Kitabı oku: «Die Tage von Gezi», sayfa 4
Mine
Mine hatte am Morgen alle Versuche Vedats, sie davon abzuhalten, wieder in den Gezi-Park zu gehen, ziemlich unwirsch zurückgewiesen.
»Da kannst du dich auf den Kopf stellen, aber ich werde nicht zulassen, dass sie dort weiter mit ihren Bulldozern wüten und alles abholzen.«
Vedat hatte geknickt gewirkt. Seine Stimme klang fast flehentlich.
»Tu mir einen Gefallen: Wenn du siehst, dass die Polizisten ihre Gasmasken aufsetzen, renn sofort weg, denn dann geht es los!«
Mine fühlte Wut in sich aufsteigen, die sie nur deshalb mühsam unterdrücken konnte, weil sie wusste, dass Vedat das falsche Ziel war und er es nur gut mit ihr meinte, sich ernsthaft Sorgen machte.
»Wenn wir ihnen keinen Anlass dazu geben, weil wir friedlich bleiben, sollte es dazu doch gar nicht kommen.«
»Du weißt, wie die Polizei ist, die …«
Vedat konnte nicht zu Ende sprechen, weil das Gift der Wut sich dann doch einen Weg gebahnt hätte.
»Und du müsstest das noch viel besser wissen. Du arbeitest nämlich für die!«
Vedat schaute, bedröppelt wie ein kleiner Junge, der beim Naschen ertappt worden war, auf seine Füße.
Sofort bereute sie ihren Ausbruch. Sie war ungerecht.
»Entschuldige, tut mir leid. Ich weiß, dass du nicht so bist.«
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, schob den Zeigefinger unter sein Kinn, hob es leicht an und küsste ihn auf den Mund.
»Ich passe auf, versprochen. Ich habe meine Lektion gestern gelernt.«
Als er etwas sagen wollte, legte sie den Zeigefinger auf seine Lippen, griff mit der anderen Hand ihren Rucksack und war schon draußen. Sie war mit einer Freundin verabredet, die ein Zelt aufgetrieben hatte und mit Mine zusammen an der geplanten Besetzung des Parks teilnehmen wollte. »Taksim hepimiz« nannte sich die Plattform verschiedener Interessengruppen, die sich von der Räumung des Protestcamps am Vortag nicht aufhalten lassen wollte. Ihr Aufruf, den Park mit Zelten zu besetzen, hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet, über E-Mails, Kurznachrichten und soziale Netzwerke, bei denen es sogar schon eigene Seiten gab. Als Mine im Park ankam, sah sie, dass aus den fünfzig Demonstranten des Vortages bereits fünfhundert, vielleicht auch mehr geworden waren. Sie zählte mindestens sechzig, siebzig Zelte, zwischen denen wieder Banner hingen. Allerdings hatte offensichtlich auch die Zahl der Polizisten zugenommen, sowohl am Eingang des Parks am Taksim-Platz als auch am nordwestlichen Ende, wo die Baumaschinen abgestellt waren. In der Mitte des Parks, auf der großen Rasenfläche, wo sie sich mit ihrer Freundin treffen wollte, stand ein großes weißes Zelt mit einigen Tischen und Stühlen. Auf dem Weg dorthin ging Mine an einer großen blonden Frau vorbei, die etwas verloren wirkte, wie sie da herumstand und in die Gegend starrte. Sie war schon neben ihr, als Mine erkannte, dass es eine Kollegin und Freundin ihrer Mutter war. Eine deutsche Architektin, die wie ihre Mutter an der Mimar Sinan Universität lehrte und der sie mehrmals im Theater oder in Galerien begegnet war. Eine nette Frau und um einiges jünger als ihre Mutter. Sie hatten sich direkt geduzt.
»Hallo Kathrin, was machst du denn hier?«
Kathrin hatte sich umgedreht, schaute etwas irritiert und brauchte eine kurze Weile, bis sie antwortete.
»Oh, hallo Mine. Ich nehme an, das Gleiche wie du – protestieren.«
»Cool. Ist meine Mutter etwa auch hier?«
»Nicht, dass ich wüsste. Ich habe sie zumindest noch nicht gesehen. Wollte sie auch kommen?«
»Keine Ahnung, ich dachte nur, ihr habt vielleicht darüber gesprochen.«
»Nein haben wir nicht, ich bin ziemlich spontan einer Gruppe Studenten hierhin gefolgt.«
Mine nickte verstehend.
»Du, ich bin mit einer Freundin verabredet, die muss ich jetzt mal suchen. Aber wir sehen uns hier sicher noch. Und echt cool, dass du mitmachst. Wir sehen uns!«
Mine ließ Kathrin stehen und ging weiter zur Mitte des Parks, wo sie ihre Freundin Şebnem in einer Gruppe vom Kommilitonen entdeckte, die im Kreis um einen Gitarrenspieler herum saßen. Mine hatte sich gerade dazugesellt, mit großem Hallo ihre Freundin und die anderen umarmt, auf beide Wangen geküsst und sich dazwischengehockt, als aus der nordwestlichen Ecke des Parks, wo die Baumaschinen standen, ein dunkles, grollendes Geräusch zu hören war. Offensichtlich waren die Motoren der Bulldozer und Bagger angelassen worden. Sofort entstand ein gellendes Pfeifkonzert, alle sprangen auf und rannten in die Richtung, aus der die Pfiffe und erste Sprechchöre kamen. Auch Mine, die ihren Rucksack einfach liegen ließ, rannte mit. Tatsächlich hatten die Bulldozer begonnen, mit dem Abriss der Mauer fortzufahren, mit dem sie gestern begonnen hatten, bis der BDP-Abgeordnete sie gestoppt hatte. Zwischen den großen Kettenfahrzeugen und den Demonstranten – Mine schätzte ihre Zahl auf vielleicht zweihundert, sie wuchs aber ständig weiter an, weil von überall her Menschen hinzugelaufen kamen – stand eine Einheit der Bereitschaftspolizei und hielt die wütende Menge mit Schilden und drohend erhobenen Schlagstöcken zurück. Immer wieder aber gelang es einzelnen Demonstranten, durchzubrechen oder die Polizeikette zu umlaufen und sich vor die Bulldozer zu stellen und sie zu stoppen. Sofort stürzten sich meist mehrere Polizisten auf sie, zwangen sie mit Schlägen auf die Knie und zerrten sie weg, unter eine Gruppe von Bäumen, wo sie sich, von weiteren Beamten umringt, auf den Boden hocken mussten. Der Lärm war ohrenbetäubend: das Röhren der Maschinen, Schreie, Pfiffe, Sprechchöre, Sirenen von Polizeifahrzeugen. Offensichtlich hatten die Einsatzleiter Verstärkung angefordert.
Mitten in diesem Chaos, in der nach vorne und wieder nach hinten wogenden, stetig anwachsenden Menge der Demonstranten, stand, ihre Empörung größer als ihre Angst, Mine. Zum zweiten Mal nun erlebte sie, wie der Gezi-Park Schauplatz einer Konfrontation wurde zwischen Staatsmacht und Bürgern, die sich ihr widersetzten. Zum zweiten Mal war sie, die unpolitische Mine, die gerne feierte, tanzte und Alkohol trank, einer dieser Bürger. Mine nestelte in dem Gedränge ihr Handy aus der Hosentasche und wählte eine Nummer. Die von Marc.
Marc
»Marc, hörst du das? Du musst sofort kommen, die Polizei schlägt schon wieder zu! Du musst dir das ansehen und darüber berichten!«
Die Anruferin hatte sich keine Zeit genommen, ihn zu begrüßen oder sich vorzustellen, sondern direkt losgeredet, genauer gesagt geschrien. Marc aber hatte die aufgeregte Stimme trotz der lauten Nebengeräusche sofort erkannt. Es war Mine, die junge Türkin, die er am Vortag zusammen mit dem jungen Pärchen nach dem Polizeieinsatz am Rand des Gezi-Parks getroffen hatte.
»Hallo Mine. Langsam, langsam. Was ist los?«
»Ich bin im Park. Du musst sofort kommen, die wollen einfach weitermachen und alles abreißen. Und die Polizei prügelt schon wieder mit ihren Schlagstöcken auf die Leute ein und verhaftet sie. Komm bitte!«
»Okay, ich komme. Bitte sei vorsichtig, bis gleich!«
Marc beendete das Gespräch, steckte sein Telefon ein, ließ den noch halb gefüllten Becher stehen und verließ das Café schnellen Schrittes Richtung Taksim-Platz. Obwohl er die Schreie und die Sirenen im Hintergrund gehört hatte und die Situation tatsächlich bedrohlich klang, schmunzelte Marc und dachte an gestern zurück, als Mine mit verquollenem Gesicht und vom Gas geröteten Augen, in denen eine naive, fast kindliche Empörung blitzte, auf ihn eingeredet, vom Park, den Bäumen und der Regierung erzählt hatte, die sich einen feuchten Kehricht um den Willen der Bürger scherte. Diese zierliche, hübsche, mutige junge Frau war also wieder im Gezi-Park, und wieder schien die Staatsgewalt mit Gewalt zurückzuschlagen.
Er nahm den gleichen Weg, den er am Vortag genommen hatte, die Stufen am Taksim-Platz hoch, nach links an den Absperrungen vorbei, an denen, so schien es ihm, heute noch mehr Polizisten standen, die ihn aber wieder passieren ließen, und eilte durch den kleinen Durchgang in den Park. Schon hier waren die Tumulte zu hören. Er beschleunigte seinen Schritt noch einmal, rannte fast. Die Zahl der Zelte hatte deutlich zugenommen, allerdings saß niemand drum herum. Der Lärmpegel nahm weiter zu, das Pfeifkonzert war ohrenbetäubend. Da, wo sich auch gestern schon die Demonstranten den Baumaschinen entgegengestellt hatten, am hinteren Ende des Parks, waren es nun nicht nur fünfzig, sondern sicherlich vier-, fünfhundert Menschen, die sich in einer dichten Traube versammelt hatten. Die Menge war in ständiger Bewegung, vor und zurück, nach rechts, nach links, und brandete immer wieder wie eine Welle gegen einen massiven Polizeikordon, hinter dem zwei Bulldozer eine Mauer einrissen und dabei ordentliche Mengen Staub aufwirbelten. Marc musste unwillkürlich an Gemälde von mittelalterlichen Schlachtfeldern denken, auf denen Heere im Schwarzpulvernebel geschlossen aufeinanderprallen. Immer wieder versuchten einzelne Demonstranten oder kleine Gruppen aus der Schlachtordnung auszubrechen und die geschlossenen Reihen der Polizei zu durchbrechen oder zu umlaufen. Wenn sich dann Polizisten mit erhobenen Schlagknüppeln auf sie stürzten, auf sie einprügelten und schließlich mit auf den Rücken gebogenen Armen abführten, schwollen das Pfeifkonzert und die Buhrufe noch weiter an.
Mehrere Minuten lang beobachtete Marc die Szene und versuchte gleichzeitig, Mine in der Menge auszumachen, fand sie aber nicht. Dann, ganz plötzlich, kehrte Ruhe auf der Seite der Demonstranten ein, als habe jemand einen Stecker gezogen. Ein Mann in einem karierten Freizeithemd hatte sich einen Weg durch die Menge gebahnt und stand nun direkt vor den Polizisten und redete auf sie ein. Er hatte Papiere in der Hand, mit denen er vor ihnen herumwedelte und auf die er immer wieder zeigte. Ein Uniformierter, der sich im Hintergrund gehalten hatte, ohne Helm, Schild und Schlagstock, dafür aber mit reichlich goldenen Streifen auf den Schultern, drängte sich durch die Reihe der Polizisten und redete mit dem Mann im karierten Hemd, nahm die Papiere in die Hand, schaute darauf, sagte noch ein paar Worte zu seinem Gegenüber und ging zurück durch die Reihen der offensichtlich ihm unterstellten Polizeitruppen auf die Bulldozer zu. Mit einer knappen, aber deutlichen Bewegung seiner Hand signalisierte er den Fahrern, die Maschinen zu stoppen. Deren Motoren erstarben, sofort brandete auf der Seite der Demonstranten Jubel auf. Dem Mann im karierten Hemd wurde auf die Schultern geklopft, dann verschwand er in einer Traube von Menschen, die feiernd um ihn herumtanzten. Die Polizisten zogen sich zurück. Marc staunte. Sollte die Staatsgewalt in diesem Land tatsächlich so schnell kapitulieren? Welche Position hatte der Mann im karierten Hemd, welche Argumente?
Wie aus dem Nichts tauchte Mine vor ihm auf und fiel ihm um den Hals.
»Wir haben gewonnen, Marc. Wir haben gewonnen.«
»Mal langsam, junge Frau.«
Marc lachte und schob Mine sanft von sich, während er ob ihrer plötzlichen Herzlichkeit insgeheim hoffte, dass sie nicht in Begleitung eines Ehemannes, erwachsener Brüder oder Cousins gekommen war.
»Wer war der Typ, der mit den Polizisten gesprochen hat?«
»Das war Sırrı Önder von der BDP, der hat denen irgendetwas von einer fehlenden Genehmigung für den Abriss erzählt und sie gestoppt.«
»Aber das hat er gestern doch auch schon versucht. Sonderlich lange gehalten hat das ja nicht.«
Es tat Marc leid, das freudestrahlende Wesen, das ihm da gegenüberstand, in seiner Euphorie zu bremsen, aber er musste noch nicht einmal seine journalistische Erfahrung bemühen, um zu wissen, dass das noch nicht das Ende der Geschichte war. Dafür reichte der gesunde Menschenverstand.
»Vielleicht hast du recht, jetzt aber haben wir erst einmal gewonnen.«
Mine schien sich ihre gute Laune partout nicht verderben lassen zu wollen.
»Kommst du mit? Wir gehen jetzt erst einmal einen Kaffee trinken.«
Marc schaute hinüber zu den Baumaschinen, aus denen gerade die Fahrer kletterten und die Türen abschlossen. Die Polizisten hatten ihre Helme abgenommen, sie zu ihren Schilden und Schlagstöcken ins Gras gelegt und sich daneben gehockt. Nur von den Demonstranten, die beim Versuch, die Polizeiabsperrung zu durchbrechen, festgesetzt worden waren, war nichts mehr zu sehen. Sie waren offensichtlich abgeführt worden.
»Okay, warum nicht.«
Kathrin
Kathrin wachte auf, als ein Auto mit röhrendem Motor und offensichtlich viel zu hoher Geschwindigkeit über das Kopfsteinpflaster vor ihrem Haus fuhr. Bestimmt einer der Taxifahrer, die die kleine Straße gerne als Abkürzung zum Taxistand in Kuzguncuk nutzten. Das war der einzige Nachteil des Häuschens, das sie vor drei Jahren gemietet hatte. Ansonsten fühlte sie sich sehr wohl in dem über hundert Jahre alten Gemäuer mit den steilen Treppen und den hölzernen Kassettendecken, einem dieser alten armenischen Häuser, wie es noch einige in ihrer Straße gab, die deswegen vor allem an den Wochenenden von Heerscharen von Hochzeitspaaren heimgesucht wurde, um sich in vollem Ornat vor den zumeist liebevoll renovierten Fassaden fotografieren zulassen.
Am Vortag hatte Kathrin sofort die Flucht ergriffen, als es zu den ersten körperlichen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten gekommen war. Sie hatte keine Lust, wegen des Gezi-Parks und seiner Bäume festgenommen zu werden und ihren Job an der Uni zu verlieren. Schon gar nicht wollte sie des Landes verwiesen werden. Wie wenig zimperlich die türkischen Behörden mit Menschen umgingen, die anderer Meinung waren, hatte sie, wenn auch noch nicht am eigenen Leib erlebt, so doch oft genug gehört oder gelesen. So schnell es ohne zu rennen ging, hatte sie den Gezi-Park verlassen und war in die Füniküler gestiegen, die sie hinunter nach Kabataş brachte. Kurz überlegte sie, noch einmal zur Uni zu fahren, wo einiges an Papierkram auf sie wartete, entschied sich dann aber, nach Hause zu fahren. Noch auf dem Weg zum Anleger der Fähre nach Üsküdar hatte ihr Telefon geklingelt. Es war Zübeida gewesen.
»Hey Kathrin, wo steckst du? Ich habe mir schon Sorgen gemacht!«
»Ich bin auf der Fähre nach Üsküdar. Ich hatte keine Lust, zwischen die Fronten zu geraten.«
»Keine Sorge.«
Am anderen Ende der Leitung hatte Zübeida gelacht.
»Das war nur ein kurzes Scharmützel. Jetzt ist alles ruhig, die Polizei hat sich zurückgezogen. Die Abrissarbeiten ruhen. Aber ich halte noch ein wenig die Stellung.«
»Pass auf dich auf!«
Zuhause angekommen hatte sie die ersten der Semesterarbeiten korrigiert, die noch als dicker Stapel auf ihrem Schreibtisch lagen, und war dann mit einer Freundin und deren Mann – sie Deutsche, er Türke, beide Architekten wie sie – in einem netten kleinen Restaurant an der Hauptstraße von Kuzgungcuk etwas essen gegangen. Sie hatten natürlich über die Ereignisse im Gezi-Park gesprochen, das Vorgehen der Polizei verurteilt und sich auch in der Sache auf die Seite der Demonstranten geschlagen, denn als Experten konnten sie ja nur den Kopf schütteln über die Idee, an diesem Ort als bloße Fassade für Ladengeschäfte die osmanische Topçu-Kaserne wieder aufzubauen, deren Abriss noch von Kemal Atatürk selbst angeordnet worden war, um dem Zentrum der Stadt ein ziviles Antlitz zu geben. Außerdem hatte sich auf einem Teil des heutigen Parkareals bis 1930 auch noch einer der größten nichtmuslimischen Friedhöfe Istanbuls, der armenische Pangaltı-Friedhof, befunden, dessen Marmorsteine nach Enteignung und Zerstörung dann teilweise beim Bau des Springbrunnens oder als Treppenstufen Verwendung gefunden hatten. Ein Ort, der ihrer Meinung nach schon deswegen etwas Würdigeres verdient hätte als ein weiteres Einkaufszentrum. Außerdem hatte die Stadtregierung den Bürgern ihre Pläne erst Anfang Mai vorgestellt, als sie beschlossene Sache waren, selbst die Istanbuler Architektenkammer war nicht eingeweiht, ein ziemlich ungewöhnliches Verfahren für ein derart zentrales und vor allem öffentliches Bauvorhaben. Andererseits war es nicht das erste Großprojekt, das in einem Hauruckverfahren durchgepeitscht worden war.
Und so landeten die drei schnell bei einer generellen Diskussion über die Pläne der AKP, die sich in einem Anfall von Größenwahn offensichtlich vorgenommen hatte, die Türkei einmal vollständig umzugraben und sich in Beton zu verewigen. Was sonst sollte man von der Idee halten, ein neues Istanbul am Schwarzen Meer aus dem Boden zu stampfen? Oder einen dritten Flughafen? Natürlich den größten der Welt. Oder einen zweiten Bosporus? Mit solchen großspurigen Plänen schien der Premierminister beweisen zu wollen, dass die Türkei ein echter »big player« war, eine der ganz großen Volkswirtschaften der Welt und eine hochmoderne Nation. Nur dass für ihn Modernität gleichbedeutend mit Glas, Stahl und Beton war. Istanbul lief Gefahr, das gleiche Schicksal vieler anderer Städte Asiens zu erleiden, Singapur, Kuala Lumpur, Shanghai etwa, die ihren rasanten Aufstieg mit dem Verlust ihrer kulturellen Identität bezahlt hatten.
Stoff, sich aufzuregen, gab es also genug. Aber je mehr sich ihre Freunde in Rage redeten, umso nachdenklicher wurde Kathrin. War es nicht ihre Zunft, die der Architekten und Städteplaner, die das Spiel mitspielten? Die sich in futuristischen Entwürfen überboten, um den Zuschlag für ein Projekt zu bekommen? Warfen nicht auch sie gute Vorsätze über Bord, um von dem gigantischen Kuchen der Bauvorhaben ein möglichst großes Stück abzubekommen? Klar, es gab Architekten, die für den Erhalt des Gezi-Parks kämpften oder gegen den Abriss des Tarlabaşı-Viertels protestierten. Am Ende aber waren es eben Architekten, die als Gehilfen der Regierung daran mitwirkten, das Gesicht Istanbuls dramatisch zu verändern.
Für Kathrins Geschmack war in der Diskussion zu wenig Selbstkritik zu hören, und so hatte sie sich früh verabschiedet und erstaunlich gut geschlafen, nach einem kurzen Telefonat mit Zübeida, die ihr versicherte, dass im Gezi-Park alles ruhig geblieben und ihres Wissens unter den festgenommenen Demonstranten keiner ihrer Studenten oder Dozentenkollegen war.
Das Auto hatte sie nur wenige Minuten, bevor ihr Wecker ohnehin geklingelt hätte, geweckt. Sie duschte, zog sich an und verließ das Haus, um in einem Café um die Ecke zu frühstücken. In einem Kiosk kaufte sie drei Zeitungen, um nachzulesen, was im Gezi-Park vorgefallen war und wie es denn nun weiterginge.
Kathrin setzte sich an einen kleinen Tisch, der auf dem Bürgersteig stand, bestellte Tee und Menemen, eine Art Rührei mit Tomaten, grüner Paprika, Käse und gebratener Socuk, Knoblauchwurst. In zwei der Zeitungen fand sie unter der Überschrift »Bauarbeiten gestoppt« ein paar Zeilen zum Gezi-Park, dass ein paar Hundert Studenten gegen das Abholzen der Bäume protestiert hätten, einige von ihnen nach gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei vorübergehend festgenommen worden seien und der BDP-Abgeordnete Sırrı Önder mit einer einstweiligen Verfügung einen vorläufigen Baustopp erwirkt hätte. Mehr nicht. Sehr nachrichtlich gehaltene Berichte, in denen sich allerdings kein Wort zum Einsatz von Tränengas und Gummiknüppeln durch die Polizei fand. In der dritten Zeitung, einer besonders regierungsnahen, wurden die Ereignisse der letzten beiden Tage überhaupt nicht erwähnt. Sehr ausführlich indes wurde in allen Zeitungen über die Grundsteinlegung für die dritte Bosporusbrücke berichtet, die Premierminister Erdoğan am Vortag höchstpersönlich vorgenommen hatte, weil es eines der Prestigeprojekte der AKP-Regierung war. Ausschnitte aus seiner wie immer langatmigen Rede waren abgedruckt, in der er auch ein allerdings sehr kurzes, eher generelles Statement zum Gezi-Park abgegeben hatte: Der Bau der osmanischen Kaserne auf dem Gelände sei beschlossene Sache, basta!
Schau an! Das ist doch wieder typisch, dachte Kathrin, Erdoğan haut mal wieder mit der Faust auf den Tisch und die Presse zensiert sich in vorauseilendem Gehorsam selbst. Sie wusste, dass fast alle Verlage und TV-Stationen im Besitz von großen Firmenkonglomeraten waren, zu denen auch Baukonzerne, Telekommunikationsunternehmen, Hotelketten und was nicht noch alles gehörten. Aus Angst, von der allmächtigen AKP, die auch die meisten der großen Städte in der Türkei regierte, nicht mehr an öffentlichen Aufträgen beteiligt zu werden, hielten sich die meisten Medien mit kritischen Berichten über den Kurs der Regierung und des Premierministers zurück. Ein aus wirtschaftlichen Interessen selbst verpasster Maulkorb gewissermaßen, ganz abgesehen davon, dass in keinem anderen Land der Erde mehr Journalisten hinter Gittern saßen, was die Lust der Medienvertreter auf Opposition zusätzlich schmälerte. Das war in den letzten Jahren immer schlimmer, Kritik am Premier äußerst selten geworden. Pressefreiheit war wahrlich keine Erfindung der Türkei. Damit schienen sich die meisten Bürger dieses Landes allerdings irgendwie abgefunden zu haben.
Kathrins Handy gab einen Ton von sich, der den Eingang einer SMS signalisierte. Dann noch einen. Und noch einen. In kürzester Zeit erreichten sie sechs Kurznachrichten von Freunden, darunter Nevra und Zübeida. Der Inhalt war immer der gleiche: Sondereinheiten der Polizei hatten am frühen Morgen offensichtlich mit brutaler Gewalt das Zeltcamp der Parkbesetzer gestürmt, dabei Tränengas, Wasserwerfer und Schlagstöcke eingesetzt. Es gab Verletzte.