Kitabı oku: «Die Tage von Gezi», sayfa 5

Yazı tipi:

Marc

Er wurde wach, weil sein Mobiltelefon auf dem Nachttisch vibrierte. Marc schaute auf seine Armbanduhr, die er – eine seiner Angewohnheiten – nie ablegte. Es war bereits halb zehn. Er tastete nach seinem Handy. Die SMS war kurz und bündig: »Gehe jetzt in den Park. Polizei hat versucht, ihn zu stürmen. Kommst du?« Keine Ansprache, kein Gruß am Ende. Er musste trotz des Inhalts unwillkürlich lächeln. Die Nachricht war von Mine. Sie waren gestern mit einigen ihrer Freunde erst einen Kaffee trinken gegangen, dann noch einen und noch einen, bis er Hunger bekam. Mine und – wie hießen die drei anderen, zwei Frauen, ein Mann, noch: Meltem, Serap und Yaşar? Namen, vor allem so fremd klingende, waren für ihn Schall und Rauch – schleppten ihn daraufhin in ein kleines Restaurant in einer Seitengasse der Istiklal Straße, wo sie auf Holzschemeln an einem klapprigen Tisch mit Spinat, Käse, Hackfleisch oder verschiedenem Gemüse belegte Pide aßen, pizzaartige Teigfladen. Dazu tranken sie Ayran. Er kam sich vor wie ein Blitzableiter, so sehr fluchten die drei jungen Türken über ihren Premierminister. Dass er ihnen den Alkohol verbieten wolle – beim letzten Efes-Festival habe es schon keinen mehr gegeben, obwohl Efes, der größte Bierbrauer der Türkei, der Hauptsponsor des mehrtägigen Musikfestivals sei. Dass er den Bars und Restaurants untersagt habe, Tische und Stühle rauszustellen, nur weil er da mal mit dem Auto nicht durchgekommen sei. Dass er Kultureinrichtungen schließen lasse, wie das Emek-Theater, dafür aber an jeder Ecke Einkaufszentren und Moscheen aus dem Boden schössen. Richtig in Rage redeten sich die drei, nachdem sie das Etablissement gewechselt und in eine Bar auf dem Dach eines mehrgeschossigen Altbaus umgezogen waren, wo eine Flasche Rakı bestellt und zügig in Angriff genommen wurde. Marc hatte zunächst geduldig zugehört, was ihm bei der wummernden Punk-Musik, die dort in konzerttauglicher Lautstärke gespielt wurde, zunehmend schwerer fiel, weil der türkische Schnaps die Zungen seiner Tischnachbarn derart lockerte, dass sich ihr Englisch in ein nuscheliges Kauderwelsch verwandelte und seine Auffassungsgabe sich gleichzeitig deutlich verlangsamte, bis er irgendwann nicht mehr folgen konnte und begann, in der Gegend herumzustarren, worauf Mine, Meltem und Erol plötzlich mehr miteinander als auf ihn einredeten und dabei – natürlich – ins Türkische verfielen. Gewohnheitsgemäß schaute Marc auf die Uhr. Kurz nach halb eins, Zeit zu gehen. Schließlich wollte er am nächsten Morgen recht früh am Dolmabahçe-Palast sein, im Idealfall noch vor den ersten Tourbussen. Er hatte sich unter heftigem Protest seiner Trinkgenossinnen und -genossen verabschiedet und war zur Theke gegangen, wo er die Flasche Rakı bezahlte, weil die Studenten ihn trotz heftiger Gegenwehr schon zum Essen eingeladen hatten, wobei ihm erneut auffiel, wie teuer doch Alkohol im Vergleich zu so vielen anderen Dingen war.

Marc legte das Handy zurück auf den Nachttisch, bekam beim Aufstehen einen leichten Schwindelanfall und bemerkte auf dem Weg zur Dusche, dass sein Schädel brummte, was sich erst – aber auch nicht vollständig – legte, als er unten im Frühstücksraum den üblichen Cappuccino und ein Glas frischen Orangensaft, dessen Säure ihm allerdings aufstieß, getrunken hatte. Und das mit dem frühen Aufstehen hatte auch nicht wirklich funktioniert, er hatte offensichtlich vergessen, sich den Wecker zu stellen. Wenn es im Dolmabahçe bereits zu voll ist, mache ich halt etwas anderes, dachte er sich und tippte eine Antwort an Mine in sein Mobiltelefon: »Hi Mine. Geht es dir gut? Will jetzt erst einmal in den Dolmabahçe-Palast. Melde mich später. LG, Marc«. Es dauerte keine zwanzig Sekunden, da kam die Antwort. Wie schnell manche Leute auf diesen winzigen Tastaturen herumtippen konnten, war ihm ein echtes Rätsel. »Okay. Solltest danach aber kommen. Muss wild gewesen sein. Mine«.

Marc kämpfte mit sich. Sollte er doch lieber in den Gezi-Park? Istanbuls Sehenswürdigkeiten rannten schließlich nicht weg. Er machte sich wirklich Sorgen um diese temperamentvolle Türkin mit den großen Augen und dem breiten Lachen. Doch er entschied sich anders. Von einer Frau, die kaum mehr als halb so alt war wie er, aus einem völlig anderen Kulturkreis kam und Muslima war, sollte er wohl besser die Finger lassen. Außerdem hatte er die letzten beiden Tage zum größten Teil im oder zumindest thematisch mit dem Gezi-Park verbracht, dabei war er doch, verdammt noch mal, im Urlaub! Er würde später mit Mine telefonieren. Ohne in die bereitliegenden Zeitungen zu schauen, verließ er Frühstücksraum und Hotel, um durch die kleinen Gassen hinab zur Tramhaltestelle in Karaköy zu gehen und von dort nach Kabataş zu fahren.

Sich mit öffentlichen Verkehrsmitteln in der Stadt zu bewegen war wirklich einfach. Er hatte eine »Istanbul Kart«, die sowohl in der Straßenbahn als auch in der Metro, in Bussen und auf Fähren galt. An entsprechenden Lesegeräten wurde der zu entrichtende Betrag von der Karte abgebucht, aufladen konnte man sie an Automaten oder kleinen Kiosken, die es nahezu überall gab. Sehr praktisch. In Kabataş, der Endhaltestelle, stieg er aus und ging die restlichen zweihundert Meter zum ehemaligen Sultanspalast und Amtssitz Kemal Atatürks zu Fuß, an der Valide Sultan Moschee, die im Volksmund nur Dolmabahçe Moschee hieß und direkt am Bosporus lag, und dem Beşiktaş-Stadion auf der anderen Straßenseite vorbei. Der Parkplatz vor dem Haupteingang des Palastes war schon voller Touristenbusse und Marc konnte bereits aus einiger Entfernung die Schlangen an den Kassen und der Sicherheitsschleuse sehen. Abschrecken lassen wollte er sich davon nicht, der Dolmabahçe gehörte schließlich zum Pflichtprogramm für Istanbul-Besucher, und besser würde das mit den Besuchermassen ohnehin nicht. Im Gegenteil, es war Donnerstag und am bevorstehenden Wochenende kamen zu den ausländischen Touristen auch noch die türkischen. Also stellte er sich an und war erstaunt, dass er ob der sicher fünfzig Meter langen Schlangen innerhalb einer Viertelstunde sein Ticket gekauft und die Sicherheitsschleuse passiert hatte. Das Angebot von Guides, die ihm auf dem Weg zum Eingang des Palastes vielsprachig ihre Dienste anpriesen, lehnte er dankend und auf seinen dicken Reiseführer verweisend mit einem lockeren »Yok, sağ ol, abi« ab. Als eine junge Frau mit schwarzer Hornbrille daraufhin laut loslachte und ihm in akzentfreiem Englisch »Abla, Sir, abla! I am a woman!« hinterherrief, war er kurz irritiert, bis ihm einfiel, dass »abi« ja Bruder hieß. Er drehte sich um, grinste und baute das neu Gelernte direkt in seinen Wortschatz ein: »Teşekkürler, abla!« Vielen Dank, Schwester. Er erntete ein zufriedenes Grinsen und ging weiter.

Drei Stunden wanderte er durch das sechshundert Meter lange Gebäude, das Sultan Abdülmecid I. Mitte des 19. Jahrhunderts bei zwei armenischen Architekten in Auftrag gegeben hatte, staunte über Protz- und Verschwendungssucht in mehr als zweihundertachtzig Zimmern und fast fünfzig Sälen, stand beeindruckt in der über und über mit Gold verzierten Halle, in der die Herrscher über das Großreich Diplomaten empfingen, bewunderte die für die damalige Zeit äußerst fortschrittlichen Toiletten mit Wasserspülung in den mehr als siebzig Badezimmern und Hamams, fühlte sich im zweitausend Quadratmeter großen Muayede Salonu mit seiner sechsunddreißig Meter hohen Kuppel und dem viereinhalb Tonnen schweren, größten Kristallkronleuchter der Welt klein wie eine Ameise und stand für einen kurzen Moment vor Atatürks Sterbezimmer mit der großen türkischen Flagge auf dem Bett und der um fünf Minuten nach neun angehaltenen Uhr, jenem Moment des 10. November 1938, als der als »Vater der Türken« verehrte Staatsmann für immer die Augen geschlossen hatte, bevor er von den nachdrängenden Besucherhorden weitergeschoben wurde.

Nach so viel Gold und Großmannssucht brummte sein Schädel noch mehr und Marc setzte sich im Garten vor dem Haupttor in ein Café, dessen Terrasse direkt am Bosporus lag. Er bestellte einen mittelsüßen Türkischen Kaffee und starrte auf die vorbeifahrenden Schiffe. Ein weißer Kreuzfahrtriese, der gerade in Karaköy abgelegt hatte, lief mit tiefem Horn tutend ins Marmarameer aus, Fähren kreuzten zwischen Europa und Asien, Container- und Frachtschiffe fuhren wie an einer Perlenkette aufgereiht, allerdings mit ausreichendem Abstand voneinander, den Bosporus hinauf. Die Meerenge war aus Sicherheitsgründen Einbahnstraße und nun war die Richtung Schwarzes Meer dran. Fast zwei Stunden saß er so da, schaute stumpf auf glitzerndes Wasser und weiße Schiffsrümpfe und ließ sich Tee bringen, bis die Lebensgeister zurückkehrten und sich in Form eines Hungergefühls meldeten. Er zahlte, ging zurück nach Kabataş und nahm die Füniküler hoch zum Taksim-Platz. Er hatte den unterirdischen Bahnhof gerade über die lange Treppe verlassen, als ihn irgendetwas nach rechts gehen ließ. Zum Gezi-Park. Er musste grinsen. Diese jungen Leute mit ihrem auf ihn ein bisschen naiv wirkenden Engagement für ein paar Bäume hatten es ihm offensichtlich angetan. Besonders Mine, mit ihren wilden Locken, den großen Augen, in denen immer irgendein Funkeln war, und den vollen Lippen, die stets geöffnet waren, weil Mine entweder redete oder lachte und ihre sehr weißen, sehr ebenmäßigen Zähne entblößten. Hey, du alter Sack, sie könnte fast deine Tochter sein!, ermahnte er sich, noch immer grinsend. Er registrierte, eher unterbewusst, dass von allen Ecken des Platzes große Gruppen zumeist junger Leute Richtung Park zogen. Und plötzlich hatte er wieder dieses Kribbeln in der Nase. Tränengas! Im Laufen nestelte er sein Handy aus der Hosentasche. Das Display zeigte ihm fünf Anrufe in Abwesenheit und den Eingang von drei Kurznachrichten an. Der erste Anruf war von halb elf, da hatte er gerade mit der Besichtigung des Dolmabahçe begonnen, der letzte war vor knapp zwanzig Minuten eingegangen, die SMS waren in der Zeit dazwischen gekommen. Absender und Anrufer waren ein und dieselbe Person: Mine. Er verfluchte sich, weil er sein Telefon auf stumm geschaltet hatte, drückte auf die Rückruftaste und rannte die Stufen zum Park hoch. Die Leitung war besetzt. An den Absperrungen standen mit Schilden, Helmen und Schlagstöcken ausgerüstete Polizisten, deutlich mehr als in den beiden Tagen zuvor. Erst jetzt registrierte er die Mannschaftsbusse, die zu beiden Seiten des Parks abgestellt waren. In deren Schatten saßen noch mehr Polizisten, tranken Wasser aus kleinen Plastikflaschen, die meisten rauchten, manche wirkten erschöpft, als hätten sie einen ziemlich harten Einsatz hinter sich. Einige hatten dickläufige Gewehre auf den Knien liegen. Er kannte diese Art Waffen. Sie waren zum Abschießen von Gasgranaten.

Dass er ungehindert den Park betreten konnte, wunderte ihn. Lag es daran, dass er, groß und blond, offensichtlich ein Tourist war? Oder hatten die Polizisten sich dem Druck der Massen gebeugt? Im Park war die Menschenmenge auf mehrere Tausend angewachsen, die auf freien Flächen Zelte aufbauten, in Gruppen zusammenstanden oder auf dem Boden hockten. Fast alle sprachen aufgeregt miteinander. Was, konnte er nicht verstehen. Er sah, dass mehrere Männer Pflaster im Gesicht trugen oder Verbände um den Kopf, im Gras entdeckte er Reste von zerrissenen Zeltplanen und Plakaten, dazwischen schwarze Klumpen, die sich bei näherem Hinsehen als zusammengeschmolzene Synthetikstoffe entpuppten. Als seien Zelte angezündet worden. Oh Mann, dachte er, das muss wirklich heftig gewesen sein. Aber wie sollte er in diesem Chaos Mine finden? Er drückte auf Wahlwiederholung. Diesmal bekam er die Nachricht, dass der Teilnehmer vorübergehend nicht erreichbar sei. Eine gute Stunde irrte er durch den Park, auf der Suche nach Mine, versuchte immer wieder, sie telefonisch zu erreichen. Ohne Erfolg. Entweder hatte sie ihr Handy ausgeschaltet oder der Akku war leer. Er sprach ein paar junge Leute an, die im Gras saßen, und erfuhr so, dass die Polizei am frühen Morgen, gegen fünf Uhr, das Camp der Parkbesetzer gestürmt und unter dem Einsatz von Wasserwerfern und Reizgas geräumt hatte. Mehrere Menschen seien dabei verletzt, andere verhaftet worden. Die Zelte der Demonstranten habe man niedergerissen oder einfach abgefackelt. Danach habe sich die Polizei wieder zurückgezogen. Seine Sorge um Mine wuchs. War sie nach der Rakı-Sause in der Bar noch in den Park zurückgegangen oder doch nach Hause? Alle paar Minuten betätigte er die Wahlwiederholungstaste, schickte Kurznachrichten mit der Bitte, sich zu melden. Aber er bekam keine Antwort. Mines Telefon blieb abgeschaltet. Von den drei anderen, die gestern dabei gewesen waren, hatte er keine Nummern, und auch sonst fiel ihm keine Möglichkeit ein, Kontakt zu Mine aufzunehmen. Er kannte ja noch nicht einmal ihren Nachnamen. Es dämmerte bereits, als Marc aufgab. Er merkte, dass der Hunger ihm mittlerweile ein Loch in den Bauch bohrte, schließlich hatte er an diesem Tag noch rein gar nichts gegessen. Er verließ den Park und ging Richtung Nevizade, einer Bier- und Fressmeile in der Nähe der Istiklal Straße. Bei gegrillter Dorade, die er ziemlich lustlos und nicht sehr geschickt zerteilte, sodass er ständig Gräten ausspucken musste, und einem frisch gezapften Bier, mit dem die Kopfschmerzen und die leichte Übelkeit, die ihn den ganzen Tag begleitet hatten, verschwanden, und ohne einen Blick für das rege Treiben in der engen Gasse wählte er sich in das WLAN-Netz des Restaurants ein und suchte im Internet nach Informationen über den Polizeieinsatz am Morgen. Er fand ein paar kurze Meldungen von Nachrichtenagenturen und auf einem Videoportal einige wackelige Filmschnipsel, die ein aus seiner Sicht ziemlich überzogenes und brutales Vorgehen der Polizei zeigten, was nicht gerade dazu angetan war, ihn zu beruhigen. Von Rakı ließ er an diesem Abend die Finger.

Mine

Mine hatte sich kurz nach Marc verabschiedet. Den Plan, im Park zu übernachten, hatte sie auf dem Rückweg zum Taksim-Platz aufgegeben und war stattdessen nach Hause gegangen. Nicht, weil Vedat sie darum gebeten hatte, sondern weil das Zelt ihrer Freundin Şebnems ihr in ihrem reichlich angeschickerten Zustand plötzlich viel zu unbequem vorkam. Es war so klein, dass Mines Isomatte nicht mehr neben Şebnems Luftmatratze gepasst hatte. Bäume hin, Bäume her, sie wollte in ihrem eigenen Bett schlafen. Vedat war noch wach gewesen, als sie heim kam. Und sauer. Sie hatten sich gestritten.

Es war eine Grundsatzdiskussion geworden. Sie sprach, mit schwerer Zunge, von der Verantwortung des Einzelnen und meinte den Park, er von Verantwortung dem Partner gegenüber und meinte sie. Irgendwann im Laufe der Nacht – sie diskutierten lange – hatte Vedat mit der Hand auf den Küchentisch geschlagen und geschrien, dass es reiche, dass sie, seine Frau, doch einmal auf ihn hören könne. Sie hatten sich beide erschrocken. Vedat fand als Erster die Sprache wieder.

»Es tut mir leid, ich habe das nicht so gemeint. Ich mache mir nur Sorgen. Natürlich kannst du dich für Bäume einsetzen, aber ich habe heute in der Kaserne gehört, dass die Stadtverwaltung sich die Besetzung des Gezi-Parks nicht länger gefallen lassen will. Es heißt, dass Sondereinheiten zusammengezogen werden, um den Park vollständig zu räumen. Auch wir wurden heute Nachmittag in Alarmbereitschaft versetzt.«

Den Park vollständig räumen? Mine konnte nicht glauben, was ihr Mann ihr da gerade gesagt hatte. Das würden die tun? Sie war schlagartig nüchtern und vergaß über diese Nachricht sogar, dass Vedat zum ersten Mal, seit sie sich kannten, den Herrn im Hause hatte raushängen lassen. Es dauerte eine Weile, bis sie ihre Fassung zurückerlangt hatte.

»Gut, dann müssen du und deine Kollegen mich halt mit Gewalt aus dem Park heraustragen!«

Dann stand sie wortlos auf und ging ins Bett. Als Vedat kam, tat sie, als ob sie schliefe.

Am nächsten Morgen war Vedat bereits weg, als sie mit pochenden Kopfschmerzen und einem ziemlich ekligen Geschmack im Mund um viertel vor neun aufwachte. Vor lauter Ärger hatte sie sich vor dem Zubettgehen noch nicht einmal die Zähne geputzt. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel. »Ich rufe dich nachher an. Sei bitte vorsichtig. Ich liebe dich!«, stand da in Vedats ordentlicher, wenn auch etwas kleiner Handschrift. Mine löste eine Kopfschmerztablette in Wasser auf, trank mit zittriger Hand, duschte und zog sich an, packte ein paar frische Klamotten in ihren Tagesrucksack – Schlafsack und Isomatte, sie hatte einfach Vedats genommen, waren ja noch in Şebnems Zelt im Park – und ging los. Als sie ihr Mobiltelefon in die Hand nahm, um Marc auf dem Weg eine SMS zu schreiben, erschrak sie und blieb stehen. Das Telefon zeigte ihr Dutzende verpasste Anrufe und mindestens genauso viele SMS im Eingangsordner an. Sie tippte die SMS zu Ende, dann begann sie zu lesen. Die Polizei hatte den Park gestürmt! Während sie gemütlich zu Hause im Bett gelegen hatte, um ihren Rausch auszuschlafen! Wut kochte in ihr hoch. Auf diese Faschisten von der Stadtverwaltung und der Polizei! Und auf sich selbst, weil sie nicht da gewesen war, um ihren Freunden beizustehen. Glücklicherweise hatte sich Şebnem offensichtlich rechtzeitig in Sicherheit bringen können, eine der Nachrichten und zahlreiche Anrufe waren von ihr. Und soweit sie es anhand der Informationen auf ihrer Mailbox beurteilen konnte, war auch anderen Freunden nichts passiert, was angesichts des Lärms, der im Hintergrund der aufgezeichneten Gespräche wütete – sie hörte Schreie, Explosionen, Motorengeräusche, die wahrscheinlich von den Wasserwerfern herrührten, die in den Park eingedrungen waren, und Polizeisirenen –, fast ein Wunder war.

Şebnem meldete sich bereits nach dem ersten Klingeln. Ihre Freundin klang müde und gleichzeitig irgendwie aufgekratzt.

»Mine, da bist du ja! Alles gut bei dir?«

»Ja, bei mir ist alles gut. Ich habe zu Hause geschlafen. Aber das erzähle ich dir alles gleich. Wie geht es dir? Wo bist du?«

»Ich bin mit den anderen auf dem Taksim-Platz. Ich habe nichts abbekommen. Die anderen auch nicht. Aber wir werden wieder in den Park gehen, sobald sich die Polizei zurückzieht.«

»Okay, ich bin gleich da.«

Mine rannte zur Metrostation Osmanbey und nahm den nächsten Zug nach Taksim, während sie in diversen sozialen Netzwerken die Nachrichten zu den Ereignissen der Nacht und des Morgens überflog. Es waren so viele, dass sie gar nicht dazu kam, auch noch die zahlreichen Videos anzuschauen, die da gepostet worden waren. Şebnem und sie hatten sich vor der Filiale einer amerikanischen Kaffeehauskette neben dem Marmara Hotel verabredet. Auf der zu dem Café gehörenden Terrasse saß bereits ihre Freundin, zusammen mit ein paar jungen Leuten, von denen Mine nicht alle kannte. Sie grüßte in die Runde und umarmte Şebnem, als sei ihre Freundin gerade von einer jahrelangen Weltreise zurück oder gar von den Toten auferstanden. Şebnem befreite sich lachend aus ihrer Umklammerung.

»Hol dir erst einmal einen Kaffee, den brauchst du, so wie du aussiehst. Bist du oder bin ich mit Gas eingenebelt worden?«

Mine war froh, dass ihre Freundin schon wieder lachen und Witze machen konnte. Sie stand gerade an der Kasse, als sie eine Nachricht von Marc bekam. Er sei auf dem Weg zum Dolmabahçe, schrieb er. Und dass er sich melden würde. Mine tippte eine kurze Antwort ins Handy und setzte sich dann mit ihrem Latte macchiato im Pappbecher und einem Schokoladenmuffin zu den anderen.

»Erzähl!«

Und Şebnem begann zu erzählen. Dass sie am Vorabend, als Mine mit Meltem, Serap, Erol und dem Engländer verschwunden war, mit ein paar Freunden noch ein spontanes Konzert im Park besucht und heftig mitgetanzt hatte. Dass sie dann irgendwann, weit nach Mitternacht, in ihr Zelt gegangen war, sich aber keine Sorgen gemacht hatte, dass Mine nicht da war, weil sie sie ja mit den anderen unterwegs wusste, und bald einschlief. Dass sie aufwachte, weil plötzlich alle um sie herum zu schreien und mit Sprechchören begannen: »Gezi bizim, Taksim bizim«. Dass sie noch gar nicht richtig aus dem Zelt gekrochen war, als plötzlich alle wegrannten und die ersten Tränengasgranaten zwischen den Zelten einschlugen. Dass sie im Halbdunkel – es dämmerte gerade erst – nur noch ihre Schuhe und ihren Tagesrucksack griff – glücklicherweise hatte sie sich nicht ausgezogen, weil die Nacht recht frisch gewesen war – und auch weglief, auf nackten Füßen, als sie einen Wasserwerfer und eine Hundertschaft der Polizei auf sich zukommen sah. Dass die Menschen um sie herum in Panik waren, manche taumelten und zusammenbrachen, wenn neben ihnen eine Granate explodierte und Gas verströmte. Dass die Polizisten mit ihren Knüppeln auf die einschlugen, die stehen blieben, um denen zu helfen, die gestürzt waren, und auf die selbst auch. Dass im Strahl der Wasserwerfer Menschen und Zelte wie Blätter im Wind herumgewirbelt wurden. Dass ihre Augen tränten, ihre Lunge brannte, weil der Gasnebel überall war und sie nicht mehr wusste, wie sie es aus dem Park heraus geschafft hat. Dass sie irgendwann, da war es bereits hell, auf einer Bank vor dem Divan Hotel am nördlichen Ausgang des Parks saß und ihr jemand Wasser ins Gesicht schüttete, um das Gas aus ihren Augen zu spülen.

Mine hörte sprachlos zu, während der ungekaute Bissen des Muffins vom Speichel zu einem Brei verarbeitet wurde und ihr schließlich in den Rachen lief, sodass sie einen Hustenanfall bekam. Als sie sich schließlich gefangen hatte, krächzte sie nur noch:

»Scheiße, Vedat hat mir gesagt, dass es so kommen würde. Aber ich hätte nicht gedacht, dass es so schnell passiert.«

Sie erzählte Şebnem von dem Streit mit ihrem Mann.

»Ich hätte dich direkt anrufen müssen, um dich zu warnen. Es tut mir leid. Diese Bastarde!«

In diesem Moment klingelte Mines Telefon. Es war ihre Mutter, die sich ganz aufgeregt erkundigte, wo sie sei und wie es ihr gehe. Mine beruhigte sie, sagte, dass es ihr gut gehe und dass sie zu Hause geschlafen hätte. Den ersten Teil der Frage ignorierte sie und würgte das Gespräch ab. Es sei gerade schlecht, sie würde sich später melden. Sie drehte sich wieder zu ihrer Freundin um.

»Ich rufe jetzt Marc an, weißt du, der englische Journalist, mit dem ich gestern unterwegs war. Dem musst du das alles erzählen.«

Bevor Şebnem irgendetwas erwidern konnte, hatte Mine bereits Marcs Nummer gewählt, es klingelte auch, aber er ging nicht dran. Marc war ein guter Typ, fand sie. Nicht optisch, groß und blond zwar, mit markantem, scharf geschnittenem Gesicht und sympathischen Lachfalten um die Augen, aber zu schlaksig für ihren Geschmack. Und auch ein bisschen zu alt, er könnte ja fast ihr Vater sein. Aber er hatte Humor und unglaubliche Geschichten von seinen Einsätzen als Reporter erzählt. Gleichzeitig strahlte er eine große Ruhe und Besonnenheit aus. Marc hier zu wissen würde ihr Sicherheit geben, denn Şebnems Erzählungen hatten ihr, auch wenn sie es natürlich nicht zugab, doch etwas Muffensausen bereitet. Sie probierte es wenig später ebenso erfolglos noch einmal. Es klingelte lange, bis die Ansage kam, dass der angerufene Teilnehmer vorübergehend nicht zu erreichen war. Als alle ihren Kaffee ausgetrunken hatten, ging die kleine Gruppe über den Platz zum Eingang des Parks. Die Polizisten ließen sie passieren. Es war deutlich voller als gestern Nachmittag, stellte Mine überrascht fest. Und das knapp sechs Stunden, nachdem die Polizei den Park geräumt hatte. Was für eine Strategie verfolgen die Behörden?, dachte Mine, und dass sie Vedat anrufen müsse. Vielleicht wusste er ja, was die Polizei vorhatte. Durch die verschiedenen Eingänge sah sie Menschen in den Park strömen, die meisten jung, aber auch viele, die deutlich älter waren als sie und ihre Freunde, manche sogar im Alter ihrer Eltern. Şebnem und sie machten sich auf, um ihr Zelt zu suchen. Da, wo es gestanden hatte, stand nun ein neues. Im Gras daneben leuchtete etwas rot – ein angekokeltes Stück Schaumstoff, der sich bei näherer Betrachtung als Rest von Vedats Luftmatratze entpuppte. Soll er sie sich doch von seinen tollen Kollegen ersetzen lassen, dachte Mine mit plötzlicher Bitterkeit.

Die beiden beschlossen, mit der Metro zu einem Einkaufszentrum zu fahren, in dem es ein Outdoorgeschäft gab. Sie suchten sich zwei günstige Schlafsäcke aus, zwei einfache Isomatten aus Schaumstoff und ein Zweimannzelt. Da es Şebnems Zelt gewesen war, das die Polizei bei der Räumung zerstört hatte, bezahlte Mine das neue. Ihre Eltern waren großzügig, vor allem ihr Vater steckte ihr immer wieder Geld zu, zusätzlich zu dem Konto, das er für sie eingerichtet hatte und monatlich mit einer Summe auffüllte, mit der sie ziemlich gut über die Runden kam, ohne neben dem Studium arbeiten zu müssen.

Zurück im Park suchten sie sich einen Platz, was gar nicht so einfach war, denn es schien fast, als ob halb Istanbul im Gezi-Park zelten wollte. Die Zahl der Demonstranten war im Laufe des Tages auf sicherlich zehntausend angewachsen, an provisorischen Ständen wurden kostenlos Essen und Getränke ausgeben, die Sympathisanten gespendet hatten. Zum Schutz gegen Tränengas wurden Masken verteilt, wie sie Mediziner im Operationssaal trugen, oder solche, die Bauarbeiter oder Handwerker benutzen, wenn es bei der Arbeit ordentlich staubt. Medizinstudenten hatten ein mit einem roten Kreuz markiertes Pavillonzelt aufgestellt. Auf zwei Tischen standen neben Verbandsmaterial und Pflaster auch Sprühflaschen mit einer wässrigen Lösung bereit.

»Das ist Maaloxan.«

Şebnem hatte ihren fragenden Blick richtig interpretiert.

»Ein Medikament gegen Magenbeschwerden, das mit drei Teilen Wasser gemischt wird und das Gas neutralisiert.«

»Woher weißt du das? Hast du, ohne dass es mir aufgefallen ist, von Jura auf Medizin umgesattelt?«

»Nein.«

Mines Freundin lachte.

»Das hat mir Ersin erklärt, der schlaksige Typ mit dem Anarchie-A auf dem T-Shirt, der eben mit Kaffee trinken war, weißt du? Der ist nicht nur Medizinstudent, sondern auch sehr erfahren mit Reizgas. Er ist in der ÇARŞІ.«

ÇARŞІ, die schon legendäre Fanvereinigung von Beşiktaş, dem Fußballclub, dessen Stadion unterhalb des Taksim-Platzes am Bosporus lag. Mine hatte nicht viel Ahnung von Fußball, Vedat zog sie mit ihrer Unkenntnis immer auf, aber sie interessierte sich einfach nicht dafür. Doch die ÇARŞІ kannte selbst sie. ÇARŞІ hieß eigentlich nur »Markt«, aber genau daher kamen die Mitglieder dieser eingeschworenen Truppe: aus den engen Gassen des Stadtteils Beşiktaş, nördlich des Dolmabahçe gelegen, mit seinen kleinen Läden und Fischrestaurants. Wenn Fenerbahçe der Club der Neureichen war und Galatsaray der der Mittelklasse, dann war Beşiktaş der Arbeiterverein, mit traditionell politisch links stehender Anhängerschaft. Und weil sich die ÇARŞІ nicht an das Verbot politischer Äußerungen in Fußballstadion hielt, sei es auf Bannern oder in den Fangesängen, gab es nach fast jedem Heim- und so manchem Auswärtsspiel Auseinandersetzungen mit der Polizei.

»Gut zu wissen.«

Mine hakte Şebnem unter und sie schlenderten weiter. Es schienen immer mehr Menschen in den kleinen Park zu drängen. Zelte wurden aufgebaut, Banner zwischen Bäume gehängt, mit Botschaften wie »Wir geben unseren Park nicht her« oder »Taksim gehört uns«. Menschen hockten in großen Gruppen zusammen, junge und alte, Männer und Frauen, einfach gekleidete und Anzug tragende. Es wurde diskutiert, viel gelacht und Musik gemacht. Ein friedliches Bild, dachte Mine, hätten etliche Demonstranten nicht Motorrad- oder billige Bauarbeiterhelme getragen, in Gelb oder Blau, und Ski- oder Schnorchelbrillen und Mundschutze um den Hals hängen gehabt, die Mine daran erinnerten, dass hier vor wenigen Stunden noch Chaos und Gewalt geherrscht hatten und durchaus die Gefahr bestand, dass es erneut dazu kommen könnte.

Sie versuchte erneut, Marc anrufen, aber er antwortete nicht. Sie hatte gerade wieder aufgelegt, als ihr Telefon klingelte. Es war Vedat.

»Hey Süße, wo bist du?«

»Wo wohl? Im Park natürlich!«

Während er offensichtlich Süßholz raspelte, wollte sie keinen Hehl daraus machen, dass der Streit der letzten Nacht für sie noch nicht vergessen war.

»Hör mir bitte zu, Mine.«

Vedats Stimme klang fast flehentlich,

»Ich möchte, dass du den Park verlässt. Die Polizei wird ihn stürmen! Ich habe gerade …«

Sie unterbrach ihn wütend.

»Was erzählst du da? Das hat sie doch schon. Während ich brav zu Hause bei meinem Mann war. Und genau das wird mir nicht noch einmal passieren. Heute Nacht bleibe ich hier!«

»Lass mich bitte ausreden. Ich habe gerade den Marschbefehl erhalten, ich werde noch heute mit meiner Einheit zum Taksim-Platz verlegt. Du weißt, was das heißt! Ich bitte dich, geh da weg!«

Mine fühlte, wie sich ihre Kehle zusammenschnürte. Vedat war bei der Çevik Kuvvet Polis, eine Sondereinheit, die für ihr hartes, ja überhartes Durchgreifen bekannt war.

»Wann? Wann schlagt ihr los?«

Sie merkte, dass sie gegen den Kloß in ihrer Kehle anschrie. Seine Stimme hingegen klang sehr leise.

»Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Bitte, Mine, geh nach Hause.«

»Nein! …«

Bevor sie weiterreden konnte, war die Verbindung weg. Das Display ihres Telefons war schwarz und blieb es auch. Der Akku war leer.

»Komm, Şebnem, das war Vedat, ich muss zu den Organisatoren. Wir müssen die Leute warnen. Die Polizei wird wiederkommen.«

Sie zog ihre Freundin am Arm vom Tisch weg und sie gingen über den Platz zurück in den Park. Sie steuerten auf das weiße Pavillonzelt in der Mitte zu. Auf Stühlen an zwei Holztischen saßen mehrere Frauen und Männer – alle älter als Şebnem und sie, zwischen Anfang dreißig und Ende vierzig, schätzte Mine –, die sich angeregt unterhielten.

»Entschuldigung, ich muss euch was Wichtiges sagen.«

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Litres'teki yayın tarihi:
22 aralık 2023
Hacim:
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ISBN:
9783957442017
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