Kitabı oku: «Die Tage von Gezi», sayfa 2
Mine
»Mal schauen. Aber ich glaube, ich bleibe. Die kommen sonst einfach in der Nacht und holzen die Bäume ab.«
Mine hatte fertig gepackt, zuletzt noch die Isomatte an der Seite ihres Rucksacks verschnürt, sich erhoben, ihre Arme um Vedats Nacken gelegt und ihm einen Kuss auf den Mund gedrückt. Sie hatte seine Einwände nur zur Kenntnis genommen, ihren Plan aber nicht wirklich überdacht. Ihr Entschluss stand fest: Sie würde, wenn es sich als notwendig erwies, im Park übernachten.
Mine war eigentlich kein sonderlich politischer Mensch. Sie las zwar Zeitungen, hatte einige Online-Nachrichtenportale abonniert und schaute abends, wenn sie Zeit hatte, auch mal die Hauptnachrichten im Fernsehen, hatte bei den letzten Wahlen aber noch nicht einmal ihre Stimme abgegeben. Warum auch? Seit sie zehn Jahre alt war, hatte Recep Tayyip Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, kurz AKP, alle Wahlen gewonnen. Mine kannte quasi keinen anderen Premier als Erdoğan. Und dass er die letzten Wahlen – die ersten, bei der sie selbst hätte wählen dürfen – wieder gewinnen würde, daran hatte kein Zweifel bestanden. Also war sie nicht hingegangen, denn die Oppositionsparteien waren aus ihrer Sicht auch keine Alternative. Entweder waren sie, wie die Kemalisten der CHP, für den jahrzehntelangen Stillstand des Landes verantwortlich, oder, wie die nationalistische MHP, diverse sozialistische und kommunistische Splitterparteien und Kurdenverbände für die liberal erzogene Professorentochter zu radikal. Ihre Eltern hatten sich am Tag nach der Wahl besorgt gezeigt, dass die AKP, diesmal mit gut fünfzig Prozent der Stimmen, erneut die absolute Mehrheit errang und weiter allein regierte. In der Folge beklagten sie bei jeder sich bietender Gelegenheit eine schleichende Islamisierung des Landes und – meinten damit auch ihre Tochter – das mangelnde politische Engagement der Jugend. Mine empfand das als Jammern auf hohem Niveau, schließlich hatten es sich ihre Eltern in ihrer Bildungsbürgerlichkeit mit allem Komfort bequem gemacht und taten auch nicht mehr, als alle vier Jahre ein Kreuz bei der CHP zu machen. Außerdem dachte sie persönlich weniger schwarzmalerisch. Gut, die Restriktionen bezüglich des Konsums von Alkohol und die ständigen Appelle an ihre Gebärfreudigkeit – drei, besser fünf Kinder sollte eine türkische Frau nach Meinung Erdoğans zur Welt bringen – gingen auch ihr auf die Nerven. Aber hatte der nun dreimalige Premierminister nicht auch etwas bewegt im Land? In Sachen Infrastruktur etwa. Sie konnte sich noch daran erinnern, wie sie als kleines Mädchen mit ihrer wild fluchenden Mutter stundenlang mit dem Auto im Stau gesessen hatte, auf dem Weg zum Einkaufen oder zum Arzt, so chronisch verstopft waren die Straßen gewesen. Nun fuhr sie mit der Metro eine Station von der Haltestelle Osmanbey zum Taksim-Platz und ging den restlichen Weg zu ihrer Uni, der privaten, international ausgerichteten Bilgi Universität, im Stadtteil Kurtuluş in ein paar Minuten zu Fuß. Gut, die Straßen waren zur Hauptverkehrszeit noch immer fast genauso verstopft wie früher – es gab zwar bessere Straßen, aber auch mehr Autos – und die Wagen der Metro immer voll. Aber es war doch vieles einfacher und – wie sie fand – besser geworden, und das, obwohl sich die Bevölkerung Istanbuls seit ihrer Geburt auf den heutigen Stand von vermutlich zwanzig Millionen – so genau wusste das niemand – verdoppelt hatte.
Der Schnee ihrer Kindheit war schwarz gewesen, weil es keine Zentralheizungen gab, sondern Kamine und Ölöfen, in denen in der Not auch mal alte Autoreifen verheizt wurden und uralte, klapprige Sammeltaxen und Busse ungefilterte Dieselabgase aushusteten. Nun gab es Gasheizungen und moderne Omnibusse, die Taxen fuhren mit Gasmotoren und die meisten Autos hatten Katalysatoren und Rußpartikelfilter, und so konnte sie vom Wochenendhaus der Familie auf Büyükada, der »großen Insel« im Marmarameer, sogar die Skyline der Stadt sehen, die noch vor wenigen Jahren hinter einem gelben Streifen Smog, der wie ein Vorhang ständig zwischen Himmel und Meer hing, verborgen gewesen war. Sie fand, dass Istanbul moderner und schicker geworden war. Mit seinen Einkaufsarkaden und Hochhäusern aus Glas war es ein bisschen wie London, wo sie nach dem Abitur drei Monate an einer Sprachschule verbracht hatte, weil ihre Eltern der Meinung waren, dass ihr Englisch besser sein könnte. Auch, dass junge Mädchen, wenn sie wollten, nun in den Universitäten wieder Kopftuch tragen durften, fand sie in Ordnung. Einige ihre Kommilitoninnen und Freundinnen an der juristischen Fakultät der Uni trugen Kopftücher. Solange sie es nicht müsste! Und weil sie es nicht musste, weil sie tun und lassen konnte, was sie wollte, war es für sie gut, wie es war. Sie war zweiundzwanzig, traf sich am liebsten mit Freunden, ging ins Kino, feierte und tanzte gerne, trank Alkohol. Das ging bislang eben auch unter Erdoğan.
Vedat, zwei Jahre älter als Mine, machte das alles mit. Nur wenn er sie mit zu seinen Eltern nach Hause in Kasımpaşa nahm, bat er sie manchmal, etwas anderes anzuziehen, einen etwas längeren Rock etwa. Sie tat das dann, obwohl sie insgeheim bezweifelte, dass Vedats Vater oder Mutter je an ihrer Kleidung gemäkelt hätten, die so aufreizend ohnehin nie war. Aber sie tat es dennoch gerne, hatte schließlich gewusst, dass sie einen Mann heiratete, der aus anderen Verhältnissen stammte als sie selbst. Und sie akzeptierte, dass seine Eltern eben religiöser waren als ihre, dass der Vater ständig die Holzkugeln der Tesbih durch die Finger gleiten ließ, regelmäßig zum Freitagsgebet ging, im Spind seiner Dienststelle einen Gebetsteppich hatte, um, wenn er nicht gerade auf Streife war, das ein oder andere der täglich fünf Gebete zu verrichten. Das hatte ihr Vedat erzählt. Es störte sie auch nicht, dass im Wohnzimmer über der Couch neben dem obligatorischen Bild von Kemal Atatürk, dem Staatsgründer und »Vater der Türken«, eines von Premierminister Erdoğan hing. Vedats Vater und damit auch Vedat und der Rest der Familie hatten natürlich AKP gewählt, deren Logo, eine Glühbirne, Licht und Aufbruch symbolisieren sollte, den es in Kasımpaşa ja auch tatsächlich gegeben hatte. Das war an jeder Straßenecke zu sehen. Also gab man dem Sohn des Viertels seine Stimme. Es war ihr gutes Recht, Erdoğan zu wählen, fand Mine. Auch wenn sie es eben nicht tat. Gar nicht zur Wahl gegangen war.
Die Sache mit dem Park aber fuchste Mine. Sie mochte Bäume, ihr vor der glühenden Sommersonne schützendes Grün, unter dem sie mit Kommilitonen in vorlesungsfreien Zeiten saß und schwatzte, das Rauschen der Blätter, das sie bei geöffnetem Fenster ihres Schlafzimmers auf Büyükada in den Schlaf wiegte, das leuchtend rot und gelb verfärbte herbstliche Laub. Der Gezi-Park, dem Hotel »The Marmara« – einst bestes Haus am Platz – gegenüber, war im derzeitigen Zustand sicher keine Zierde, da gab sie Vedat insgeheim recht. Er wirkte ungepflegt und vernachlässigt, die Steinplatten der vor Jahrzehnten angelegten Wege waren zersprungen, abgesunken, aufgeworfen, der Springbrunnen lief eigentlich nie und wurde als Mülleimer missbraucht. Aber es gab Bäume. Und Rasenflächen, die im August, September zwar nicht mehr grün, sondern braun waren, aber Mine und ihren Freundinnen und Freunden die Möglichkeit boten, in längeren Pausen zwischen den Vorlesungen nach einem kurzen Spaziergang den stickigen Gängen und Sälen der Uni zu entkommen. Und das sollte nun dem Nachbau einer osmanischen Kaserne weichen, mit einem kleinen Militärmuseum und integriertem Einkaufszentrum. Schnell hatte sich an der Uni eine kleine Gruppe von Studenten und auch einiger Dozenten gebildet, die dagegen waren, viele schon aus Prinzip – weil sie nicht gefragt worden waren. Die Pläne waren der Öffentlichkeit nicht vorgestellt, die Anwohner in der Planungsphase nicht beteiligt worden. Die Stadtverwaltung hatte sie vor vollendete Tatsachen gestellt. Nicht nur der Gezi-Park, der gesamte Taksim-Platz sollte umgestaltet werden, dafür musste die Verkehrsführung der mehrspurigen, zum Platz führenden Straßen geändert werden. Damit hatten Bautrupps gegen den Protest einer Bürgerinitiative und trotz laufender Gerichtsverfahren schon vor Monaten begonnen. Bagger und Lastwagen wirbelten hinter Absperrungen aus Metall Staub auf, wo der Tarlabaşı Boulevard in die Cumhuriyet Straße überging, die nach Nişantaşı führte, dem Stadtteil, in dem Mine geboren und aufgewachsen war und in dem sie nun mit Vedat eine eigene Dreizimmerwohnung bewohnte, die ihre Eltern ihnen zur Hochzeit geschenkt hatten. Seit dem Beginn der Arbeiten war das ewige Verkehrschaos in der Stadt noch größer geworden. Aber Mine konnte ja die Metro benutzen.
Vedat schnürte sich im engen Flur gerade die schweren Stiefel und zog die dunkelblaue Uniformjacke über, deren Aufdruck, das wusste Mine, ihn stolz machte. Denn er war kein einfacher Streifenpolizist wie sein Vater, er war Mitglied der Çevik Kuvvet Polis, einer Sondereinsatztruppe der Polizei, die zur Abwendung von Gefahren für die öffentliche Ordnung, vor allem bei Versammlungen und Kundgebungen eingesetzt wurde.
»Komm doch einfach dazu, wenn du mit deiner Schicht durch bist. Ruf mich an und ich sage dir, wo wir sind.«
Sie drückte ihm einen Kuss auf den Mund, schulterte ihren Rucksack, zwängte sich an ihm vorbei und hatte die Wohnungstür hinter sich zugezogen, bevor Vedat noch irgendetwas erwidern konnte.
Marc
Na, prima. Marc hatte sich, bevor er losgegangen war, mit seinem Mobiltelefon ins WLAN-Netz des Hotels eingewählt und sich auf der Seite eines Kartendienstes die Lage des Turkish Airlines Büros eingeprägt, einen Screenshot des Kartenausschnitts zu machen aber dummerweise vergessen. Nun stand er am Atatürk-Denkmal mitten auf dem Taksim-Platz, rechts das Hotel »The Marmara«, vor ihm, am anderen Ende des Platzes, das geschlossene und zum Abriss vorgesehene Atatürk Kulturzentrum. Da, wo er eigentlich hin musste, nach links, versperrte ihm ein sicher hundert Meter langer Bauzaun den Weg, den ihm sein smartes Smartphone natürlich nicht angezeigt hatte. Dahinter wirbelten mehrere Bagger und Bulldozer eine ganze Menge Staub auf. Und jetzt? Die Datenroamingfunktion seines Mobiltelefons hatte er abgeschaltet, er war erstens im Urlaub und zweitens die Türkei nicht in der EU, die Preise für Internetverbindungen also horrend. Er erinnerte sich, auf der Karte eine kleine Grünfläche gesehen zu haben, die als »Gezi-Park« verzeichnet war. Vielleicht könnte er ja da durch und so die Baustelle umgehen. Er schaute sich um. Die Absperrung endete an den Stufen, die zum Park hinaufführten, er schien also offen zu sein. Marc schritt die Stufen hoch und blieb irritiert stehen. War der Park doch geschlossen? Den weiteren Weg versperrten ihm Gitter mit der Aufschrift »Polis«, dahinter, um eine kleine Hütte herum, hockten im Schatten der Bäume mehrere Dutzend Polizisten. Dann sah er aber, dass Menschen in ziviler Kleidung durch zwei kleine Durchlässe rechts und links der Absperrungen hindurchgingen. Er passierte die Absperrungen auf der linken Seite und betrat den kleinen Park, dessen betonierte Wege Risse aufwiesen und der insgesamt ungepflegt wirkte. Er musste sich links halten, erinnerte er sich, aber die Ausgänge, an denen er vorbeikam, waren allesamt vergittert. Teile einer Mauer, die den Park offensichtlich mal umgeben hatte, waren eingestürzt und gaben den Blick auf die Großbaustelle frei, die ihm den direkten Weg zum Büro der Fluggesellschaft versperrt hatte. Er ging weiter und vernahm plötzlich so etwas wie Sprechchöre, menschliche Stimmen, die gemeinsam etwas riefen. Vor sich, unter Bäumen, entdeckte er einige Zelte, zwischen die Plakate gespannt waren. »Gezi Parkı bizim!«, stand darauf. Und »Parkımızı vermiyoruz!« Was hat das zu bedeuten?, fragte sich Marc, dessen Türkischkenntnisse sich auf die Worte für »Bitte«, »Danke«, »Guten Tag«, »Auf Wiedersehen« und »Nein danke, Bruder!« beschränkten. Er ging näher, seine journalistische Neugier trieb ihn. Sie im Urlaub abzulegen gelang ihm leider nicht immer. Eher viel zu selten. Es war ein Kreuz mit seinem Riecher, Trüffelschwein hin, gute Story her. Deswegen zog er sich auch immer an möglichst einsame Orte, im Idealfall ohne Telefon- und Internetverbindung, zurück – nur dass solche Orte immer seltener wurden und Istanbul garantiert nicht dazugehörte.
Ein Gruppe meist junger Menschen skandierte etwas, das er nicht verstand, aber es war offenbar eine kleine Demonstration, die dennoch von öffentlichem Interesse sein musste, denn um die Gruppe herum standen Kamerateams und Fotografen und auch einige Polizisten, die allerdings recht gelangweilt wirkten und die Schlagstöcke locker an den Schlaufen um ihre Handgelenke baumeln ließen. Die Fahrer zweier Bulldozer hockten in den Führerhäuschen, rauchten und schauten auf die Szene herab. Ein älterer Mann, der auf der Seite der Demonstranten stand, redete aufgeregt auf einen Polizisten und mehrere Männer in Anzügen ein.
»Hallo, ich bin Marc aus England. Könnt ihr mir erklären, worum es hier geht?«
Marc fragte ein junges Pärchen, das Hand in Hand am Rand der Demonstration stand.
»Sie wollen die Bäume abholzen und statt des Parks ein Einkaufszentrum bauen. Dagegen protestieren wir.«
Der flaumbärtige Junge und seine zierliche Freundin schauten ihn mit ernsten Augen an.
»Die kommen hier einfach hin und reißen unseren Park ab! Die fragen nie, sondern machen einfach!«
Das Englisch der beiden war ziemlich gut, seines hatte einen amerikanischen Einschlag, ihres war Oxford pur.
»Wir sind Studenten an einer Uni hier in der Nähe und wir haben die Nase voll. Die können nicht einfach machen, was sie wollen. Gestern ist ein Bautrupp gekommen und hat fünf Bäume abgeholzt. Wir haben uns dann vor die Bagger gestellt und sie daran gehindert, noch mehr Bäume auszureißen. Aber jetzt sind sie schon wieder da und wollen weitermachen.«
In den Augen der jungen Frau funkelte Wut.
»Ich verstehe. Und wer ist der Mann da vorn?«
Marc zeigte auf den älteren Herrn, der noch immer wild gestikulierend mit den Anzugträgern und dem Polizisten diskutierte.
»Das ist ein Abgeordneter der BDP. Er versucht, das hier zu stoppen.«
Das politische System der Türkei war nicht gerade Marcs Spezialgebiet, aber er meinte sich zu erinnern, dass die BDP eine liberale kurdische Partei war.
»Warum interessiert Sie das?«
Nun war Neugier in ihren Augen.
»Berufskrankheit. Ich bin Journalist, aber eigentlich im Urlaub hier.«
»Sie sollten hierüber mal berichten!«
»Ich sage es meinen Kollegen, danke.«
Marc verabschiedete sich. Proteste gegen das Fällen von ein paar Bäumen in einem Istanbuler Park waren nun wirklich keine Geschichte, für die es sich lohnte, kostbare Urlaubszeit zu vergeuden, so sehr ihn die Empörung des jungen Paares auch rührte. Er ging weiter und verließ den Park am entgegengesetzten Ende. Entlang des Bauzauns lief er ein Stück zurück und schlug sich dann in eine Seitenstraße, in der er das Büro der Fluggesellschaft vermutete. Nachdem er noch ein paar Mal nachgefragt und dabei auf den Ausdruck seines elektronischen Tickets mit dem Logo von Turkish Airlines gezeigt hatte, fand er es auch, betrat das klimatisierte Kundenzentrum, zog eine Nummer und setzte sich auf einen der letzten freien Stühle im Warteraum vor den Schaltern. Es dauerte fast eine Stunde, bis seine Nummer endlich über einem der Schalter aufleuchtete, und eine weitere, bis er den Rückflug nach London um zehn Tage nach hinten verlegt, fast zweihundert Türkische Lira Gebühr und Aufpreis für die höhere Buchungsklasse gezahlt und ein neues Ticket ausgestellt bekommen hatte. Weil er hungrig war, suchte er sich ein kleines Restaurant in der Nähe und bestellte sich Adana Kebab, scharfes, auf einem Spieß gegrilltes Hackfleisch vom Rind, mit Reis und Salat. Dazu trank er einen Becher Ayran, ein Joghurtgetränk, das zu Fleisch und auf Wunsch mit frischer Minze gereicht wurde. Leicht gepfeffert und gesalzen, so hatte es ihm an seinem zweiten Tag ein Kellner beim Mittagessen erklärt, ein erfrischender Durstlöscher.
Nachdem er bezahlt hatte, beschloss er, den gleichen Weg zurückzugehen, um sich nicht in der Großbaustelle zu verlaufen. Als er den Park dort betrat, wo er ihn verlassen hatte, war von den Demonstranten weder etwas zu hören noch zu sehen. Dafür waren die Grünflächen zwischen den Bäumen nun von mehreren Dutzend Polizisten bevölkert, an deren Anblick ihn etwas irritierte. Erst, als seine Augen plötzlich zu tränen begannen und er diesen stechenden Geruch in der Nase hatte, den er von Einsätzen als Reporter kannte, von den Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz in Kairo etwa, wusste er, was ihn da irritierte: Die Männer in den dunkelblauen Uniformen und weißen Helmen trugen Gasmasken. Offensichtlich war hier gerade Tränengas gegen die Demonstranten eingesetzt worden. Zwei von ihnen kamen auf ihn zu. Einer zog den Helm aus, schob die Gasmaske auf die Stirn und sagte etwas auf Türkisch zu ihm. Marc zuckte mit den Schultern.
»Entschuldigen Sie bitte, aber ich verstehe nicht. Ich spreche kein Türkisch.«
Der Polizist antwortete erneut auf Türkisch, Marc zuckte wieder mit den Schultern und versuchte, weiterzugehen. Die Spitze eines Schlagstocks, die auf seine Brust tippte, hielt ihn zurück. Verdammt, was war hier los?
Marc schaute über die Schultern der beiden Polizisten in den Park. Die Demonstranten waren weg, die Zelte auch, nur die Reste von einigen Plakaten lagen zerknüllt auf dem Boden.
»Closed. Park closed.«
Ein dritter Polizist, Helm und Gasmaske unter den linken Arm geklemmt, war hinzugetreten und wies Marc mit drei Worten auf Englisch und seinem Schlagstock unmissverständlich den Weg. Marc fügte sich, obwohl die Sache ihn zu interessieren begann, aber man musste ja nicht gleich mit dem Kopf durch die Wand, vor allem nicht im Urlaub. Oft genug hatte er mit den Sicherheitskräften diverser Länder zu tun gehabt, um zu wissen, dass dies nicht der Moment war, sich auf eine Konfrontation einzulassen. Er zuckte noch einmal mit den Schultern und ging dann in die Richtung, die ihm der Schlagstock wies, aus dem Park heraus und vor dem Divan Hotel nach rechts, die Straße entlang, die am Hotel Intercontinental vorbei hinunter zum Stadion von Beşiktaş und zum Dolmabahçe-Palast führte. Auf einer Treppe am nordöstlichen Ende des Parks saß eine Gruppe junger Männer und Frauen. Sie hockten auf den Stufen unter von der Polizei offensichtlich als Absperrung gespanntem Flatterband.
Er erkannte das junge Pärchen wieder, das bei den Demonstranten gestanden hatte. Sie schluchzte an seiner Schulter, er, den Arm um ihre Schultern gelegt, schaute aus geröteten Augen ins Nichts. Neben ihnen hockte ein Mann, ebenfalls kaum älter als Anfang zwanzig, presste ein Taschentuch an seine rechte Schläfe, zwischen den Fingern hindurch lief Blut über Wange und Hals und färbte den Kragen seines T-Shirts rot.
»Was ist passiert?«
Marc setzte sich zu ihnen.
»Die haben plötzlich und ohne Vorwarnung mit Tränengas geschossen, uns mit Schlagstöcken aus dem Park geprügelt und die Zelte eingerissen und mitgenommen!«
Dem jungen Mann standen immer noch Entsetzen und Fassungslosigkeit ins Gesicht geschrieben. Seine Freundin hob den Kopf.
»Aus dem Nichts haben die auf uns eingeschlagen! Wir haben nichts getan, nur dagestanden!«
Ihre Stimme war tränenerstickt, aber in ihren Augen blitzte blanke Wut.
»Sind Sie der Journalist aus England?«
Die Frage kam von einer jungen, sehr hübschen Frau mit dunkler Lockenmähne, die inmitten der Gruppe hockte. Marc nickte.
»Hi, ich bin Mine. Sie müssen uns helfen!«
Kathrin
Kathrin hatte gerade die Rechnung bestellt, als ihr Mobiltelefon, das vor ihr auf dem Tisch lag, vibrierte und einen kurzen Piepton von sich gab. Sie saß mit ihrer Freundin Nevra in einem Café am Anleger von Heybeliada, einer der neun Inseln, die vor Istanbul im Marmarameer lagen, noch zur Stadt gehörten und Prinzeninseln hießen. Die Inselgruppe war ein beliebtes Ausflugsziel für stressgeplagte Großstädter. Es gab keinen Autoverkehr, als Fortbewegungsmittel dienten Pferdekutschen und Fahrräder. Dadurch war nicht nur die Luft besser, vor allem in den Sommermonaten, wenn sich die Hitze in den dicht bebauten Straßenschluchten des Festlandes staute, das ganze Leben auf den Inseln war irgendwie entschleunigt. Kathrin liebte es, durch die von Bäumen gesäumten Straßen mit den zumeist liebevoll renovierten Holzhäusern zu schlendern, gerade im April und Mai, wenn die üppigen Bougainvillea-Sträucher blühten und mit ihrem Magenta den Kontrast zwischen den weiß lackierten Holzfassaden und dem stahlblauen Himmel milderten. Außerdem konnte hier schon zu dieser Jahreszeit baden, wer Wassertemperaturen von achtzehn, zwanzig Grad nicht scheute. Wann immer sie vier, fünf Stunden Zeit hatte, fuhr sie raus auf die Inseln. So auch an diesem Morgen. Dienstags hatte sie nur eine frühe Vorlesung. Direkt im Anschluss war sie mit Nevra nach Heybeliada gefahren, die sie besonders in ihr Herz geschlossen hatte. Die Sommervillen reicher Istanbuler waren auf Büyükada noch größer und prächtiger, dafür lag Heybeliada dem europäischen Teil Istanbuls am nächsten. Die Überfahrt von Kabataş war eine halbe Stunde kürzer, außerdem gab es nur zwanzig Minuten zu Fuß von der Anlegestelle entfernt einen annehmbaren Strand mit ein paar Liegen und Sonnenschirmen und einem kleinen Restaurant mit akzeptablen Preisen. Für einen halbtägigen Ausflug ans Meer, für den man nicht alles selbst mitschleppen wollte, also genau das Richtige.
Kathrin war Dozentin für Architektur und Städtebau an der altehrwürdigen, 1882 gegründeten Mimar Sinan Universität der Schönen Künste, die im Stadtteil Fındıklı direkt am Bosporus lag. Schon während ihres Studiums an der Fachhochschule Köln hatte sie ein Auslandssemester an der Mimar Sinan verbracht – fünfzehn Jahre war das mittlerweile her – und schließlich über das Thema »Moderner Städtebau – Strategien für historisch gewachsene Großstädte am Beispiel Istanbuls« promoviert. Immer wieder war sie in den Semesterferien nach Istanbul geflogen, um lieb gewonnene Freunde zu besuchen und weil die Stadt sie faszinierte, das rasende Tempo, mit dem sie sich veränderte und sich gleichzeitig treu blieb. Nach dem Studium war sie dann aber erst einmal nach Hamburg gegangen, wo man die Hafencity plante und baute und Bedarf an jungen Architekten war. Ihr gefiel die Stadt, der Job aber erwies sich als Enttäuschung. Europas größtes Städtebauprojekt, wie man das neue Viertel südlich der Speicherstadt an der Elbe mit unhanseatischer Bescheidenheit gerne nannte, entpuppte sich auf den Plänen – und an ein oder anderer Stelle auch schon in der Realität – als lieblos aneinandergereihte Ansammlung ziemlich fantasieloser Wohn- und Geschäftsklötze, die moderne Adaptionen der alten Speicher darstellen sollten, dazwischen schachbrettartige Straßenzüge, die parallel zu den alten Hafenbecken verliefen. Architektonische Freiheiten und stadtplanerische Visionen, das musste sie, schon kurz nachdem sie im Team eines renommierten deutsch-iranischen Architekten angefangen hatte, feststellen, waren längst unter dem Staub deutscher Bürokratie und der Piefigkeit regionaler Politik begraben. Also heuerte sie kurz entschlossen – ein Headhunter hatte eines Abends bei ihr zu Hause angerufen – bei einem internationalen Architekturbüro an, das in Istanbul eine Dependance unterhielt und händeringend Architekten suchte. 2004 war das gewesen, die Stadt mittlerweile eine einzige Baustelle, der Stillstand der letzten Jahrzehnte des vergangenen Jahrtausends einem ungeheuren Bauboom gewichen, der Fachleute aus der ganzen Welt aufsog. Wer war da besser geeignet als sie?
Auch zahlte sich aus, dass sie während des Auslandssemesters bereits einen Türkischkurs absolviert hatte und ihre Sprachkenntnisse in der Zwischenzeit so weit ausgebaut hatte, dass sie trotz ihrer blonden Haare und blauen Augen im Alltag als Türkin durchging. Schon nach drei Jahren, in denen sie an der Planung und Entwicklung diverser Großprojekte mitgearbeitet hatte, wurde ihr eine Gastprofessur an der Mimar Sinan angeboten, die sie annahm. Keine schlechte Karriere für ein Mädchen aus einem niederrheinischen Dorf, nicht weit von der niederländischen Grenze entfernt, dachte sie immer wieder. Nur dass sie dabei ziemlich »geç kaldı« geworden war, »zu lang geblieben«, wie es die Türken nannten, wenn eine Frau mit achtunddreißig Jahren noch unverheiratet und kinderlos war.
Nun hatten Nevra und sie also Çay, starken türkischen Tee, aus kleinen Gläsern getrunken und Karadut Dondurmalı Kazandibi gegessen, karamellisierten Reispudding mit dem sehr fruchtigen, aber nicht zu süßen Eis aus schwarzen Maulbeeren, während sie auf die Fähre zurück nach Kabataş warteten. Kathrin hatte am späten Nachmittag noch einen Termin an der Uni, die praktischerweise nur eine Station mit der Straßenbahn vom Fähranleger entfernt lag. Sie nahm ihr Telefon vom Tisch und schaute auf das Display, auf dem das Symbol für eine eingegangene Kurznachricht blinkte. Sie drückte auf den Bildschirm, die Nachricht erschien. Sie war von Erol, einem befreundeten Musiker, der wie sie auf der asiatischen Seite wohnte, im zum Stadtteil Üsküdar gehörenden Viertel Kuzguncuk, das sich noch einen gewissen dörflichen Charme erhalten hatte, obwohl es direkt gegenüber von Beşiktaş lag, sehr zentral also, noch vor der ersten Bosporus-Brücke. Kuzguncuk war eine Oase der Ruhe in der tosenden Betonwüste Istanbuls. Viele Künstler und Intellektuelle hatten sich in dem seit jeher multikulturellen Viertel niedergelassen, in dem es zwischen schiefen alten Holzhäusern eine Moschee, drei Kirchen, armenisch und griechisch-orthodox, und auch eine Synagoge gab.
»Du glaubst das nicht!«
»Was?«
Nevra war sichtlich irritiert ob der Lautstärke ihres Ausrufs.
»Die Polizei ist mit Reizgas und Schlagstöcken gegen ein paar Studenten vorgegangen, die im Gezi-Park gegen das Abholzen der Bäume und den Bau dieser als Nachbau einer osmanischen Kaserne getarnten Shopping Mall protestiert haben!«