert, die mit der Prostata korrespondiert, denn dafür hat der Onkel Doktor ein Wundermittel, das nur 200 Euro kostet. Zuletzt können wir, wenn wir wollen, den Masseuren unsere Dankbarkeit zeigen, indem wir zwei oder drei Euro Trinkgeld geben. Oder auch gar nichts, wie der »Chefarzt« betont. Wir wollen mal nicht so sein, denn die Massage war wirklich sensationell erfrischend, noch eine Stunde später prickeln uns die Fußsohlen. Also geben wir unseren Masseuren je 20 Yuan. »No!«, schreit mein Masseur entrüstet und funkelt uns böse an. »It is fifty per person!« Immerhin diesen Satz kann er auf Englisch. Völlig perplex geben wir, was verlangt wird. Als Ausgleich klauen wir das bunte, eigentlich 10 Yuan zusätzlich kostende Fußreflexzonenbild.
Überhaupt: Dass Geld die Welt regiert, wird in kaum einem Land so deutlich wie in China. Über sein Einkommen und seine finanziellen Mittel zu sprechen, ist anscheinend erste Bürgerpflicht. Kein Wunder, dass der chinesische Buddha der fettwanstige, feist lachende Buddha ist. Eine völlig materialistische Gesellschaft, die sich sozialistisch gibt, aber dem blanken Manchester-Kapitalismus frönt und deren höchstes Streben dem Mammon gilt, verehrt selbstverständlich keinen asketischen, meditierenden Buddha. Der äußere Reichtum zählt, nicht der innere – auch bei der Darstellung Buddhas. Rainer erläutert uns mehrfach in allen Einzelheiten seine finanzielle Situation, nicht nur, weil er ordentlich Trinkgeld absahnen will, sondern weil Chinesen das eben tun. Wir erfahren, wie viel Geld seine derzeitige Eigentumswohnung gekostet hat, wie viel die neue, größere Wohnung kosten wird, welchen Betrag er seinen Eltern zukommen lässt, was sein Handy gekostet hat, mit welcher Summe er seine studierende Schwester unterstützt. Ja, er hat eine Schwester, denn damals gab es noch nicht die strenge Einkindpolitik. Wirklich interessant wird es in einigen Jahrzehnten, wenn die Einkindpolitik dazu führen wird, dass die Alterspyramide völlig umkippt. Dann wird die chinesische Gesellschaft derartig vergreisen, dass das Horrorbild, das Politiker immer in Deutschland von der vergreisenden Republik malen, ein Idyll sein wird. In China werden ein paar Millionen Junge eine Milliarde Alte durchfüttern müssen.
Obwohl wir, nun misstrauisch geworden, auch beim abendlichen Programmpunkt »Pekingente« ein TAZ wittern, gehen wir mit und werden aufs Angenehmste überrascht. Wir können tatsächlich in Ruhe und ohne Verkaufsveranstaltung eine hervorragende, extrem köstliche Pekingente essen. Rainer spendiert uns sogar auf eigene Kosten einen Schnaps.
Der fünfte Reisetag besteht zunächst aus dem üblichen Stau (auf dem Weg zum Flughafen) einer verkehrskollabierenden Großstadt und einem zweistündigen Flug in einer Sardinenbüchse mit pampigen Stewardessen und gruseliger Verpflegung. Die Cleveren in unserer Gruppe haben sich am Vorabend im Supermarkt Chips gekauft und landen deshalb nicht völlig ausgehungert oder kurz vorm Kotzen in Xi’an, der Hauptstadt der Provinz Shaanxi.
Xi’an
Xi’an – von den Xi’anern als Schian ausgesprochen, von anderen Chinesen aber auch Hsian, Chian oder Ssian genannt (in meinem alten Diercke-Schulatlas steht noch Sian) – wird uns von einer Quasselstrippe von Führerin nahegebracht. Rainer begleitet zwar als Hauptreiseleiter die ganze Zeit unsere Gruppe, doch außerhalb Beijings darf er nicht führen, das übernehmen lokale Städteguides. Die dampfplaudernde Dame heißt Frau Han, wir könnten aber auch Melitta zu ihr sagen, wenn wir wollen. Wir wollen nicht. Frau Han hat den Charme einer linientreuen Parteioberen, im bellenden Stakkato textet sie die Gruppe ohne Luft zu holen zu. Sie vergällt uns erst mit einer überbordenden Fülle an uninteressanten Details den legendären Stelenwald, einer gewaltigen Sammlung alter Steinstelen voller chinesischen Schriften, dann raubt sie uns den letzten Nerv mit ihren endlosen Ausführungen zur Stadtmauer. Gabi aus Fürth klebt schon wieder am nächsten Baum, die Hasis schauen etwas bedröppelt, weil sie auf nichts hinaufkraxeln können, Norbert aus München trieft wie gewohnt seine Jacke durch, und Helga sieht zwar wie üblich klasse aus, verdreht aber die Augen, weil auch ihr die Labertasche auf den Nerv geht. Doch Norbert bekommt nun verstärkt Konkurrenz von Joachim aus Ulm, der trägt zwar keine Jacken, doch er versteht es binnen Minuten seine schwarzen T-Shirts so durchzuschwitzen, dass sie vor Salzverkrustung weiß-kristallin glänzen.
Die Innenstadt von Xi’an ist noch komplett von einer alten, gewaltigen Stadtmauer umgeben, die einzige erhaltene in ganz China. Die Mauer aus der Ming-Zeit ist rechteckig angelegt und so breit wie eine mehrspurige Autobahn. Tatsächlich kann man sich oben Elektrowägen mieten und damit einmal um die Stadt pesen. Wir bummeln ein wenig herum, die Hitze ist schier unerträglich, der Himmel liegt bleiern gesmogt wie ein Topfdeckel über allem. Später zu Hause in Deutschland werde ich mir vorwerfen lassen dürfen, dass mein Fotoapparat ja wohl Schrott sei und die absoluten grau verschleierten Kackfarben produziere. Irrtum, die Farben in weiten Teilen Chinas sind in realiter grau verschleierte Kacke. Das legendäre Ostblockgrau beherrscht in allen Schattierungen die Farbskala. Warum sollte es hier anders sein als früher in der Zone? In China hat sich uns kaum etwas farbig präsentiert. Das Ostblockgrau weicht nur bei Nacht einem neonbunten Glitzer von amerikanischen Ausmaßen. Nachts ist China bunt, nachts verwandeln sich die Städte, da wirken selbst Beijing und Xi’an lebendig und einladend.
Doch noch ist Tag und die Stadt Xi’an zu unseren Füßen ist erschütternd hässlich. Nur der alte Glockenturm im Zentrum der sozialistischen Bausünden hat etwas Chinesisches an sich. Ebenso das prachtvolle Gebäude gleich links neben dem großen südlichen Mauertor. Doch kaum lobe ich es, fährt mir Frau Han schnippisch über den Mund, denn das ist ein völliger Neubau, total retro, ein Hotel im alten chinesischen Stil. Bäh. Gut, wir verlassen wie so oft die Gruppe und schauen lieber den Abrissbirnen zu, die ein zauberhaftes altes Viertel, das uns eigentlich als absolut sehenswert ans Herz gelegt worden war, abreißen. Pagodendächer, Ziegelmauern und geschnitzte Türstöcke stürzen vor unseren Augen unter dem Ansturm von Schaufelbaggern ein. Unsere Quasselstrippe bestätigt unsere Vermutung, dass Xi’an nun endlich aufgehübscht wird. Das alte Gelump muss den modernen Betonsilos Platz machen. Lange hat es gedauert, aber endlich ist es so weit! Der Partei sei Dank. Dann wird auch hier die eine oder andere nie fertig gebaute Bauruine stehen. Auf der anderen Seite der Stadtmauer tummeln sie sich ja schon, die maroden Betonskelette nie vollendeter Protzbauten.
In Xi’an wohnen wir im Garden Hotel, das den Namen wirklich verdient, denn die Anlage ist im chinesischen Stil erbaut und mit netten Gärten durchsetzt. Jeden Morgen macht in dem größten Garten ein weiß gewandter Mann während der Frühstückszeit Tai-Chi vor dem großen Panoramafenster. So was gefällt dem Touri als solchem! Praktischerweise liegt das Hotel auch direkt neben der Großen Wildganspagode aus dem Jahr 652, einer der Top-Sehenswürdigkeiten. Direkt vor der Pagode hat die Gemeinde in den vergangenen Jahren kräftig investiert und einen schier endlos großen Promenadeplatz geschaffen. Zentraler Anziehungspunkt des Platzes ist ein gigantischer, mehrere Fußballfelder großer Brunnen. Jeden Abend um halb neun finden dort Wasserspiele mit Musik und Lasergeblitze statt. Natürlich wollen wir uns das nicht entgehen lassen. Die Wasserspiele sind beliebt, der Platz ist zum Bersten voller Menschen. Wir quetschen uns in die Nähe des Brunnens und harren gespannt, noch hat das Spektakel nicht begonnen. Denken wir zumindest, bis uns klar wird, dass das Spektakel just in dem Moment begonnen hat, als wir den Platz betreten haben: Wir sind es! Man zeigt, deutet, betatscht, fotografiert. Teenies gruppieren sich um uns, Kinder werden uns in die Arme gedrückt … Routine …
Als besonders hartnäckig entpuppen sich diesmal zwei kleine Jungs, die uns eine geschlagene halbe Stunde lang mit offenen Mündern anstarren und uns überall hin verfolgen. Auch während der Brunnenshow (Wasserspritzer tanzen im rosa Licht zu »An der schönen blauen Donau«) gilt das Hauptinteresse der Masse uns. Carsten ist endgenervt und kurz davor, wild um sich zu schlagen, er will nur noch zurück ins Hotel.
Am nächsten Tag sind wir trotz einsetzenden Regens doch wieder versöhnt, denn nach der Großen Mauer ist der sensationellste Programmpunkt der Reise angesagt – die Terrakotta-Armee. Über 7 000 tönerne Soldaten und Pferde in Lebensgröße ließ sich der erste chinesische Kaiser Qin Shi Huang Di rund 200 Jahre vor unserer Zeitrechnung als Grabbeigabe mitgeben. Die Gruft des Kaisers liegt rund 40 Kilometer östlich von Xi’an und ist bis heute ungeöffnet, doch rings um den Grabhügel wurde eifrig gebuddelt. Rund 5 000 Tonkrieger sind wieder ausgegraben und teilweise renoviert worden und stehen nun in riesigen überdachten Hallen. Jede Figur ist ein Unikat, jeder Krieger hat individuelle Gesichtszüge, eine eigene Körperhaltung, eine einzigartige Frisur. Beeindruckend, imposant, umwerfend, einfach schwer in Worte zu fassen, weil unbeschreiblich.
Unsere am Vortag noch dampfplaudernde Reiseleiterin hat offenbar von Rainer einen Dämpfer bekommen, denn an diesem Tag ist sie erheblich wortkarger und lässt uns viel mehr Freizeit, um die Anlage auf eigene Faust zu erkunden.
Doch natürlich hat sie noch die Zügel in der Hand und scheucht uns in das museumseigene TAZ. Hier kann man sich den Katalog zur Ausstellung kaufen und von jenem Bauern signieren lassen, der Anfang der 70er-Jahre des vorigen Jahrhunderts den ersten Tonkopf auf seinem Acker gefunden hat und damit den Startschuss für die Ausgrabungen der Terrakotta-Armee gegeben hat. Da sitzt ein altes Männlein hinter dem Tresen und malt tagein, tagaus geduldig mit einem fetten Edding seinen Namen in die Bücher. Vermutlich hat man ihm extra dafür das Schreiben beigebracht. Außerdem weist uns die Führerin ausdrücklich darauf hin, dass man hier und nur hier die Repliken von Tonkriegern kaufen könnte. Alles, was in der Stadt angeboten werde, sei Schund und Schrott und keinen Yuan wert. Natürlich sind die Preise gepfeffert und gesalzen, dennoch verfallen die üblichen Verdächtigen unserer Reisegruppe wie auf Befehl in Kaufrausch und erstehen T-Shirts für 130 Yuan, also 13 Euro, oder Mini-Krieger für 50 Euro. Wir können nur sprachlos und kopfschüttelnd zusehen, wie debile Langnasen ihre Kreditkarten zücken. Dass Hemdchen und Tonpüppchen beim Tandler an der Ecke nur einen Bruchteil kosten, ist den Kaufwütigen egal. Doch es soll noch besser kommen. Denn nach Ende von Besichtigungstour und (diesmal sehr leckerem) Mittagessen schleppt uns Frau Han, ohne vor Scham rot zu werden, auch schon in das nächste TAZ, diesmal eine Jadeschleiferei. Angesichts so vieler geschmackloser Drachen, Vögel oder Blumen aus buntem Stein stellt sich die Frage, ob China wirklich jemals eine große Kulturnation gewesen ist. Uns bleibt die Spucke weg, und manchem unserer Mitreisenden offenbar der Verstand. Anders ist es nicht zu erklären, dass und vor allem was dort gekauft wird. Preislich liegt auch dieses TAZ an der Grenze zum Raubrittertum. Wessen Idee war es doch gleich, eine Gruppenreise zu buchen?!
Mittlerweile hat es sich draußen eingeregnet, und wir müssen die letzte Attraktion des Tages, die Große Wildganspagode, patschnass besichtigen. Seit einigen Jahren lässt die Partei wieder Religiosität jenseits der Anbetung Maos zu, und so wurden und werden überall in China buddhistische Anlagen renoviert und reaktiviert. Wie die siebenstöckige Wildganspagode, von der aus man einen herrlichen Blick über die Stadt Xi’an hat – wenn es nicht in Strömen regnet. Die Hasis aus Österreich sind natürlich glücklich vorneweg die Treppen hochgestürmt, schließlich wollen sie jede Pagode besteigen, jede. Ab und an huscht ein orange gekleideter Mönch vorbei. Aus versteckt angebrachten Lautsprecherboxen tönen buddhistische Mönchsgesänge. Apropos: Beinahe überall wird man beschallt – ob bei den Ming-Gräbern, der Heiligen Straße, dem Stelenwald oder in der Pagode, wo man geht und steht, tönt es aus nicht sichtbaren Lautsprechern. Vielleicht sind die noch aus Zeiten, als das Volk für seine ununterbrochene Gehirnwäsche mit Mao-Sprüchen zugetextet werden musste. Nun plätschert chinesischer Muzak, belanglose Fahrstuhlmusik, durch die Gegend.
Xi’an ist berühmt für eine kulinarische Spezialität: Ravioliartige Teigtaschen mit unterschiedlichsten Füllungen. Die Form der Teiglinge richtet sich dabei nach dem Inhalt. Kunstvoll werden kleine Schweinchen oder Häschen oder auch Walnüsse geformt. Während sich der Großteil unserer Gruppe von Frau Han zum Teigtaschenfuttern führen lässt, erkunden wir und noch ein paar andere Dissidenten lieber die abendliche Stadt und stolpern dabei gleich über den schönsten und interessantesten Markt, den wir auf unserer ganzen Reise fanden. Rund um die alte Moschee im Zentrum der Stadt herrscht in verwinkelten Gassen ein buntes Treiben. Muslimische Frauen mit Kopftüchern bieten in ihren Buden jede Menge Touristenkitsch feil, darunter spottbillige Tonkrieger und Jadeobjekte, aber auch Alltagswaren und exotische Lebensmittel. Nicht muslimische Frauen ohne Kopftücher tun dasselbe. So wie auf dem Xi’aner Nachtmarkt haben wir uns China vorgestellt. In manchen Gassen reiht sich Garküche an Garküche. Überall duftet es nach gebratenen Spießchen und Holzkohlefeuer, überall gibt es was zu sehen. Doch leider finden wir weder auf dem Markt noch in den Straßen ringsum irgendein Restaurant, denn wir haben keine Lust auf Garküche im Stehen und wollen nach Möglichkeit chinesische Ravioli kosten. Wir irren einmal quer durch das nächtliche Xi’an, flanieren über grell erleuchtete Luxus-Shoppingmeilen (»Opening soon: Your Louis Vuitton Flagship Store in Xi’an« – darauf haben wir sicher gewartet) und bleiben hungrig. Wir hätten natürlich in eine der zweikommaachtmillionen KFC-Filialen einkehren können, oder bei den fünfhundertsechzehntausend McDonald’s, auch Sushi, TexMex oder sogar Brasilianisch wäre möglich gewesen, aber nein, wir Dickköpfe suchen ums Verrecken ein chinesisches Restaurant mit english menu. Vergeblich. Denn sobald wir endlich etwas Chinesisches entdecken, was nicht gleich nach neonlichtdurchflutetem Cockroach-Inn aussieht, und freudig hineinstürmen, stehen wir vor verständnislosen Bedienungen. Sie starren uns mit großen Augen an, und nachdem wir unser »ni hao«, das chinesische Hallo, losgeworden sind, stupsen sie sich kichernd an und halten uns chinesische Speisekarten unter die Nase. Wir sagen freundlich »xie xie«, was ungefähr »schjä-schjä« ausgesprochen wird und vielen Dank bedeutet, und suchen weiter. Zuletzt kehren wir bei einem neonbeleuchteten chinesischen Schnellimbiss ein, wo es Essen zum Draufdeuten gibt, darunter zweierlei Xi’an-typische Teigtaschen. Mit Lamm und mit Schwein. Sie sind natürlich nicht kunstvoll geformt, sondern sehen aus wie blasse Ravioli. Sie schmecken mäßig bis passabel, zum Glück stehen Sojasauce und Chili am Tisch, viel Bier der chinesischen Marke »Hans« spült sie hinunter. Am nächsten Tag ärgern wir uns ein klein wenig, als wir erfahren, dass sich direkt über dem Schnellimbiss das berühmteste und beste Ravioli-Restaurant Xi’ans befindet. Der Eingang zum Gourmettempel ist noch dazu direkt im Schnellresto. Wir sind daran vorbeigegangen! Dort oben hatte sich ein Teil unserer Gruppe die Wänste mit erlesensten Delikatessen vollgeschlagen. Und wir hatten uns noch gewundert, warum neben der Eingangstür lauter kunstvolle, lecker aussehende Teigtaschen dekoriert waren.
Am nächsten Morgen geht unser Flieger nach Shanghai. Zum Glück habe ich diesmal vorgesorgt und mir in einem Supermarkt eine große Tüte getrockneter Bananenchips besorgt, denn schon der Anblick dessen, was uns von den grimmigen Stewardessen brüsk vor den Latz geknallt wird, reicht völlig, um nie wieder etwas essen zu wollen. Der Abschied von Xi’an fällt uns relativ leicht. Die Stadt hat uns trotz sensationellen Markttreibens nicht sonderlich überzeugt. Ganz anders Shanghai.
Shanghai
Die Chinesen sagen: »Beijing ist das China der Gegenwart, Xi’an das China der Vergangenheit und Shanghai das China der Zukunft.« Recht haben sie, zumindest, was Shanghai betrifft. Die Stadt ist wow. Eine Megametropole, ein Moloch, eine reale Version der durchgeknallten Zeichentrickstadt aus »Futurama« oder der Filmkulisse aus »Blade Runner« (okay, diesen Vergleich habe ich schon bei Bangkok gebracht, doch für Shanghai ist er noch zutreffender). Pulsierend, bunt, aufregend. Leider ist unser hiesiger Guide nicht wow. Der Typ ist jung und hip und manchmal auch ein klein wenig freundlich, aber vor allem ist er unverschämt und wurschtig. Großstädter eben. Statt »Würden Sie mir nun bitte schon folgen, dann können Sie schon die Sehenswürdigkeit genießen«, wie Rainer es zu sagen pflegte, schnauzt er nur »Los jetzt. Raus!«. Sein Deutsch ist zweifelsfrei perfekt, er hält es jedoch nicht einmal für nötig, sich vorzustellen. Helga aus Salzburg, die schon seit Tagen um Contenance ringt, wenn es um das Thema chinesische Höflichkeit oder Rücksichtnahme geht, reicht es nun. Ganz Dame nimmt sie sich kurz aber deutlich Rainer zur Brust, der sofort dafür sorgt, dass wir auch hier die Programmpunkte »schon genießen« können. Den Namen unseres Shanghaiführers erfahren wir trotzdem nicht.
Wir wohnen im Radisson SAS Langshen und haben den Luxus pur: Von unserem großzügigen Zimmer im 27. Stock sieht man die ganze Skyline von Shanghai. Wir wollen am liebsten das Zimmer gar nicht mehr verlassen und nur am Fenster sitzen. Doch die Gruppe ruft, also brechen wir auf zum Tempel des Jadebuddhas. Der kuschelt sich romantisch zwischen Hochhäuser und ist wie viele andere »alte« Sehenswürdigkeiten nagelneu. China mag zwar über eine jahrtausendealte Kultur verfügen, doch da gab es mal etwas, was sich Kulturrevolution nannte: Maos verbitterter Kampf um die Macht, den er als Kampf gegen alles Althergebrachte, Revolutionsfeindliche tarnte. In den 1960er-Jahren wurde landesweit so ziemlich alles plattgemacht, was die chinesische Kultur ausmachte und heute für Touristen anziehend sein könnte. Tempel und Pagoden wurden geschleift, Buddha- und Götterstatuen zerstört, alte Schriften verbrannt, ganz zu schweigen davon, was Menschen, z. B. Intellektuellen und Mönchen, angetan wurde. Verglichen mit anderen Metropolen wie New York oder Paris oder Bangkok hat deshalb eine Megacity wie Shanghai nur sehr wenige landestypische Sehenswürdigkeiten, jeder kleine Tempel wird als Attraktion verkauft. Nun hatte der Tempel des Jadebuddhas weiland einen weisen Abt, der einfach die beiden kostbaren antiken Buddhastatuen aus burmesischer Jade in rotes Tuch gehüllt und mit Mao-Zitaten beschriftet hat. Als der Mob kam, den Tempel zu zerstören, um die Kultur zu revolutionieren, wurden die Preziosen verschont, denn niemand traute sich, etwas zu zerschlagen, was sich in Mao-Sprüchen verbarg. So sind die Statuen noch heute zu bewundern (was sich wirklich lohnt), und immerhin wurde ringsum der Tempel im alten Stil wieder aufgebaut. Auch hier huschen sogar ein paar Mönchlein durch die Gänge. Idyllisch.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.