Kitabı oku: «Die Tage von Gezi», sayfa 3
Mine
Vedat lag auf dem Sofa und schaute fern, als Mine am frühen Abend nach Hause kam. Sie hatte noch über eine Stunde lang auf den englischen Journalisten eingeredet, ihm von den Plänen der Regierung erzählt, auf dem Gelände des Gezi-Parks ein Einkaufszentrum zu errichten und damit eine der letzten Grünflächen in Beyoğlu dem Konsum zu opfern, wie auch schon das über einhundert Jahre alte Emek-Theater in der Istiklal Straße einer Shopping Mall weichen sollte und die Polizei Anfang April Proteste von Künstlern, darunter der griechisch-französische Regisseur Costa-Gravas, mit Wasserwerfern und Tränengas beendet und unter anderen den berühmten Filmkritiker Berke Göl festgenommen hatte. Immer wütender war sie geworden. Die Regierung verschachere die kulturelle Identität der Stadt an den Kommerz, Premierminister Erdoğan sei ein Banause, der, als man beim Bau der Metro, die einmal unter dem Bosporus hindurchführen soll, die Überreste eines alten römischen Hafen gefunden hatte, abfällig von ein paar Keramikscherben gesprochen habe. Marc, der Journalist, hatte ihr aufmerksam zugehört und sie nur gelegentlich mit einer Zwischenfrage unterbrochen. Am Ende war er aufgestanden, hatte gesagt, dass er ihren Unmut verstehe, er aber nun mal im Urlaub sei, ihr aber immerhin seine Telefonnummer gegeben und versprochen, mit den Kollegen im Istanbuler Büro des Nachrichtenmagazins, für das er arbeitete, zu sprechen.
»Und? Wie war’s?«
Vedat schaute auf, als sie ins Wohnzimmer trat.
»Ist das dein Ernst? Das fragst du mich?«, giftete Mine.
»Du müsstest doch wissen, wie es war!«
»Was? Ich? Wissen? Wieso?«, stammelte er verdutzt.
»Und was ist mit deinen Augen los? Hast du geweint?«
Mine dreht sich zur Seite und schaute in den Spiegel, der in seinem verschnörkelten Rahmen über der alten Holzkommode, einem Erbstück von ihrer Großmutter, hing, und erschrak. Ihre Haare standen noch wilder vom Kopf ab als sonst, die Partie um ihre Augen war stark gerötet und angeschwollen.
»Geweint?«
Sie wandte sich wieder Vedat zu.
»Das kommt vom Gas, das deine netten Kollegen mir ins Gesicht gesprüht haben!«
»Was?«
Vedat war aufgesprungen, auf Mine zugestürzt und hatte sie mit beiden Armen an den Schultern gepackt.
»Was ist passiert? Erzähl!«
»Ich muss mich setzen, lass uns in die Küche gehen. Ich brauche jetzt erst einmal einen Tee.«
Vedat trottete hinter Mine her, die sich auf einen Stuhl an dem kleinen Küchentisch fallen ließ, während er Tee, den er wahrscheinlich wie immer direkt aufgesetzt hatte, nachdem er nach Hause gekommen war, in zwei Gläser goss, eines davon zusammen mit der kleinen Zuckerschale vor Mine stellte und sich dann neben sie auf den zweiten Stuhl setzte.
»Erzähl!«
Mine versuchte, ruhig zu bleiben. Was konnte Vedat dafür? Aber ihre Schultern, ihr ganzer Körper bebte vor Wut, Schreck und Fassungslosigkeit, als sie ihm berichtete, was im Gezi-Park passiert war. Vedat hörte sprachlos zu, bis sie fertig war.
»Und du hast davon nichts gewusst? Du bist doch bei der Polizei, das musst du doch mitbekommen haben!«
»Nein, nichts. Meine Einheit hat ganz normal Bereitschaft geschoben, wir haben den ganzen Tag in der Kaserne gehockt.«
Die gewalttätigen Übergriffe der Polizei gegen Demonstranten jeder Art waren gelegentlich Anlass für Diskussionen am Küchentisch gewesen, und immer hatte sich Vedat ihr gegenüber davon distanziert, aber nie Einzelheiten von seinen eigenen Einsätzen erzählt. Sie hatte es irgendwann aufgegeben, ihn danach zu fragen, sie bekam ohnehin immer die gleichen Antworten. Dass es sich um einige schwarze Schafe bei der Polizei handelte, die gelegentlich über das Ziel hinausschössen und so weiter.
»Versprich mir, dass du bei so etwas nicht mitmachst!«
Mine hatte sich auf seinen Schoß gesetzt, ihn umarmt und geküsst, er in ihrer Umarmung genickt.
»Die haben in der Kaserne nichts davon erzählt.«
Vedat zuckte entschuldigend mit den Schultern.
»Und im Fernsehen haben sie auch nichts darüber gebracht.«
»Lass gut sein, du schaust einfach die falschen Kanäle.«
Sie stritten sich manchmal, wenn Mine Halk TV oder Ulusal Kanalı einschaltete, zwei kleine, unabhängige Nachrichtensender, die politisch eher links – Vedat würde sagen: »zu links« – einzuordnen waren. Er guckte, wenn nicht einen der zahlreichen Sportsender, was meist der Fall war, staatliches TRT oder CNN Türk. Meistens gab sie nach und klappte dann ihren Laptop auf, um sich die Nachrichten, die sie interessierten, aus dem Netz zu holen. Oft war das ohnehin nicht. Die türkische Politik ödete sie an, lauter testosterongeschwängerte Typen mit Schnauzbärten, die ständig nur herumschrien – egal ob im Parlament oder im Interview. Und zu Hause, bei ihren Eltern, diese endlosen Diskussionen, die nie zu etwas anderem führten als dicken Köpfen am nächsten Tag, weil mindestens genau so viel geraucht und getrunken wie geredet wurde.
»Übrigens ist unser Zelt weg. Und mein Schlafsack auch. Das haben die einfach alles an Ort und Stelle angezündet oder mitgenommen. Ich konnte nur noch meinen Rucksack retten.«
»Ich hake mal nach, vielleicht findet sich das Zeug ja noch.«
Es klang dahingesagt. Vedat war schon auf dem Weg zur Wohnungstür, um in einem kleinen Restaurant unten an der Ecke Köfte mit Reis und Salat für das Abendessen zu holen. Mine telefonierte währenddessen mit ihrer Mutter, die natürlich besorgt und empört war über das, was ihre Tochter ihr über die Geschehnisse im Gezi-Park erzählte. Erst als Mine ihr tausendmal versichert hatte, dass mit ihr alles in Ordnung sei, und versprach, sich in Zukunft rechtzeitig vor dem Einschreiten der Polizei von solchen Kundgebungen zu entfernen – ganz verbieten könne und wolle sie ihrer Tochter ihr Engagement ja nicht –, beendete sie das Gespräch mit einem immer noch besorgt klingendem »Pass auf dich auf!«, just in dem Moment, als Vedat mit der Tüte vom Restaurant in der Hand zur Tür hereinkam. Sie aßen schweigend auf dem Sofa, die Plastikteller auf den Knien, und schauten sich auf DVD eine Raubkopie von »Ice Age 4« an, die Vedat zwei Tage zuvor mit nach Hause gebracht hatte. Das Telefon blieb den ganzen Abend über stumm, ebenso die Türklingel. Offensichtlich hatte ihre Mutter dem Vater nichts erzählt, der sonst sofort zurückgerufen hätte oder gleich vorbeigekommen wäre, um seine einzige Tochter einer umfassenden medizinischen Untersuchung zu unterziehen und anschließend befreundete Anwälte aus dem Schlaf zu klingeln, damit sie Istanbuls Polizeibehörden mit einer Klagewelle überzogen. Mine duschte, dann legte sie sich neben Vedat ins Bett.
»Ich gehe da morgen wieder hin!«
Sie beugte sich zu ihm herüber und drückte ihm einen Gutenachtkuss auf den Mund.
»Lass uns beim Frühstück darüber sprechen.«
Vedats Antwort war nur noch ein Murmeln. Dann drehte er sich um und gab schon Sekunden später nur noch die ruhigen Atemgeräusche eines Schlafenden von sich.
29.–30. Mai
Marc
Am nächsten Morgen war Marc schon recht früh wach. Er hatte sehr unruhig geschlafen, was ungewöhnlich war, schlief er doch im Urlaub in der Regel wie ein Murmeltier, acht oder neun Stunden, manchmal auch länger, als hole sich sein Körper zurück, was Marc ihm, wenn er arbeitete, insbesondere in Krisengebieten, vorenthielt. Immer wieder musste er an diese junge türkische Frau denken, Mine. Nicht nur, aber auch natürlich, weil sie mit ihren ungezähmten dunklen Locken, den großen, fast schwarzen Augen, den vollen Lippen und ihrer zierlichen, aber wohlproportionierten Figur unglaublich hübsch war. Vor allem aber wegen der Art, wie sie und wegen dem, was sie erzählt hatte. Mit den Armen gestikulierend, die Augen gerötet und geschwollen, aber vor Wut leuchtend, und in hervorragendem Englisch hatte sie ihm derart plastisch davon berichtet, mit welcher Brutalität die Polizisten gegen sie und die vielleicht fünfzig anderen Demonstranten vorgegangen war, dass er es bildlich vor sich sah: die Schlagknüppel, die auf Köpfe und Schultern trafen, in Rücken und Kniekehlen, das Tränengas, aus kürzester Entfernung in Gesichter gesprüht.
Er hatte in verschiedenen Ländern wilde Straßenschlachten erlebt, in denen Polizisten mit Steinen und Molotow-Cocktails beworfen, mit Holzlatten, Eisenstangen, Baseballschlägern, manchmal sogar mit Messern und Schusswaffen angegriffen worden waren, dass ihm der Einsatz von Wasserwerfern und Reizgas in manchen Fällen als legitimes Mittel der Selbstverteidigung vorgekommen war. Aber was er von Mine hörte, war etwas ganz anderes, die Reaktion der Einsatzkräfte schien einfach völlig überzogen. Er konnte natürlich nicht wissen, was passiert war, während er im Büro der Fluggesellschaft sein Ticket umbuchte und anschließend zu Mittag aß. Die Situation vorher aber – ein paar junge Menschen, Sprechchöre, eine Hand voll Plakate – war ziemlich harmlos gewesen, das hatte er schließlich mit eigenen Augen gesehen. Und wenig später Schwaden von Gas in der Luft, die geröteten Augen, der Junge mit der Kopfwunde.
Marc zog sich an und ging hinunter in den Frühstücksraum des Hotels, der um diese Zeit – es war erst halb acht – noch gähnend leer war, weil die meisten Touristen im Galataviertel bis in die frühen Morgenstunden in den zahllosen Bars und Clubs versumpften. Er bestellte einen Cappuccino und einen frisch gepressten Orangensaft und nahm sich den gesamten Stapel der auf einem Tischchen am Eingang ausliegenden Zeitungen mit an seinen Tisch, vier türkische, zwei englische, sogar die beiden deutschen, obwohl er die nicht lesen konnte. Nirgendwo fand er ein Foto oder auch nur ein paar Zeilen über den gestrigen Vorfall. Er zückte sein Mobiltelefon, wählte sich ins WLAN des Hotels ein und durchforstete die Online-Ausgaben der zahlreichen internationalen Medien, die er sich als Link auf die Startseite gelegt hatte. Nichts. Er fragte den Kellner, aber der zuckte nur mit den Schultern. Ob er nichts wusste oder Marcs Frage einfach nicht verstanden hatte, ließ die Geste offen.
Gegen neun verließ er das Hotel und ging über die Istiklal Straße, in der die Geschäfte fast alle noch geschlossen hatten, Richtung Taksim-Platz. Die Geschichte hatte sein journalistisches Interesse geweckt. Wie konnte es sein, dass in den türkischen Zeitungen nichts, aber auch gar nichts über einen Polizeieinsatz zu lesen war, bei dem es doch offensichtlich Verletzte gegeben hatte? Außerdem verspürte er nicht wenig Lust, Mine wiederzutreffen. Sich mit ihr zu unterhalten, war deutlich anregender als der banale Small Talk mit Straßenhändlern, Kellnern oder Touristen, auf den er sich in den ersten Tagen in Istanbul eingelassen hatte. Außerdem war sie deutlich hübscher als seine bisherigen Gesprächspartner. Auf dem Weg machte er, um sich noch nicht ganz von seinem Status als Urlauber zu verabschieden, an der Basilika St. Antonius Halt, einer etwa einhundert Jahre alten römisch-katholischen Kirche, die, eingerahmt von großbürgerlichen Häusern, etwas zurückversetzt an der Istiklal lag. Der Bau war nicht sonderlich spektakulär, wie Marc fand, aber immerhin hatte hier Paul VI. 1967 die erste Heilige Messe eines Papstes auf türkischem Boden gefeiert. Interessant war auch, dass Gottesdienste nicht nur in türkischer, sondern auch in englischer, italienischer und polnischer Sprache abgehalten wurden, weil die meisten Katholiken in Istanbul Ausländer waren. Marc selbst war nicht sehr gläubig. Klar, er war im christlichen Wertesystem aufgewachsen, aber mit Religion oder gar Kirche hatten schon seine Eltern wenig anfangen können. Er hatte allerdings einiges gelesen über die Schwierigkeiten religiöser Minderheiten in der nach offiziellen Angaben zu neunundneunzig Prozent muslimischen Türkei. Vor den Neubau nicht-islamischer Gotteshäuser waren hohe bürokratische Hürden – um nicht zu sagen: Schikanen – gesetzt, und immer wieder wurden Christen und selbst zum muslimischen Glaubensspektrum gehörige Alewiten Ziele von Übergriffen durch sunnitische Mobs, gab es gar Tote, wie den armenischstämmigen Journalisten Hrant Dink, der 2007 ermordet worden war.
Einige Hundert Meter vor dem Taksim-Platz setzte er sich in die Filiale einer amerikanischen Kaffeehauskette, die er normalerweise mied. Aber der Cappuccino im Hotel war ziemlich dünn gewesen, und er brauchte morgens einfach eine ordentliche Koffeindosis, um in Schwung zu kommen, außerdem gab es dort kostenfreies WLAN. Also bestellte er sich einen Latte macchiato mit einem dreifachen Espresso und wählte sich ins Netz ein. Diesmal benutzte er eine Internet-Suchmaschine und wurde fündig. In einem der sozialen Netzwerke stieß er auf zwei Seiten, die sich »Diren Gezi Parkı« und »Taksim hepimiz« nannten. Die Texte waren zwar ausschließlich in türkischer Sprache, auf den zahlreichen Fotos aber erkannte er einige der Demonstranten von gestern wieder. Die Bilder waren teilweise ziemlich drastisch, sie zeigten Polizisten mit erhobenen Schlagstöcken, fliehende Demonstranten mit Panik in den Augen, Menschen mit blutenden Kopfwunden und brennende Zelte. Eines war besonders. Dafür hatte Marc einen Blick. Wenn die Fotografen, die ihn bei Einsätzen in Kriegs- und Krisengebieten begleiteten, ihm die Fotos des Tages auf dem Laptop zeigten, wusste er meist schon, welche später von der Fotoredaktion zur Illustration seiner Artikel ausgewählt wurden. Dieses zeigte eine Frau in einem roten Kleid, mit einer weißen Umhängetasche über der rechten Schulter, der ein Polizist aus nächster Nähe eine Ladung Tränengas ins Gesicht sprühte. Der Druck des Gases ließ ihre langen Haare nach oben stehen, als hänge sie kopfüber. Es hatte sie offensichtlich völlig ohne Vorwarnung getroffen, eine Unbeteiligte, deren Körperhaltung keinerlei Abwehrreaktion erkennen ließ, die rechte Hand den Tragegurt der Tasche umfassend, die linke am ausgestreckten Arm locker herunterhängend. Hätte er einen Artikel über Polizeigewalt geschrieben, das wäre das Bild dazu gewesen. Während er seinen dreifachen Espresso mit geschäumter Milch schlürfte, schaute er wie gebannt auf dieses eine Foto. Bis das Telefon in seiner Hand erst vibrierte und dann klingelte.
Kathrin
Kathrin hatte am Morgen eine Vorlesung. Wie immer war sie mit dem Bus die drei Stationen von Kuzguncuk zum Anleger in Üsküdar gefahren, auf die Fähre nach Kabataş gestiegen, die zur Hauptverkehrszeit mit einer zweiten Fähre im Sieben-Minuten-Takt, genau die Zeit, die die Schiffe für die Querung des Bosporus brauchten, pendelte, und hatte dann die Tram genommen, um eine Station später, in Fındıklı, fast direkt vor ihrer Uni wieder auszusteigen. Fünfzehn Minuten, maximal zwanzig, brauchte sie von Haustür zu Haustür. Nicht schlecht, dachte sie häufig – wenn man in einer Stadt mit zwanzig Millionen Einwohnern lebt. Das Öffentliche Personennahverkehrssystem hatte sich in den letzten Jahren tatsächlich erheblich verbessert, das musste man der AKP und Premierminister Erdoğan, der zuvor Oberbürgermeister von Istanbul gewesen war, lassen. Indirekt hatte damit auch ihre heutige Vorlesung zu tun. »Planen im Bestand« war der Titel. Es ging um die städtebauliche Herausforderung, Historisches zu erhalten und gleichzeitig den Anforderungen an moderne Mobilität gerecht zu werden. Sie ging kurz in ihr Büro, um den Laptop zu holen, auf den sie als Beispiel einige Pläne von einem Großprojekt in Aksaray, an dem sie vor einigen Jahren mal am Rande mitgearbeitet hatte, kopiert hatte, um sie über den Beamer an die große Leinwand zu werfen.
Als sie pünktlich zu Vorlesungsbeginn um neun Uhr am Hörsaal ankam, hörte sie lautes Stimmengewirr. Sie öffnete die Tür und sah, dass kaum einer der Studenten, wie sonst üblich, saß. Fast alle standen in Gruppen zusammen und diskutierten. Es gab, das konnte sie heraushören, nur ein Thema: Offensichtlich hatte sich das gewaltsame Vorgehen der Polizei im Gezi-Park herumgesprochen. Auch wenn weder die Abendnachrichten im Fernsehen noch die Tageszeitungen darüber berichtet hatten, Kathrin hatte zumindest nichts gesehen. Die ausufernde Gewalt, die so häufig bei Polizeieinsätzen gegen Demonstranten zu beobachten war, war ihr selbst auch schon häufiger aufgestoßen. Sie hatte bei einer Demo gegen den Abriss des Emek-Theaters einmal miterlebt, wie hemmungslos Schlagstöcke, Tränengas und Wasserwerfer selbst gegen friedliche Protestler eingesetzt wurden. Und die Pläne für diese nostalgische Kasernenkopie auf dem Gelände des Gezi-Parks und die gesamte Neugestaltung des Taksim-Platzes hielt sie, gelinde gesagt, für eine städtebauliche Katastrophe. Der Park selbst, immerhin von dem bekannten französischen Architekten und Städteplaner Henri Prost auf persönliche Einladung Kemal Atatürks 1936 entworfen und knapp fünfzehn Jahre später fertiggestellt, war allerdings auch keine Glanzleistung. Zumindest war er ziemlich verwahrlost. Wegen des Vorfalls gestern nun aber gleich den Lehrplan über den Haufen zu werfen und eine spontane Diskussion über Wert und Nutzen städtischer Grünflächen gegenüber denen eines Einkaufszentrums zu beginnen, ging ihr dann doch zu weit. Sollten sich die Gemüter an so etwas Profanem wie den Planungsschwierigkeiten bei der Verkehrsführung und dem Bau einer Fußgängerverbindung zwischen Metro und Tram in Aksaray abkühlen, bei der die knapp fünfhundertfünfzig Jahre alte Murat Paşa Moschee hatte mit einbezogen werden müssen. Und so verschaffte sie sich mit lauter Stimme Gehör, bat, dass sich die Anwesenden setzen mögen, wartete eine Minute, bis ihrer Aufforderung Folge geleistet worden war und begann mit der Vorlesung. Ein hoffnungsloses Unterfangen, wie sie wenig später feststellen musste. Ihre Studenten blieben unruhig, beteiligten sich kaum, überall steckten Köpfe zusammen, wurde getuschelt. Kathrin verkürzte ihr Programm und beendete die Vorlesung nach einer knappen Stunde, dreißig Minuten vor der Zeit.
»Frau Professor, was sagen Sie denn dazu?«
Eine Studentin rief ihr hinterher, als sie den Hörsaal mit dem Laptop unter dem Arm verließ. Sie tat, als habe sie die Frage nicht gehört und ging schnellen Schrittes Richtung Mensa. Im Gang kam ihr ihre Kollegin Zübeida entgegen.
»Kathrin, hast du gehört, was gestern passiert ist?«
Kathrin nickte.
»Ja, und? Machst du mit?«
Zübeida wirkte ganz aufgeregt.
»Mitmachen? Wobei?«
Zübeida guckte sie etwas überrascht an.
»Na, protestieren. Im Park. Ein paar Kollegen gehen jetzt hin. Viele meiner Studenten sind schon da.«
Kathrin staunte. Zübeida, die wie sie in Kuzgungcuk wohnte, war Mitte fünfzig, hatte drei Militärputsche, die blutigen Unruhen in den Kurdengebieten und Hunderte niedergeknüppelte Demonstrationen in ihrem Land miterlebt und war dennoch Feuer und Flamme für den Widerstand von ein paar Baumschützern in einem kleinen Park? Was passierte hier?
»Ich überleg’s mir«, sagte Kathrin, wollte weitergehen, überlegte es sich dann – warum, wusste sie nicht wirklich – anders.
»Warte, ich komme mit.«
Draußen, vor dem Haupteingang des Unigebäudes, hatten sich bereits Dutzende Studenten versammelt, viele trugen Rucksäcke, an die Isomatten und Schlafsäcke geschnallt waren und zusammengerollte Stoffbahnen, offensichtlich Plakate, in den Händen, manche schwenkten türkische Flaggen. Zwischen ihnen erkannte Kathrin weitere Mitglieder des Lehrkörpers, die sich den Studenten offensichtlich anschlossen. Dann setzte sich der Zug in Bewegung zur Tramstation und Kathrin trieb einfach mit. Die Studenten wirkten aufgekratzt, die Stimmung war friedlich-fröhlich, einige starteten Sprechchöre:
»Parkımızı vermiyoruz. Gezi hepimiz.«
Wir geben unseren Park nicht her, Gezi gehört uns allen.
»Toll, dass Sie mitmachen.«
Kathrin drehte sich zu der Sprecherin um, die direkt hinter ihr auf dem Bahnsteig stand. Es war die Studentin, die sie bereits beim Verlassen des Hörsaals angesprochen hatte. Kathrin lächelte etwas unsicher. Dann rollte die Tram ein. In Kabataş stiegen sie um in die Füniküler, eine Tunnelseilbahn, die hoch zur Metrostation am Taksim-Platz führte. Vom Ausgang der Füniküler zum Eingang des Parks waren es vielleicht fünfzig Meter. Der Platz war, obwohl es noch Vormittag war, bereits ziemlich voll und von allen Seiten strömten kleine Gruppen zumeist junger Leute herbei und weiter Richtung Park. Viele schwenkten Fahnen, Kathrin erkannte die Logos verschiedener Gewerkschaften und kleinerer, zumeist linker Parteien. Auf selbst gemalten Plakaten und Bannern konnte sie »Stopp demolition of Gezi-Park!« lesen, oder »Occupy Gezi«. Unwillkürlich musste sie lächeln. Schon war das Ganze internationalisiert. Aber wie hatten die sich nur so schnell organisiert?
Dann sah sie die Mannschaftswagen der Polizei, die dort aufgefahren waren, wo – seit Taksim eine Großbaustelle war – die Busse des Flughafenshuttles hielten, am nordöstlichen Ende des Platzes, vor dem Atatürk Kulturzentrum, dessen Zukunft – Abriss oder Erhalt als Museum – ebenfalls heiß umstritten war. Es waren Fahrzeuge der Çevik Kuvvet Polis, einer Sondereinheit, die bei Versammlungen eingesetzt wurde und als besonders brutal verschrien war, mit vergitterten Fenstern und Rammblechen vor der Motorhaube. In deren Schatten hockten die Polizisten, ihre Schilde an die Wagen gelehnt, die Helme davor abgelegt. In der angrenzenden Seitenstraße meinte sie, einen Wasserwerfer auszumachen. Ihr Schritt wurde unwillkürlich langsamer, als sie noch immer in der Gruppe der Studenten und Kollegen die Stufen zum Park hinaufging. Der Zugang war oberhalb der Stufen mit Gittern der Polizei bis auf zwei kleine Durchlässe rechts und links abgesperrt. Dahinter standen, ebenfalls behelmt und mit Schilden und Schlagstöcken ausgerüstet, Polizisten der Zabita, der normalen Polizei des Bezirkes Beyoğlu. In einem vergitterten Geviert um die kleine Polizeistation des Parks, mehr eine Hütte als ein Gebäude, hockte eine ganze Hundertschaft im Schatten der Bäume. Sollte sie umkehren? Das könnte eine heiße Sache werden. In diesem Moment hakte die junge Studentin sie unter und zog Kathrin mit einem aufmunternden Lächeln in Richtung des linken Durchlasses. Als sie, noch immer am Arm der Studentin hängend, an den Absperrungen vorbei auf die offene Fläche in der Mitte des Parks trat, stand sie vor einer kleinen Zeltstadt. Dreißig, vierzig kleine Zelte in allen möglichen Farben standen am Rand, auf den Rasenflächen unter den Bäumen. Plakate waren zwischen die Bäume gespannt, mit Slogans, die sie die Studenten auf dem ganzen Weg hierhin bereits in Sprechchören hatte rufen hören. Im Schutz eines größeren, weißen Pavillonzeltes in der Mitte waren zwei Tische aufgestellt, auf denen ein Megaphon lag, dahinter standen ein paar Stühle. Zwei-, vielleicht dreihundert zumeist junge Menschen in ihren frühen Zwanzigern saßen in Gruppen davor zusammen, sangen zum Spiel von Gitarren und Darbukas, kleinen Trommeln, oder diskutierten rege. Dazwischen hockten oder standen auch einige Ältere, die Kathrin, wenn es nicht gerade Kollegen von der Uni waren, nicht kannte. Ihr Blick streifte über die Gesichter und blieb an dem eines gut aussehenden Mannes hängen, der um die dreißig sein musste. Der Mann schaute abwechselnd ernst und lächelte viel, dabei redete er unaufhörlich. Irgendwie kam ihr der Typ bekannt vor. Aber woher? Dann fiel es ihr ein. War das nicht Can Bonomo, der bekannte Sänger? Musste wohl so sein, schließlich saß eine ganze Traube junger Frauen um ihn herum und hing an seinen Lippen. Promis waren also auch hier. Was er sagte, konnte sie über die Entfernung allerdings nicht verstehen. Die ganze Atmosphäre hatte etwas von einem spontanen Volksfest. Ihr gefiel diese bunte, fröhliche Versammlung, ein Gefühl des Unwohlseins aber blieb.
»Hallo Kathrin, was machst du denn hier?«
Eine Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Neben ihr stand, sie hatte ihre Annäherung nicht bemerkt, eine zierliche junge Frau. Sie brauchte einen Moment, dann fiel es ihr wieder ein. Es war die Tochter einer Kollegin, Kunsthistorikern und wie sie Professorin an der Mimar Sinan, mit der sie mittlerweile eine lockere Freundschaft verband, seit sie sie auch außerhalb der Uni mehrfach auf Kulturveranstaltungen getroffen hatte. Dabei hatte die Kollegin ihr irgendwann auch mal ihre Tochter vorgestellt, die sie gelegentlich bei Theateraufführungen, Ausstellungen und Konzerten begleitete, manchmal zusammen mit einem jungen Mann, der sich als Ehemann der Tochter herausgestellt hatte. Daran erinnerte sich Kathrin, weil es sie erstaunt hatte, dass eine so junge Frau aus dieser gesellschaftlichen Schicht bereits verheiratet war. Sie hatten manchmal nach den Veranstaltungen in irgendeiner nahen Bar zusammen noch ein Glas Rotwein getrunken und sich unterhalten. Glücklicherweise fiel ihr auch der Name der jungen Frau ein. Mine hieß sie. Und noch etwas: War ihr Mann nicht Polizist?